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|ak 675 | Geschichte

Gegen Kaiserreich und bürgerlichen Feminismus

Die chinesische Anarchistin He-Yin Zhen vereinte klassenkämpferische und feministische Positionen

Von Hannah Jagemast und Sarah Peters

He-Yin Zhen (vorne links), unter anderem mit Ehemann Liu Shipei (vorne Mitte) und dem politischen Aktivisten Liu Yazi (vorne rechts). Foto: gemeinfrei

Mehr Frauen in die Politik! Mehr Frauen in Führungspositionen! Das fordern die gleichen liberalen Stimmen, die sich nicht daran stören, fliehende Frauen Tag für Tag an den Außengrenzen der EU abzuweisen. Dieser »Feminismus der 1%« stärkt einige wenige Frauen, die bereits heute zu den Reichen und Privilegierten gehören. Die restlichen Frauen vergisst er. Sie bleiben von der Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum ausgeschlossen und bekommen die Gewalt des Patriarchats mit voller Kraft zu spüren. Der Anarchafeminismus möchte ein besseres Leben für genau diese 99% der Frauen sowie alle anderen Menschen erkämpfen. Eine der frühsten Vertreterinnen dieses Feminismus von unten war die chinesische Anarchistin He-Yin Zhen. Anfang des 20. Jahrhunderts sprach sie sich gegen die Forderung der Frauenrechtsbewegung aus, Frauen in das Herrschafts- und Ausbeutungssystem des Staates zu integrieren.

He-Yin Zhen lebte zur Zeit der Jahrhundertwende, als sich das letzte chinesische Kaiserreich seinem Niedergang näherte. Chinas bis dahin selbstständige Wirtschaft wurde durch den britischen, französischen, preußischen und US-amerikanischen Imperialismus zur Öffnung seiner Märkte gezwungen und somit immer mehr in den kapitalistischen Weltmarkt integriert. Die daraufhin einsetzende Industrialisierung der Textilproduktion zerstörte die Subsistenzwirtschaft und das häusliche Handwerk, führte zur Verarmung der Unterschicht und drängte vor allem Frauen auf die städtischen Arbeitsmärkte. Die Phase um die Jahrhundertwende geht in die nationale Geschichtsschreibung Chinas als große nationale Demütigung ein: Das Prestige des bis dahin vorherrschenden Konfuzianismus zerfiel, und soziale Konflikte spitzten sich infolge der Kapitalisierung zu. Neue Ideen wie die Aufklärung, der Liberalismus, Nationalismus, Sozialismus, Feminismus und Anarchismus verbreiteten sich und befeuerten den politischen Widerstand. Mit der chinesischen Revolution musste das Kaiserreich 1911 schließlich der Republik weichen.

Nationalistische Frauenbewegung

Die dabei neu entstehende Frauenrechtsbewegung orientierte sich stark am westlichen bürgerlichen Feminismus. Angesichts der imperialistischen Bedrohung betrachteten die Frauenrechtler*innen die Emanzipation der Frau als unausweichlich für den Erhalt der chinesischen Nation. Durch ihre Integration in die Lohnarbeit sollte die Industrialisierung vorangetrieben werden, und durch bessere Bildung sollten Frauen »zivilisiertere« Söhne erziehen und somit zum sozialdarwinistischen Kampf ums Überleben der Han-chinesischen Nation (1) beitragen.

In diesem Kontext war He-Yin die erste, die die Frage der Frauenbefreiung von jener der Nation trennte und in ihrer Ablehnung des Staates auch seine nationalistische Form kritisierte. Obwohl sich der Marxismus erst nach dem Ende des Kaiserreiches in China verbreitete, bediente sich He-Yin bereits 1907 marxistischer Kategorien von Arbeit und Klasse. Sie veröffentlichte die erste chinesische Übersetzung des kommunistischen Manifests. Die neu aufkommende Lohnarbeit erschien für sie genauso fremdbestimmt und kommodifiziert wie schon die Sklavenarbeit der Frau, die in China erst 1910 verboten wurde.

Diese schonungslose Kritik an Vergangenheit und Gegenwart – am chinesischen Feudalismus und am westlichen Kapitalismus gleichermaßen – war zu dieser Zeit etwas Besonderes. Für sie war Geschlecht eine ökonomische Kategorie und Patriarchat ein Eigentumsverhältnis, das Jahrtausende lang die chinesische Gesellschaft strukturiert hatte und nun funktional in den globalen Kapitalismus integriert wurde. Die Befreiung der Frau musste deshalb aus ihrer Sicht mit einer ökonomischen Revolution Hand in Hand gehen. In ihrem Artikel »On the Question of Women’s Labor« schreibt He-Yin: »Solange das System des vergemeinschafteten Eigentums nicht existiert, gibt es keine Möglichkeit, größere Reformen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen durchzuführen.« Aufgrund ihrer ökonomischen Analyse legte sie ihre Hoffnungen im revolutionären Umbruch nicht in die Student*innen und Untergrundorganisationen, wie andere radikale Kräfte zu ihrer Zeit, sondern in die Arbeiter*innen und Bäuer*innen Chinas. 

Für He-Yin war Geschlecht eine ökonomische Kategorie und Patriarchat ein Eigentumsverhältnis.

Abgesehen von ihren Artikeln ist über He-Yins Lebens wenig bekannt. He-Yin Zhen wurde 1884 in eine wohlhabende Familie geboren, die ihr eine breite, klassische chinesische Bildung ermöglichte. Als Ausdruck ihres Widerstandes gegen patriarchale Eigentumsverhältnisse nahm He Zhen neben dem Familiennamen ihres Vaters (He) auch (zu ihrer Zeit ungewöhnlicherweise) den Familiennamen ihrer Mutter an (Yin). Mit 23 Jahren floh He-Yin mit ihrem Mann, einem politisch verfolgten Kaiserreichsgegner, nach Japan. In den dortigen anarchistischen Strukturen entwickelte sie ihre Theorien und publizierte zwischen 1907 und 1908 die anarchafeministische Zeitschrift Tianyi (deutsch: natürliche Gerechtigkeit). Auch in Tokio spürte sie die staatliche Repression und veröffentlichte ihre Texte des Öfteren unter einem Pseudonym.

Gegen den Konfuzianismus

Sie nutzte ihr Wissen über konfuzianistische Klassiker, um eine systematische Kritik an der sexistischen Ideologie des Konfuzianismus zu üben, der seit 2.000 Jahren die dominante Staatsdoktrin der Kaiserdynastien bildete. Die Grundlage der Geschlechterungerechtigkeit findet sich nach He-Yin im Yin und Yang. In dieser Kosmologie repräsentiere Yin die Frau, die Passivität, die Erde und das Böse, und Yang den Mann, die Aktivität, den Himmel und das Gute. Yin und Yang konstruiere die Trennung der Geschlechter und mache ihre Beziehung zu einer der absoluten Ungleichheit. »Ich kann nicht anders als seufzen«, schreibt sie nach einer zwanzigseitigen Aufzählung misogyner Zitate aus dem konfuzianischen Kanon.

Zur selben Zeit lebte in Amerika eine Anarchistin, die bis heute weit mehr Aufmerksamkeit erlangte: Während Emma Goldman in den USA ab 1906 die Zeitung Mother Earth veröffentlichte, in welcher sie sich wie He-Yin mit aktuellen Ereignissen aus anarchafeministischer Perspektive widmete, sind kaum Referenzen zwischen den beiden Anarchistinnen bekannt. Anarchismus und Feminismus sind sowohl für Goldman als auch für He-Yin untrennbar miteinander verbunden – ebenso wie die Befreiung der Frau und die Befreiung der Menschheit als Ganzes. Beide haben jedoch ein unterschiedliches Verständnis von Geschlecht. In ihren Artikeln über Mutterschaft verfällt Goldman immer wieder in die Biologisierung von Weiblichkeit, spricht vom Mutterinstinkt und der revolutionären Kraft der Geburt.

In He-Yins Denken hingegen stellt Geschlecht keine biologische Kategorie dar – sie sieht die Geschlechterunterschiede nicht als natürliche Tatsache an, sondern als durch Wissen, Staat und Arbeit produziert. Dass sie »Frau« nicht als Identität begreift, lässt sich auch darauf zurückführen, dass die Idee von Geschlecht als »biologische Unterscheidungskategorie« erst mit der Verwissenschaftlichung in der europäischen Moderne zu Beginn des 20. Jahrhundert entstand. Der chinesische Feminismus zur Zeit He-Yins unterscheidet sich dahingehend, dass er keine Geschichte der natürlichen Kategorisierung von »Frau« und »Mann« aufzuweisen hat. Sexualität galt vor der Eingliederung Chinas in den globalen Kapitalismus stets als soziales Konstrukt – eine Erkenntnis, die im Westen erst mit den Genderstudies neu entdeckt werden musste und nun Stück für Stück Eingang in den Feminismus des Globalen Nordens erhält.

Während die Ideen der anarchistischen Bewegung in China vor allem unter den Arbeiter*innen im Laufe des 20. Jahrhundert großen Anklang fanden, wurden ihre Anhänger*innen erst von der Monarchie, dann von der republikanischen Regierung und später von der kommunistischen Partei verfolgt. Repression und Publikationsverbote drängten die Bewegung auch in Japan 1908 in den Untergrund. He-Yin und ihr Mann mussten Japan wieder verlassen, und es weist viel darauf hin, dass sie nach ihrer Rückkehr nach China dem Aktivismus den Rücken kehrten.

Patriarchale Volksrepublik

Bis heute agiert die chinesische anarchistische Bewegung im Untergrund. Sie war 1989 an dem Aufstand auf dem Tiananmenplatz beteiligt, der blutig vom Militär niedergeschlagen wurde. Auch in der Punkszene Wuhans lebt der Anarchismus weiter. »We can’t feel freedom and safety, we feel like [we’re] in a prison, so many fucking rules, but I don’t care, riot, riot this city …« (deutsch: Wir spüren keine Freiheit und keine Sicherheit, wir fühlen uns wie in einem Gefängnis, so viele scheiß‘ Regeln, aber mir ist das egal, Aufstand, Aufstand in dieser Stadt) singt zum Beispiel die 1996 gegründete Punkband SMZB auf ihrem Album »Wuhan Prison«.

Das chinesische Patriarchat, das He-Yin Zhen anprangert, blieb mit der Gründung der kommunistischen Volksrepublik weitestgehend unangetastet. Der konfuzianistische Sexismus wurde lediglich im Sinne des sozialistischen Staates modernisiert. Das traf immer wieder auf Widerstand: zwischen 2008 und 2016 organisierten sich Anarchist*innen in dem autonomen Jugendzentrum »Unser Zuhause« in Wuhan gegen das Patriarchat und die Enge der chinesischen Kleinfamilie. Seit 2012 gibt es außerdem eine neue junge und studentische feministische Bewegung, die gegen sexistische Unterdrückung kämpft und von staatlicher Repression betroffen ist. Die feministische Soziologin Yige Dong kritisiert den weit verbreiteten Mythos, dass die Feminist*innen »privilegierte Absolvent*innen von städtischen Hochschulen sind und somit blind für Klassenungerechtigkeit«. Die jungen Aktivist*innen würden für und mit Frauen an den Rändern der Gesellschaft kämpfen: Migrant*innen, Sexarbeiter*innen und Hausangestellte. 2018 beteiligten sich feministische Student*innen an den Streiks der Arbeiter*innen in Shenzhen, dem chinesischen Silicon Valley. Die jungen Aktivist*innen zeigen, dass He-Yin Zhens Kritik an den sexistischen Ausbeutungsverhältnissen auch heute noch aktuell und eine Grundlage ist, um dem liberalen Feminismus eine feministische Praxis der 99% entgegenzusetzen.

Sarah Peters

ist freie Journalistin und liest und schreibt zu sozialen Kämpfen in China und Ostafrika.

Hannah Jagemast

studiert Arabistik und Islamwissenschaft und arbeitet als freie Journalistin.

Anmerkung:

1) Die Han bilden die ethnische Mehrheit in China.