»Ich bin an der Erinnerung unheilbar krank«
Bela Winkens Biografie bearbeitet das Trauma ihrer frühkindlichen Verfolgung durch die Nazis, vor allem aber ist es eine Trauerrede an ihre verlorene Mutter
Von Katja Leyrer

Liebe M… Ich kann nicht… Über Jahrzehnte und Dutzende Male schon habe ich versucht, Dir einen Brief – diesen Brief – zu schreiben. Umsonst. Es ging nicht. Wie soll ich Dich anreden? Mama, Mame, Mutti, Mutter? Ich besitze keine Erinnerung an Dich«, so beginnt Bela Winkens Biografie »Brief an die Mutter«, die nun – viele Jahre, nachdem sie geschrieben wurde – endlich erschienen ist.
Bela Winkens kam Anfang 1941 in Berlin zur Welt. Kein guter Zeitpunkt für eine junge jüdische Familie mit Baby. In Deutschland und in dem von den Deutschen besetzten Europa wurden jüdische Menschen, auch ihre Kinder und Säuglinge, bald deportiert und ermordet, erschossen, vergast, auf bestialische Weise drangsaliert und umgebracht. Nur wenige überlebten den antisemitischen deutschen Vernichtungswahn. Und die meisten davon waren keine Kinder.
Bela Winkens gehört zu den überlebenden Kindern. Sie wurde im Kleinkindalter versteckt, von ihren Eltern und ihrem Namen getrennt, von deutschen »Volksgenoss*innen« verraten und dann doch noch ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Dort zählte sie zu den Kleinsten. Im Mai 1945, drei Tage vor dem Eintreffen der Roten Armee, wurde sie befreit. Bela Winkens – damals gerade vier Jahre alt – hieß noch nicht Bela Winkens. Abgesehen von den Tarnnamen während ihrer Verstecke im NS trug sie noch den Namen ihrer Eltern: Bela Heymann. Ihre Mutter hieß Ursula Heymann, ihr Vater Walter Heymann. Sie hatten, soweit es ihnen möglich war, dafür gesorgt, dass wenigstens das Kind überleben sollte.
Die kleine Bela kam 1946 in ein Kinderheim für versprengte, überlebende jüdische Kinder in Ochtmissen bei Lüneburg, das die britische Besatzungsmacht in Zusammenarbeit mit den wenigen jüdischen Überlebenden eingerichtet hatte. Noch wusste sie nicht, dass sie Waise war. Doch beide Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Auch ihre Großeltern hatten den Terror der Nazis nicht überlebt.
Die überlebende Synagogengemeinde Düsseldorf fand 1951 gute Adoptiveltern für Bela: Theo Winkens, ihr Adoptivvater, hatte im NS seine Stelle verloren, weil er sich nicht von seiner jüdischen Frau Else hatte scheiden lassen. Er gehörte der Widerstandsgruppe Aktion Rheinland an, die Düsseldorf 1945 den US-amerikanischen Truppen übergab. Ihr hätte damals nichts Besseres widerfahren können als diese Eltern, sagt Bela Winkens heute.
Sie bekam eine gute Schulausbildung, sogar Klavierunterricht, und wurde Schauspielerin. Die ganze Breite: als Jugendliche in Berlin und den Niederlanden (in der Rolle der Anne Frank), dann Düsseldorfer Schauspielhaus, Fernsehfilme und später lange Zeit an der Jungen Aktionsbühne in Düsseldorf. Da hatte sie dann schon ihre Tochter.
Dort trat sie mit ihrem eigenen Solo-Programm »Ich bin an der Erinnerung unheilbar krank« auf und nahm an vielen antifaschistischen Veranstaltungen und Demonstrationen teil. 1985 wurde sie im Anschluss an eine solche von Neonazis zusammengeschlagen und verletzt. 1989 wurde ein Film über sie und ihr Theaterstück im WDR gezeigt.
Um 1996 herum begann sie, das Trauma ihrer frühkindlichen Verfolgung durch die antisemitischen NS-Schergen und »Volksgenoss*innen« in einem Buchmanuskript zu bearbeiten. Viele Jahre lang. Und niemand wollte es drucken.
Bis jetzt. Ihr Buch ist schwer zu lesen. Es ist eine Trauerrede an die verlorene Mutter. Es ist ein Buch zum Weinen. Es gibt keine großen Held*innen, sondern vor allem eine niederschmetternde Trauer um all das, was sie verloren hat oder nie kennenlernen konnte: die Mutter, den Vater, die ganze Verwandtschaft, die einigermaßen heile oder normale Kindheit. Ja, sie hatte feine Adoptiveltern. Aber sie beschreibt in ihrem Buch auch, dass sie sich immer fürchtete, wenn sie bei Freundinnen war, denn der Vater ebendieser Freundinnen könnte ein Mörder sein – ein Mörder an ihrer Mutter und ihrem Vater.
Bela Winkens ist so präzise wie drastisch in ihrer Erinnerung, so sehr, dass nur Weinen und Wut helfen beim Lesen: »Die Befreiten kamen nicht sofort nach Hause. Sie mussten so lange warten, bis die Städte, aus denen sie kamen, Busse zum Rücktransport schickten. Wohlgemerkt, erst jetzt. Nach dem Zusammenbruch, wie es damals noch hieß. Nach 1945. Nach dem 8. Mai 1945. Auf Befehl allerdings der Alliierten. (…) Stunde Null. Errettung. Errettung wovon, war klar. Aber wohin? Wer lebte noch? Nichts war mehr so, wie es einmal war. Wie er-lebt, Über-lebt. Selbst der Schrecken war ja etwas Vertrautes. Etwas, womit ich umgehen konnte. (…) Eins ist sicher: Für uns Juden ist der Holocaust immer gegenwärtig. Die Zurückgekehrten waren ein Makel. Ein Makel, an das Unfassbare erinnert zu werden, das schlechte Gewissen stets vor Augen.«
Das Manuskript hat viele Jahre bei ihr und mindestens einem Verlag gelegen – unbeachtet. Es ist aber ein Schatz, der nun von Gabi Bauer und Peter Piro gefunden wurde. Bei den Recherchen über das jüdische Kinderheim in der Nähe von Lüneburg haben sie sich mit anderen auf die Suche nach den Namen der damaligen Kinder dort gemacht, und zwei von ihnen lebten noch. Eines der beiden war Bela Winkens. Sie nahmen mit ihr Kontakt auf, besuchten sie und erfuhren von dem Manuskript. Antifa ist Handarbeit. Noch immer.
Das Buch ist zum Weinen. Dringlich. Traurig. Aber auch eines, das Mut macht zum Weitermachen. Bela Winkens Biografie, ihr Trotz gegen das Vergessen, ihr Manuskript und die viele Kleinarbeit drumherum haben es ermöglicht, dass es nun endlich erscheinen und Bela Winkens noch diese Freude erleben konnte. Ihr »Brief an die Mutter« ist Bela Winkens Geschenk an uns.
Bela Winkens: Brief an die Mutter. Verbrecher Verlag, Berlin 2025. 216 Seiten, 22 EUR.