analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 674 | Kultur

Insel der Glückseligen

Dorothy Wests Roman »Die Hochzeit« behandelt ein hierzulande unbekanntes Thema – die Schwarze Oberschicht

Von Johannes Tesfai

An diesen Stränden auf Martha's Vineyard flaniert das Schwarze Bürgertum seit Generationen. Foto: JP06035 / Wikimedia , CC BY-SA 3.0

Zwei Themen treffen in der Literatur fast nie aufeinander: Schwarzsein und Oberschicht. Eine der wenigen Ausnahmen ist der Roman »Die Hochzeit« von Dorothy West. Die Geschichte spielt 1953 auf der Insel Martha’s Vineyard vor der Ostküste der USA. Die Hauptfigur Shelby Coles ist Teil einer Schwarzen Familie aus der Oberschicht, die dort ihre Sommermonate in einer Gated Community verbringt, in der alle anderen auch nicht-weiß, dafür aber sehr wohlhabend sind. 

Die Handlung spielt am Tag vor Shelbys Hochzeit mit dem weißen Jazzpianisten Meade. Aber die eigentliche Story ist die Familiengeschichte der Coles vom Ende der Sklaverei bis in die 1950er Jahre. Einen solchen Ritt durch die Geschichte finden wir auch bei Colson Whiteheads »Underground Railroad«, dem wohl berühmtesten Schwarzen Autor der Gegenwart. Schreibt Whitehead eine Geschichte der afroamerikanischen Emanzipation, die den Gleisen eines imaginären Zugs folgt, versucht sich West an einer intimen Geschichte des Aufstiegs von den Plantagen des Südens in die stilvoll eingerichteten Wohnungen des Schwarzen Bürgertums.

Vergessene Literatur

»Die Hochzeit« ist bereits 1995 erschienen und ein Jahr später auch ins Deutsche übersetzt worden. Der deutschen Fassung wurde aber nicht der gleiche Erfolg zuteil wie der Originalfassung. Nun wurde der Klassiker der afroamerikanischen Literatur neu übersetzt.

Es ist schon bemerkenswert, dass es jetzt wieder auf den Buchmarkt geworfen wird. Denn Schwarze Literatur hat es hierzulande offensichtlich schwer. Richard Wrights Roman »Sohn dieses Landes« ist bis heute ein fast unbekanntes Buch in Deutschland, obwohl es bei Erscheinen 1940, John Steinbecks »Früchte des Zorns« von den Verkaufslisten in den USA verdrängte und damit der erste Bestsellerroman eines afroamerikanischen Autors war. Während Wright selbst stilbildend mit seiner sozial-realistischen Art zu schreiben durch den marxistischen Theoretiker Cedric J. Robinson zum Wegbereiter eines eigenständigen Schwarzen Marxismus geadelt wurde, reichte es nicht für eine größere Bekanntheit in Europa.

West hatte es mit ihrer  Schwarzen Oberschicht noch schwerer, im Literaturbetrieb Anerkennung zu finden. Whiteheads Romane, die sich auch in Europa gut verkaufen, handeln von den Schwarzen Underdogs: Sklav*innen, straffällige Jugendliche oder Harlems Unterwelt der 1960er Jahre. West konstruiert in ihren Texten eher Figuren, die gebildet sind und für die Geld keine Rolle mehr spielt. Ein Konflikt ist zwar auch der Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft, aber auch das Abgrenzungsbedürfnis gegenüber armen Schwarzen wird verhandelt. Die Autorin stammt selbst aus der Oberschicht Bostons und ist die jüngste Vertreterin der Harlem Renaissance gewesen. Diese Künstlerbewegung forcierte ein neues Selbstbild der Schwarzen Gemeinschaft in den USA der 1920er und 1930er in Musik, Literatur und Malerei.

Schwarze Klassenspaltung

Die Figuren in Wests Roman, ihre Intrigen, Konflikte und ihr Schichtdünkel würden auch gut in das Vorabendprogramm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens passen, wenn es nicht den allgegenwärtigen Rassismus gäbe. Auf der kleinen Insel hat sich eine äußerst klassenbewusste Oberschicht versammelt, die auch innerhalb der Schwarzen Community anders sein will. Nicht zuletzt dort gilt es als wichtig, nicht zu Schwarz zu sein, die vornehme Blässe ihrer Haut grenzt sie von anderen Afroamerikaner*innen ab, ohne dass sie selber weiß sein wollen. Hochzeiten in der Familiengeschichte der Coles orientieren sich an diesen rassistischen Farbspielen. Je heller, desto mehr wird der Aufstieg sichtbar.

Diese Distinktion war ein reales Schönheitsideal, das erst mit dem Slogan »Black is Beautiful« der sozialen Bewegungen aufgebrochen wurde. Die Romanautorin Toni Morrison schrieb in ihrem Essay »Im Dunkeln spielen« davon, dass Schwarze durch den rassistischen Blick als unsichtbar in der Literatur wahrgenommen wurden und deshalb nur als Sklav*innen oder als Dienstbot*in auftreten konnten. Dieser literaturtheoretische Text begründet im Übrigen die Theorie, die sich um Critical Whiteness entwickelte.

»Die Hochzeit« zeigt aber noch eine andere Form der Unsichtbarkeit und zwar die Existenz einer Schwarzen Oberschicht, die eben nicht in den urbanen Elendsquartieren der amerikanischen Großstädte lebt. Dass ihr ein so großer Erfolg mit dem Buch in den 1990ern gelang, liegt wohl auch an dem veränderten Blick auf Klasse und Rassismus in den USA selbst. US-Präsident Richard Nixon rief Anfang der 1970er noch den Black Capitalism aus, um die linken, militanten Schwarzen Bewegungen mit dem Aufstiegsversprechen einzuhegen. Mit den Unruhen in Los Angeles 1992 wurde zwar klar, dass die verhängnisvolle Verbindung von Unterschicht und Schwarzsein immer noch politische Sprengkraft hatte. Aber die öffentliche Wahrnehmung hatte sich geändert: Als Nike-Posterboy schickte sich Michael Jordan an, der erste unpolitische Schwarze Superstar zu werden. Der Aufstieg Jordans verdeckte weiterhin nur die Brutalität der rassistischen Klassengesellschaft in den USA, doch er war das Gegenmodell zu politischen Berühmtheiten wie Boxer Muhammad Ali, der seine Karriere lange unterbrechen musste, weil er nicht im Vietnamkrieg kämpfen wollte.

Der deutsche Blick

Aber auch hierzulande hat sich die Wahrnehmung verändert, das zeigt nicht zuletzt die neue Übersetzung von »Die Hochzeit« ins Deutsche. Mit Black Lives Matter schwappte eine Schwarze Bewegung nach Deutschland. Sie konnte trotz ihres Ursprungs in den amerikanischen Verhältnissen hierzulande viele Leute mobilisieren. Und sie hat gezeigt, dass es hier eine diverse Schwarze Community gibt, in der langsam auch Klassengrenzen sichtbar werden. Eine Oberschicht of Color bestand in der öffentlichen deutschen Wahrnehmung lange nur aus Sportler*innen und Musiker*innen. Detlef D! Soost beeindruckte mit seinen Tanzmoves und Gerald Asamoah wurde 2001 in die Fußballnationalmannschaft der Männer berufen. Aber auch sie entsprachen dem weißen Blick von Schwarzem Erfolg, der nur aus Sport und Musik besteht. Nun drängen auch Schwarze Künstler*innen in den Betrieb der Hochkultur. Nicht zuletzt der Rassismusskandal am Düsseldorfer Schauspielhaus zeigt, dass es Schwarze Stimmen an den Orten des deutschen Bürgertums gibt.

Die Coles aus Wests Roman haben ihr Geld vor allem als Ärzt*innen und als Vermieter*innen verdient. Gerade in der Figur der Schwarzen Hauseigentümerin zeigt West die brutale Klassenspaltung im afroamerikanischen New York. Ärzt*innen, Anwält*innen und Eigentümer*innen sind hierzulande immer noch schwer vorstellbar, so sehr die dritte Generation Afrodeutsche*r sich auch an den Aufstieg macht – aber nicht mehr unmöglich. Der Roman ist also unfreiwillig auch eine Zeitdiagnose der deutschen Gegenwart.

Spannend wird es, wenn literarische und politische Stimmen sich erheben, um auch auf die Klassenspaltung in der Schwarzen Community hierzulande aufmerksam zu machen. Der amerikanische Fall zeigt: Die Klassenspaltung geht direkt durch die Communties. Black Lives Matter entstand nicht zufällig während der Amtszeit von Barack Obama. Denn das Aufstiegsversprechen gilt nicht für alle.

Dorothy West: Die Hochzeit. Hoffmann und Campe, Hamburg 2021. 228 Seiten, 23 EUR.

Johannes Tesfai

ist Redakteur bei ak.