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|ak 716 | Kultur

Den Autor vor der Interpretation schützen

Philipp Dorestal hat eine historisch-kritische Einführung in das Werk Frantz Fanons vorgelegt

Von Robert Heinze

Eine Mann beugt sich sitzend über einer Zeitung, die auf dem Tisch liegt, er trägt einen Anzug. Im Hintergrund weitere Männer im Anzug, die ebenfalls am Tisch sitzen.
Er war schon zu Lebzeiten ein berühmter Schriftsteller: Fanon auf einer Pressekonferenz 1959 in Tunis. Foto: gemeinfrei

Frantz Fanon gehört zu den meistdiskutierten Autor*innen der letzten Jahrzehnte. Der martinikanische Psychiater, Aktivist und Theoretiker der antikolonialen Revolution erhitzt gerade in Deutschland immer wieder die Gemüter – weniger auf Grundlage seiner tatsächlichen Texte, vielmehr durch seine Rezeption und Interpretation in immer neuen Wellen. Seit der späten Publikation seiner psychiatrischen und kürzerer politischer sowie literarischer Texte im Jahr 2015 wird Fanon im französisch- und englischsprachigen Raum wieder neu entdeckt. Eine neue Biographie von Adam Shatz stellt Fanon als Psychiater ins Zentrum. Außerhalb Deutschlands ist die Faszination für ihn im Jahr seines hundertsten Geburtstags ungebrochen. Hierzulande allerdings gibt es kaum eigenständige Werke über Fanon, auch übersetzt wird kaum etwas. Philipp Dorestal legt nun eine Einführung in Fanons Werk vor, die es einerseits in dessen Zeit verortet, andererseits nach seiner Aktualität für heutige Analysen von Rassismus und (Post- bzw. De-)Kolonialität fragt.


Psychiatrie und Politik begleiteten Fanons Schreiben gleichermaßen.

Lange Zeit wurde Fanons Werk auf zweierlei Arten gelesen: Antiimperialist*innen von der Neuen Linken in den 1960er Jahren bis heute lasen seine Legitimation der antikolonialen Revolution »Die Verdammten dieser Erde« und entdeckten darin ein neues revolutionäres Subjekt. Später betonten dagegen die Postcolonial Studies die Psychoanalyse des Rassismus und des rassifizierten Subjekts in seinem ersten Buch »Schwarze Haut, weiße Masken«. Beides, so Dorestal, seien verkürzte Lesarten, die einen »frühen« proto-Poststrukturalisten Fanon allzu sauber von einem »späten« antikolonialen Aktivisten trennten. Denn Psychiatrie und Politik begleiteten Fanons Schreiben gleichermaßen.

Dorestal betont dabei auch, wie stark Fanon vom Marxismus beeinflusst war und wie materialistisch seine Analyse des Rassismus und der kolonialen Gesellschaft, auch in dem so oft allein als Psychoanalyse gelesenen ersten Buch. Wie andere Marxisten der »Dritten Welt« sah auch Fanon die Notwendigkeit, zentrale Annahmen von Marx zu »dehnen«, so Dorestal, um sie an die Besonderheiten kolonialer Gesellschaften anzupassen. Der Kolonisierte war eben nicht wie das Proletariat »doppelt frei«, sondern musste sich seinen Subjektstatus erst erkämpfen.

Mit Marx?

Ob diese Lesart von Fanon als Marxisten allerdings besonders produktiv ist, wäre noch zu fragen. Udo Wolter, den Dorestal als einen der wenigen deutschen Autoren identifiziert, die sich tief und kritisch mit Fanon auseinandergesetzt haben, entwickelte seine Kritik gerade auf der teils oberflächlichen Kapitalismusanalyse Fanons, die insbesondere sein Verhältnis zur Nation prägt. Im Gegensatz dazu lässt Dorestal aber aus, wie selbstverständlich Fanon das »nationale Bewusstsein« als Gefäß einer zu befreienden Gesellschaft annimmt – eine Annahme, die nicht nur aus marxistischer Perspektive von Wolter, sondern auch aus postkolonialer Perspektive durch Edward Said und besonders Homi Bhabha kritisiert wurde.

Im Zentrum des Buchs steht jedoch richtigerweise Fanons Beruf und die theoretische Position und Tradition, von der aus er viele seiner Thesen entwickelte. Fanon war vieles – Schriftsteller, Journalist, Aktivist – er blieb aber immer praktizierender Psychiater, der Patient*innen heilen wollte. Fanons psychiatrische Praxis und Theorie ging davon aus, dass ein Kranker nicht geheilt werden konnte, wenn die gesellschaftlichen Grundlagen seiner Krankheit nicht bekämpft wurden. Entfremdung war für Fanon kein abstrakter Begriff, sondern die allgegenwärtige Pathologie der kolonialen Gesellschaft, die sich in psychisch Kranken besonders drastisch äußerte.

Fanon musste sich insbesondere mit der kolonialen »Ethnopsychiatrie« heftig auseinandersetzen, die Teil des kolonialen Machtsystems war und die Kolonisierten als »faul« oder »Lügner*innen« pathologisierte. Andersherum beeinflusste Fanons psychiatrische Praxis und Forschung auch seine politische Theorie. Gerade die vieldiskutierte Rolle der Gewalt in Fanons Konzept der Befreiung muss durch diese Brille gelesen werden, denn Fanon wusste aus der psychiatrischen Praxis um ihre schrecklichen Folgen, bei Tätern wie Opfern. Dorestal diskutiert die Rolle der Gewalt in Fanons Werk detailliert und in enger Auseinandersetzung mit seinen Kritiker*innen und macht dabei deutlich, dass Fanon die Gewalt nicht feiert und dieser Aspekt seines Werks historisch kontextualisiert werden muss – insbesondere durch die koloniale Gewalt.

Schulen des Werks

Fanons Werk, das zeigt Dorestal, ist eben nicht allein auf eine Lesart zu reduzieren. Seine Analysen des Rassismus, in der Metropole ebenso wie in der Kolonie, bringt Dorestal in den Dialog mit zeitgenössischen und heutigen Ansätzen und zeigt, wie aktuell sie sind. Seinen an Sartre und anderen geschulten Humanismus, seine kritische Auseinandersetzung mit Aimé Césaire und den Vertreter*innen der Négritude und die Frage von Fanons Universalismus, ebenso wie die Frage der Vergleichbarkeit der Erfahrungen verschiedener Minderheiten sind wichtige Ansatzpunkte für heutige Diskussionen. Leider, so zeigt Dorestal auch, war der Universalismus fast immer männlich gedacht, und ohne Sensibilität für die besondere Diskriminierung Schwarzer Frauen.

Dorestal stellt mit seinem Buch Fanon erneut einem deutschen Publikum vor, das ihn vor allem in den letzten Jahren nur im Rahmen aufgeheizter Debatten um Postkolonialismus, Rassismus und Antisemitismus kennenlernte. Aber er stellt auch heraus, dass die postkoloniale Rezeption Fanons seit den 1990er Jahren dessen Materialismus und politischen Aktivismus herunterspielte und ihn auf die Rolle als Vorläufer der eigenen Theorien reduzierte. Auch die Kritik an Fanon arbeitete sich viel mehr an der postkolonialen Lesart als an Fanons tatsächlichem Werk ab. Dorestals Buch zeigt erstmals auf Deutsch, wie vielschichtig und anschlussfähig an heutige Diskussionen dieses Werk ist. Er bettet es dazu historisch-kritisch ein und setzt sich sowohl mit der – zeitgenössischen und späteren – Kritik auseinander: Fanon erscheint in Dorestals Buch als ein Autor, der sich in ständigem Dialog mit einer großen Bandbreite an zeitgenössischen Theoretiker*innen befand.

Robert Heinze

ist Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Paris und forscht zur Zeitgeschichte Afrikas.


Philipp Dorestal: Denker der Dekolonisation. Zur Aktualität von Frantz Fanon. Dietz Berlin, Berlin 2025. 184 Seiten, 18 EUR.