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|ak 654 | Kultur

Vage und widersprüchlich

Diskussion Zur Kritik an der Arbeitsdefinition Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA)

Von Peter Ullrich

Die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) wurde 1998 gegründet. Mitglieder sind heute 28 europäische Länder, außerdem Argentinien, Israel, Kanada und die USA. Im Mai 2016 beschloss das Plenum der Mitgliedsländer die Arbeitsdefinition Antisemitismus; der kurzen Kerndefinition (siehe Kasten) sind elf Beispiele und Erläuterungen beigefügt. Im September 2017 übernahm die deutsche Bundesregierung die Definition, Anfang 2018 zogen die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen nach. Im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung und von medico international hat Peter Ullrich ein Gutachten zur IHRA-Arbeitsdefinition verfasst, aus dem wir Auszüge dokumentieren.

Mit der Vagheit der Kerndefinition steigt die Bedeutung der Erläuterungen und Beispiele, um die Definition inhaltlich aufzuschließen. Diese Textabschnitte führen nicht zuletzt auch für die politische Debatte wichtige Differenzierungen (z. B. zwischen antisemitischer und nicht antisemitischer Kritik an Israel) ein. Sie setzen allerdings mit ihrem Sprachstil, insbesondere diversen Kann-Formulierungen, die Probleme der Kerndefinition fort. (…)

Sieben von elf Beispielen mit Bezug zu Israel

Als zusätzliche (nicht in der Kerndefinition enthaltene) Elemente werden nun Verschwörungstheorien als eine Erscheinungsform von Antisemitismus und weitere diesen semantisch kennzeichnende Aspekte (unter anderem verschiedene Stereotype) genannt. Auch werden einige Bereiche, in denen Antisemitismus auftreten kann, hervorgehoben (öffentliches Leben, Medien, Schulen, Arbeitsplatz, religiöse Sphäre). Außerdem wird mit verschiedenen Aspekten von Israelfeindschaft und Hinweisen dazu, wann eine solche nicht als antisemitisch einzustufen sei, ein thematischer Teilkomplex sehr ausführlich behandelt und somit eine Schwerpunktsetzung vollzogen. So gibt es in der Erläuterung und in sieben der elf Beispiele einen Bezug zu Israel und dem Nahostkonflikt. Ganz wesentliche andere Entstehungskontexte und Traditionslinien von Antisemitismus, insbesondere der Rechtsextremismus oder das Christentum, finden keine oder nur eine beiläufige Erwähnung. Daraus ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen Kerndefinition und Beispielen. (…)

Die IHRA-Definition

»Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen.«

Dabei kommt es sehr darauf an, wie die Beispiele ausgelegt und welche Aspekte hervorgehoben werden, beispielsweise welche Formulierungen als besonders relevante sprachliche Signale rezipiert werden. Die folgende Erläuterung verdeutlicht dies: »Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten.«

Dies ist zunächst eine korrekte Formulierung zu einem Teilbereich antisemitischer Phänomene. Antisemitismus kann Israel als Camouflage benutzen oder sich in Form antisemitischer Semantiken gegen den Staat Israel als »kollektiven Juden« richten. Der Satz kann allerdings auch so verstanden werden, dass eine Kritik an Israel, wenn es als jüdisches Kollektiv verstanden wird, antisemitisch ist. Doch die Definition Israels als jüdisch ist Teil der sozialen Realität und kommt in der Selbstdefinition des Staates als jüdischer Nationalstaat, seinen Symbolen, seinem Staatsbürgerschaftsrecht, dem Vertretungsanspruch institutioneller Politik in Israel gegenüber allen Juden und Jüdinnen und schließlich den proisraelischen Positionen vieler jüdischer Organisationen zum Ausdruck. Kritiken an diesem jüdischen Kollektivcharakter und den dadurch implizierten Ausschlussmechanismen sind nicht als solche antisemitisch.

Interpretationsprobleme

Ähnliche Interpretationsschwierigkeiten treten auch bei einem anderen Beispiel aus der »Arbeitsdefinition« auf: »Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z. B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.« Die Forschung konnte zeigen, dass es einen Antizionismus gibt, der den Zionismus und Israel nicht als jüdischen Nationalismus kritisiert, sondern als jüdischen Nationalismus ablehnt, als Grundübel der Welt dämonisiert und in ein verschwörungstheoretisches Weltbild einordnet. Dort auftretende Deutungsmuster wie die Einordnung des Zionismus als bloße Ausprägung des Rassismus oder die manichäische Gegenüberstellung Zionismus (als machtvoller, »künstlicher« und deshalb illegitimer Nationalismus) vs. »die Völker«, die als »natürlich« und deshalb legitim (aber unter anderem durch »die Zionisten«, »die USA« usw. unterdrückt) konstruiert werden, entsprechen der Sinnstruktur des Antisemitismus. Solche Deutungen finden sich insbesondere im stalinistischen Antizionismus und seinen Nachwirkungen in der neuen Linken und Teilen der Palästinasolidarität.

Ganz wesentliche andere Entstehungskontexte und Traditionslinien von Antisemitismus, insbesondere der Rechtsextremismus oder das Christentum, finden keine oder nur eine beiläufige Erwähnung.

Anders zu bewerten sind universalistische (säkulare oder antinationale) Kritiken an einer auf jüdischer Identität gründenden Nationalbewegung (Kritiken, die es seit jeher beispielsweise in der Arbeiter*innenbewegung, auch und nicht zuletzt unter nicht-zionistischen Juden und Jüdinnen, gegeben hat und gibt) oder jüdische, religiös begründete Distanz zum Zionismus und Kritiken an Aspekten des Zionismus, die als rassistisch eingestuft werden können. Dazu gehören beispielsweise die exklusiv-jüdische Besiedlungspolitik, die Politik der vor allem Araber*innen ausschließenden »hebräischen Arbeit« im Mandatspalästina oder gegenwärtige Ausschlusspraktiken gegenüber palästinensischen Staatsbürger*innen Israels, Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten oder auch nicht-jüdischen Migrant*innen, insbesondere afrikanischen Geflüchteten. Ohne weitere Kontextualisierung würde die oben genannte Formulierung bestimmte Haltungen zu Israel per Definition aus dem Spektrum des Sagbaren ausschließen und post- bzw. antinationale Standpunkte als antisemitisch definieren. Derartige Vorwürfe werden häufig gegenüber Vertreter*innen einer binationalen Lösungsvision des Nahostkonflikts geäußert (die ein Ende eines sich als jüdisch verstehenden Staates impliziert). Damit wird in Bezug auf Israel ein doppelter Standard in einem anderen Sinne als dem sonst diskutierten geschaffen. (…)

Unterscheidungskriterien fehlen

Bei anderen Beispielen ist die Formulierung deshalb vage, weil sie keine handhabbaren Unterscheidungskriterien anbietet: »Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.« Dieser Satz ist einerseits eine wichtige Klärung und verweist auf die Existenz von (womöglich auch sehr harscher) Kritik an Israel, die nicht antisemitisch ist, da Israel – wie jeder Gegenstand der Betrachtung – per se berechtigter Kritik unterliegen kann. (…)

Der Vergleich Israels, einzelner Israelis oder Juden und Jüdinnen mit dem Nationalsozialismus gehört zum Standardrepertoire der antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr, insbesondere im Schuldabwehrantisemitismus. Gleichzeitig sind NS-Vergleiche ein fast universelles Mittel der politischen Skandalisierung, der Diffamierung politischer Gegner*innen oder – gerade in der Gegenwart, wo rechtsradikale Bewegungen, Parteien und Staatsprojekte eine wahre Renaissance erleben – Mittel des mehr oder weniger zutreffenden analytischen Vergleichs. Dieser Vergleich ist auch in innerjüdischen Diskussionen präsent, und es gibt rechtsradikale Akteure in der israelischen Politik. Eine Einordnung des Gehalts eines solchen Vergleichs hängt unter anderem von dem Kontext, in dem er geäußert wird, und dessen diskursiven Anschlussmöglichkeiten ab. Wenigstens in Deutschland sind solche NS-Vergleiche nicht akzeptabel und häufig antisemitisch motiviert, denn sie implizieren nationalistisch grundierte Schuldrelativierung. Ebenso evident ist, dass diese Analyse nicht für Israel gilt – oder beispielsweise die USA, wo NS-Vergleiche in der Regel aus der selbstheroisierenden Perspektive der Befreier*innen vom Nationalsozialismus angewendet werden. (…)

Gerade im Fall multidimensionaler Konfliktlagen wie dem Nahostkonflikt und seiner umstrittenen Deutung besteht hier ein Einfallstor für eine reduktionistische Verwendung der »Arbeitsdefinition«, um gegnerische Positionen mit dem gerade im deutschen Kontext hochgradig sensiblen Vorwurf des Antisemitismus moralisch zu diskreditieren. Um dies zu vermeiden, müssten die Beispiele konsequent im Kontext der Kerndefinition interpretiert werden, was wiederum angesichts der Schwächen dieser nur eine begrenzte Klärung ermöglicht.

Peter Ullrich

ist Soziologe an der TU Berlin, Referent im Studienwerk der Rosa-Luxemburg-Stiftung, engagiert bei ver.di und im Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss).