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Ein Leben zwischen allen Stühlen

Deniz Ohdes hervorragend erzählter Roman »Streulicht« über das Erwachsenwerden, Klassenscham und Alltagsrassismus

Von Stephanie Bremerich

Industriepark in Frankfurt am Main: Hier in der Nähe wuchs die namenlose Protagonistin von Deniz Ohdes Debütroman auf. Foto: EvaK / Wikimedia, CC BY-SA 2.0

Die Erwartungen an dieses Buch sind hoch. Ein Debütroman, beim renommierten Suhrkamp Verlag publiziert und für den Deutschen Buchpreis nominiert (Shortlist!) – das muss man erst einmal schaffen. Und dann auch noch eine autobiografische Geschichte über ein Coming of Age im Arbeiter*innenmilieu, über Klassenscham, Ausgrenzung und Alltagsrassismus, erzählt von einer weiblichen Stimme mit so genanntem Migrationshintergrund. Schon sieht man vor dem inneren Auge, wie sich das Feuilleton die Hände reibt und eine Riege von Literaturwissenschaftler*innen (zu denen auch die Rezensentin gehört) mit zittrigen Fingern Bestellvorgänge auslöst, um Deniz Ohdes »Streulicht« mit dem zur Verfügung stehenden Theoriewerkzeug von Cultural- und Gender über Postcolonial Studies bis zu Intersektionalitäts- und Hybriditätsansätzen zu durchkämmen.

Kann man alles machen, wird man auch, soll man auch. Man muss es aber nicht, um sich von diesem Roman als Leserin und Leser gefangen nehmen zu lassen. »Streulicht« ist in erster Linie ein hervorragend erzählter, schmerzhafter Text über das Erwachsenwerden, der dort genau hinschaut, wo der öffentliche Diskurs mit hilflosen Begriffen wie »bildungsferne Schichten« operiert.

»Streulicht« schaut dort hin, wo der öffentliche Diskurs mit hilflosen Begriffen wie »bildungsferne Schichten« operiert.

Die namenlose Ich-Erzählerin und Protagonistin wächst als Kind einer türkischen Mutter und eines deutschen Arbeiters in der Nähe eines Industrieparks in Frankfurt am Main auf. Dort steckt sie einiges ein, schluckt vieles herunter und beißt sich trotzdem am Ende durch, vom Abitur im zweiten Anlauf bis zum Umzug und Studium in einer anderen Stadt. Man hätte diese Geschichte auch als Aufstiegsgeschichte erzählen können. Genau das macht Deniz Ohde aber nicht. Stattdessen rückt sie den Druck, die Zweifel und die Einsamkeit eines Lebens in den Fokus, das zwischen allen Stühlen bleibt. Die Sprache der Mutter bleibt der Protagonistin fremd, zum eigenbrötlerischen Vater, der zu viel trinkt, Plunder hortet und dessen Leben »eine einzige Ersatzhandlung« ist, findet sie keinen Kontakt, Freundschaften bleiben unter Vorbehalt. Es ist ein Erwachsenwerden ohne Schutzraum: »Meine Landschaft bestand aus dem Gitter über der Abluftanlage des Supermarktes, auf dem ich stand, wenn ich vor der Schule an der Bushaltestelle wartete (…). Zu mir gehörte der geschlossene Rollladen von Conny’s Eck, der Bahnhof, die startenden Flugzeuge im Himmelsviereck meines Zimmerfensters, der Strommast, die Mauern des Industrieparks, die aufragenden Röhren, gegen all das rannte ich an, aber es waren meine einzigen Ankerpunkte.«

Deniz Ohdes Roman fügt sich weder in die Selbstvervollkommnungsparadigmen einer klassischen Autobiografie, noch bedient er die Erfolgsversprechen des Bildungs- oder Entwicklungsromans. Das würde auch gar nicht passen. »Streulicht« zeigt, wie limitiert diese Narrative sind, wie sehr sie auf Leitvorstellungen basieren, die windschief zu den Erfahrungen all jener Menschen stehen, denen das symbolische, kulturelle und finanzielle Kapital einer durchschnittsdeutschen, durchschnittsgebildeten Mittelschicht fehlt. Bei den Bildungsversprechen in der Schule und den Aufforderungen der Gymnasiallehrer, sich als »zukünftige Elite« zu verstehen, ist die Protagonistin von Anfang an nicht mit gemeint: »Ich ahnte, dass meine vom Waschen fusseligen grauen Oberteile mit Drachenaufdruck nicht geeignet waren. Ich ahnte, dass mein Wohnort nicht geeignet war und die alten Möbel in der Küche, dass der Schmutzfilm auf der braunen Arbeitsplatte nicht dazu passte und auch nicht die Tapete mit Elefanten in meinem Zimmer, die an einigen Stellen vom Putz gerissen war. Dass ich versuchte, Bruchrechnungen auf einem weißen Plastikschemel zu lösen, während der Fernseher vor mir die Talkshow Britt zeigte.«

Deniz Ohde erzählt lakonisch, differenziert und ohne großen Schnickschnack. Vor allem lässt sie sich Zeit. »Streulicht« ist ein mitunter quälend langsamer Text, der auf rasante Spannungsbögen verzichtet. Stattdessen geht der Roman ins Detail und entfaltet die Beklemmung in der verramschten Wohnung, den alltäglichen Rassismus in der Schule, die permanente Anspannung und die Selbstzweifel in minutiösen Aufzählungen und breit angelegten Bildern. Die Fremdheit und das Gefühl, nie zur Gänze zu genügen, werden so in den Lektürevorgang übertragen und dort dimensioniert: »Ich war jemand, der den Müll rausbrachte und bedacht darauf war, genaue Terminabsprachen einzuhalten, ich war immer zu früh in der Schule, ich lächelte Leute auf dem Gang mit aufeinandergepressten Lippen und langgezogenen Mundwinkeln an, ohne mit den Augen zu lächeln. Ich erwartete, dass man mir die zehn Cent von letzter Woche zurück gab, und zahlte bei Verabredungen immer getrennt. Ich las die Ausschilderungen auf der Straße und die Informationstafeln an den Bahnhöfen, damit ich niemanden nach dem Weg fragen musste; vor allem las ich die Verbotsschilder. (…) Ich hielt mich an das Rechtsfahrgebot, sogar auf den Gehwegen, und auf den Rolltreppen erst recht, ich ging nicht bei Rot über die Straße, ich hatte nur eine Muttersprache, ich hatte nur einen Geburtsort, ich hatte einen deutschen Nachnamen und zwei Vornamen, von denen der eine geheim war, ich rasierte mir die Monobraue, ich sagte: Nicht ich bin Türkin, sondern meine Mutter; ich sagte, ich sei nicht so wie andere mit türkischem Elternteil, und bat damit stumm darum, dass man mich auch nicht so behandelte, aber meistens sprach ich gar nicht darüber, sondern vertraute darauf, dass man mir nichts anmerkte …«

Nein, besonders erhebend liest sich das alles nicht. Genau deshalb wäre Deniz Ohde der Buchpreis zu wünschen gewesen. Aus »Streulicht« spricht keine Genugtuung darüber, etwas »erreicht« oder »bewiesen« zu haben. Der Roman ist weder wütende Gegenrede noch flammender Appell. Vielmehr zeugt »Streulicht« eindringlich von der Zermürbung und dem ungeheuren Kraftakt, der hinter dem steht, was sich als »gesellschaftliche Teilhabe« oder »Aufstieg durch Bildung« irgendwie angenehmer anhört.

Stephanie Bremerich

ist Literaturwissenschaftlerin an der Uni Leipzig und schreibt für kritisch-lesen.de.

Deniz Ohde: Streulicht. Suhrkamp, Berlin 2020. 284 Seiten, 22 EUR.