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Uhrwerk der Revolution

Der Film »Unruh« sucht auf eigentümliche Weise nach dem Erfolg des frühen Anarchismus in der Schweiz

Von Johannes Tesfai

Kapitalismuskritik im Film: Die sterile Ausbeutung in den Fabriken des Juragebirges. Foto: Grandfilm GmbH

Auf dem Bremgarten Friedhof im beschaulichen Bern befindet sich ein unscheinbares Grab, dort liegt der weltweit bekannteste Anarchist begraben: Michail Bakunin. Dass er dort seine letzte Ruhe fand, zeigt, wie wichtig die Schweiz für den Anarchismus und wie groß er in seinen Anfängen dort war.  

Mit »Unruh« ist im Januar ein Film in die Kinos gekommen, der sich dieser frühen Geschichte des Anarchismus in der Schweiz widmet. Der Film spielt 1877 im schweizerischen Jura. Zu dieser Zeit trifft dort ein arbeitsintensives Uhrenhandwerk auf geflüchtete Kommunard*innen aus Paris. Das Gebirge entwickelt sich zur globalen Hochburg des Anarchismus. Vor allem die kleine Stadt St. Imier beherbergte viele Uhrenfabriken. Dort gründet sich 1872 auch die Antiautoritäre Internationale, als Fraktion innerhalb der Internationalen Arbeiterassoziation.

»Unruh« spielt ausschließlich in den verschlafenen Gassen und den erstaunlich ruhigen Fabrikhallen dieses Städtchens. Zu Beginn des Films kommt dort der russische Kartograf Pjotr Kropotkin an. Er ist dem realen Anarchisten nachempfunden, der tatsächlich in den späten 1870er Jahren zum Antiautoritären wurde. Kropotkin steht bis heute in der Ahnengalerie des Anarchismus neben Bakunin und hat mit dem kommunistischen Anarchismus eine eigene Hauptströmung begründet.

Der Film von Schäublin ist ein Spiel mit der Zeit.

In Begleitung von Kropotkin lernt man nach und nach das Städtchen kennen: die anarchistisch organisierten Arbeiter*innen in der Uhrenfabrik, die beiden Dorfpolizisten, aber auch den Besitzer der Fabrik. In den Szenen wirkt Kropotkin mehr als Beobachter, er scheint eine Nebenfigur im gemächlichen Gang des anarchistischen Dorfes zu sein.

Zeit als Motiv

Der Titel »Unruh« kann zweierlei bedeuten: Der Begriff beschreibt den wichtigsten Teil eines mechanischen Uhrwerks, das sogenannte Unruh-Feder-Schwingsystem, und kann gleichzeitig als Unruhe, im Sinne von Aufstand, verstanden werden. Die detailverliebten Aufnahmen des Regisseurs Cyril Schäublin sind eine Hommage an das filigrane Uhrmacher*innenhandwerk. Gleichzeitig sind die Szenen in der Fabrik, in der Produktivität, Arbeitszeit und Genauigkeit zählen, von Sterilität geprägt. Das Herrschaftsverhältnis Fabrikarbeit wird in seiner kalten bürokratischen Form gezeigt.

Der Film von Schäublin ist ein Spiel mit der Zeit. St. Imier besitzt vier Zeitzonen, jeweils eine Zeit für die Fabrik, die Kirche, die politische Gemeinde und eine lokale. Immer wieder finden sich Szenen, wo die örtliche Polizei die jeweiligen Uhren ihrer jeweiligen Zeitzone stellt. Der erzählerische Kniff will mit dieser Metapher die Umbrüche Ende des 19. Jahrhunderts zeigen: Während die vollständige Etablierung des Kapitalismus eine neue Zeit ankündigte, schien die Kirche noch in ihrer alten Ordnung verhaftet, während die relativ junge bürgerliche Ordnung bereits von einer neuen Epoche herausgefordert wurde: der Revolution und der Arbeiter*innenbewegung.

Aber die Zeit macht sich in diesem Film auch anders bemerkbar. Über weite Strecken hat man das Gefühl: Es geschieht nichts. Kurze, trockene Dialoge wechseln sich mit langsamen Aufnahmen von Häuserecken, Bäumen und kleinen Personengruppen ab. Unterstützt wird das durch die vollständige Abwesenheit von Filmmusik. »Unruh« wird dadurch zu einem stillen Film. Meist hört man nur das leise Surren der Feinmechanik in der Uhrenfabrik oder das Rauschen der Bäume.

Das Elend fehlt

Schäublin ist nicht der erste, der die frühe Arbeiter*innenbewegung und ihre Prominenz als Kostümdrama inszeniert. Mit »Der junge Karl Marx« drehte Raoul Peck regelrechtes Popcornkino über die frühe politische Entwicklung des Kommunisten. Der ästhetisch experimentierfreudige Film über die Schweizer Anarchist*innen funktioniert wie ein Gegenentwurf dazu, beschreibt er die Radikalisierung der jungen Arbeiter*innenbewegung eben nicht als Produkt von politischen Entscheidungen und theoretischen Aha-Momenten vermeintlicher Genies. So einfach die Erzählung von Pecks Marx ist, so sehr reduziert die sterile Geschichte von Schäublin den frühen Anarchismus.

In den starken Szenen ist der Film eine kluge Kapitalismuskritik. Denn die monotonen Aufnahmen aus den Hallen sind auf Arbeit von heute einfach zu übertragen. Lediglich die Kostüme der Darsteller*innen müssten mit der heutigen Arbeitskleidung ausgetauscht werden. Die Radikalität der frühen Arbeiter*innenbewegung kann damit aber nicht verstanden werden.

Diese Bewegung zeichnete sich oft genug durch Selbstorganisation, Staatsfeindlichkeit und Gegengewalt aus. Sie wurde auch radikal, weil sie das Elend von Kinderarbeit, Überausbeutung und einen gewalttätigen aristokratischen Staat, der nicht selten schoss, erlebte. Der Regisseur hätte kein Bilderspektakel des Aufstands inszenieren müssen, um die Radikalität des alten Anarchismus zu verstehen. Aber etwas mehr Nähe zu den proletarischen Lebenswelten dieser Zeit hätte dem Film gut gestanden. Denn aus diesen Lebenswelten entstand auch das Angebot des Anarchismus. Das war schon damals die Fundamentalopposition gegenüber der herrschenden Ordnung. Ohne diese Opposition lässt sich der Einfluss des Anarchismus auf die damalige und heutige Gesellschaft schwer nachvollziehen.

Wer verstehen will, wie Ausbeutung heute und damals organisiert wurde und warum der Anarchismus als große Alternative galt, sollte »Unruh« schauen. Jedoch nur, wenn man sich auf ein künstlerisches Experiment einlässt, das nicht immer funktioniert.

Unruh, Regie Cyril Schäublin, Schweiz 2022, 93 Minuten.

Johannes Tesfai

ist Redakteur bei ak.