analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 681 | Geschichte

Die innere Kolonisierung

In Kamerun kämpfen die Menschen im englischsprachigen Ambazonien für mehr Selbstbestimmung

Von Faheem Shabazz

Seit vier Jahren führen die kamerunischen Sicherheitsbehörden einen Krieg gegen separatistische Gruppen im Nord- und Südwesten des Landes. Die Wurzeln des Konflikts reichen bis weit in die Kolonialzeit zurück und eine Lösung ist derzeit nicht in Sicht. Am ersten Oktober 2017 erklärte die Republik Ambazonia, bestehend aus Kameruns anglophonen Regionen Südwest und Nordwest (1), einseitig ihre Unabhängigkeit von dem frankophonen Staat, nachdem im November 2016 Proteste gegen die Marginalisierung anglophoner Kameruner*innen ausgebrochen waren und es eine Welle von Streiks und Schulboykotts gegeben hatte. Dieses Datum trägt dabei eine hohe symbolische Bedeutung, da an diesem Tag im Jahr 1961 die Gründung der Bundesrepublik Kamerun erfolgt war.

Drei Besatzer, ein Erbe

Der postkolonialen Staatsgründung gingen zwei Phasen der Kolonisierung voraus. Von 1884 bis 1916 war Kamerun eine deutsche und von 1916 bis 1960/61 eine französische und britische Kolonie. Das deutsche Kolonialreich war nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg unter den Siegern aufgeteilt worden, im Falle Kameruns traf die Teilung die Kolonie selbst. Bis heute zieht sich die Teilung nicht nur entlang von Bildungssystemen und Rechtsprechungen der Regionen, sondern auch entlang der Orientierung an den ehemaligen Kolonialmächten.

Im Jahr 1960 erhielt die Kolonie nach einem seit 1955 geführten blutigen und bis heute wenig aufgearbeiteten Krieg Frankreichs gegen die Unabhängigkeitsbewegung der Union der kamerunischen Völker (UPC) ihre Unabhängigkeit. Den Krieg gegen die UPC setzte schließlich der von französischen Beratern umgebene Präsident des unabhängigen Kamerun, Ahmadou Ahidjo, noch für zwei Jahre fort. Die Journalisten Thomas Deltombe, Manuel Domergue und Jacob Tatsitsa, die sich ausführlich mit dem Kamerunkrieg und der Etablierung des neokolonialen Geflechts zwischen Frankreich und seinen ehemaligen afrikanischen Kolonien, der Françafrique, beschäftigt haben, gehen von bis zu hunderttausenden Toten aus.

Im Treuhandgebiet British Cameroon konnte die Bevölkerung 1961 darüber abstimmen, entweder Nigeria oder Kamerun beizutreten, eine Unabhängigkeit als eigener Staat stand nicht zur Wahl. Der Norden entschied sich, die Unabhängigkeit über den Beitritt zu Nigeria zu erreichen, während der Süden die Föderation mit dem französischsprachigen Kamerun wählte.

Die frankophonen Truppen wurden im Geist der französischen kolonialen Militärtradition von Brutalität und Menschenrechtsverletzung erzogen.

Nichtsdestotrotz beschreibt der kamerunische Historiker Nicodemus Fru Awasom den nach Abzug der britischen Truppen folgenden Aufmarsch der frankophon-kamerunischen Armee bei ihrer Jagd nach der UPC-Opposition, die sich in den Westen zurückgezogen hatte, als faktische Besatzung. Der dafür verhängte Notstand führte in der nächsten Zeit zur Normalisierung willkürlicher Verhaftungen von Gewerkschaftsmitgliedern und weiteren Oppositionellen. Wie Awasom schreibt, wurden die frankophonen Truppen im Geist der französischen kolonialen Militärtradition von Brutalität und Menschenrechtsverletzung erzogen und »wurden dafür berüchtigt, Unheil über festgenommene verdächtige maquisards (Freiheitskämpfer*innen) und unglückliche und verwechselte Westkameruner*innen zu bringen.«

Nachdem Ahidjos UNC seit 1966 die einzige legale Partei war, folgte nach Protesten gegen die militärische Intervention im Westen die Zentralisierung von Polizei und Militär unter seiner Kontrolle. Nachdem es Ahidjo dank französischer Hilfe bis 1971 gelungen war, den letzten Widerstand der UPC zu brechen, ließ er 1972 ein Referendum durchführen, in dem über die föderale Regierung abgestimmt wurde. Das Referendum wurde von einer Mehrheit in seinem Sinne angenommen und die Bundesrepublik wurde zur Vereinigten Republik Kamerun.

Der aktuelle Präsident Kameruns, Paul Biya, kam 1982 als Nachfolger Ahidjos an die Macht und ist seit dem Sturz einiger Staatschefs in den letzten zehn Jahren damit der Präsident mit der zweitlängsten Regierungszeit in ganz Afrika (hinter Äquatorialguineas Teodoro Obiang Nguema Mbasogo).

Biya wurde durch politischen Druck von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zwar in den 1990er Jahren gezwungen, Oppositionsparteien wieder zu legalisieren und demokratische Wahlen abzuhalten. Diese konnte er durch die inzwischen staatlich zentralisierte Macht und die Konsolidierung seiner eigenen Autorität stets für sich entscheiden. Biya führte den zentralistischen Kurs seines Vorgängers fort, vom einstigen Föderalismus und der Autonomie der anglophonen Regionen blieb keine Spur erhalten. Der allgemeine Wohlstand, dessen Grundlage die in Ambazonien vorhandenen Ressourcen hätten sein können, wurde entlang der seit der Kolonialzeit größtenteils unveränderten Infrastruktur auf direktem Weg in das frankophone Zentrum transferiert.

Die zunehmend desolate Lage, ausgelöst durch eine Wirtschaftskrise, die Kamerun in größere Abhängigkeit internationaler Finanzhilfen zwang und die steigende politische Rechtlosigkeit anglophoner Kameruner*innen bei gleichzeitigem Ressourcenreichtum ihrer Regionen entsprach für viele einer inneren Kolonisierung.

Als Reaktion drückte sich das Bestreben nach Unabhängigkeit in Texten wie dem des Anwalts Gorji Dinka aus, der auch den Begriff Ambazonia prägte. »Diejenigen hinter diesem beschämenden Plan werden uns nur über unsere Leichen zu einer Kolonie machen. (…) Wenn der Begriff ›Südliches Kamerun‹ uns jeglichen annektionistischen Ambitionen ausgesetzt hat, nennen wir uns ab jetzt Ambazonia«, heißt es in dem 1986 veröffentlichten Artikel »Pour un nouveau contrat social« (für einen neuen Sozialvertrag). Der Schriftsteller Mongo Beti bezog in seinem ›Lettre ouverte aux Camerounais ou la seconde mort de Ruben Um Nyobè‹ 2013 ebenfalls deutlich Stellung und verteidigte die Rechte anglophoner Kameruner*innen. Für ihn war Ambazonien bereits zu diesem Zeitpunkt im Krieg und der Kampf um Sezession sollte Aufmerksamkeit auf die Gewalt der Zentralregierung lenken.

Eine einseitige Unabhängigkeitserklärung

Im Oktober 2016 riefen Gewerkschaften und Verbände von Lehrer*innen und Anwält*innen in den anglophonen Gebieten zu Protesten gegen die Ernennung frankophoner Beamt*innen in Südwest und Nordwest Kamerun auf. Obwohl Kamerun offiziell ein bilingualer Staat ist, hatten Menschen, die kein Französisch sprachen, sowohl einen erschwerten Zugang zu staatlichen Leistungen als auch zu Arbeit. Die zunächst friedlichen Proteste, die auch mit einer fast einjährigen Schließung vieler Schulen einhergingen, wurden mit immer stärkerer Gewalt niedergeschlagen.

Dabei spielt die von den USA und Israel ausgebildete Spezialeinheit Rapid Intervention Bataillon eine zentrale Rolle. Wie dramatisch das Ausmaß der staatlichen Gewalt war, zeigte eine Untersuchung der Sendung BBC Africa Eye, der es mittels forensischer Methoden gelang, Handyvideos mit Satellitenbildern abzugleichen und die Lage des niedergebrannten Dorfes Kuke Mbomo zu bestätigen. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits hunderttausende Menschen aus den anglophonen Regionen geflohen. Am 14. Februar 2020 verübten Truppen der Regierung und Milizen in der Region Nordwest ein Massaker an 21 Personen, darunter auch schwangere Frauen und Kinder, und brannten deren Häuser nieder.

Während auch einigen separatistischen Gruppen – die nicht alle die gleichen Ziele teilen – Menschenrechtsverletzungen vorzuwerfen sind, ist der Griff zur Waffe für viele zuerst Selbstverteidigung gegen die Willkür des herrschenden Regimes, gegen dessen Gewalt sie sich in ihren Dörfern als Milizen organisiert haben. Bei den ersten regionalen Wahlen 2020, die die Regierung als ein Mittel für größere regionale Autonomie anpries, die jedoch nicht nur in Ambazonien, sondern auch von den größten Oppositionsparteien boykottiert wurden, waren die meisten Oppositionellen entweder im Gefängnis oder im Exil. Bewaffnete Gruppen in Nord- und Südwest hatten ebenfalls angekündigt, jeden Versuch, an den Wahlen teilzunehmen, zu verhindern.

Neben den steigenden Zahlen an Toten und Vertriebenen durch den Krieg zwischen der kamerunischen Regierung und den verschiedenen bewaffneten Kräften Ambazoniens geht eine zunehmende Bedrohung von Boko Haram aus. Gerade der historisch muslimische Norden des Landes leidet unter deren Angriffen, die auch vor den behelfsmäßigen Lagern der Geflüchteten nicht zurückschrecken.

Bedeutende Teile der Opposition unterstützen die Anliegen der anglophonen Bevölkerung und – bei gleichzeitiger Kritik – die Forderung nach Unabhängigkeit. Weder die nationale Frage Ambazoniens noch die Perspektivlosigkeit der Jugend können im System Biya gelöst werden. Doch genauso wie innerhalb des Landes gemeinsame Kräfte mobilisiert werden müssen, müssen auch die Unterstützer*innen Biyas – allen voran Frankreich – auf internationaler Ebene in den Fokus genommen werden.

Faheem Shabazz

studiert Geschichte und arbeitet als Journalist.

Anmerkung:

1) Aufgrund der Kolonisierungsgeschichte kennt die Region mehrere Namen. Neben der Selbstbezeichnung Ambazonien gibt es die aus der Föderation hervorgegangenen Bezeichnungen der administrativen Einheiten Kameruns, Nordwest und Südwest und südliches Kamerun aus der Britischen Administration.