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Leichen im Keller des türkischen Nationalstaats

1937 und 1938 wurde die Bevölkerung von Dersim Ziel staatlicher Vernichtungspolitik der jungen kemalistischen Republik

Von Ismail Küpeli

Türkische Soldaten mit gefangen genommenen Menschen aus Dersim (1938). Foto: Dersim Zaza Platformu / Gemeinfrei

Die Politik des türkischen Staates, durch Vernichtung und Vertreibung »unerwünschter« Bevölkerungsgruppen eine ethnisch homogene Nation zu schaffen, hält bis heute an. Ebenso konstant bleibt, dass die Kurd*innen das Haupthindernis dieses Staatsprojektes sind. Gegenwärtig zeigt sich diese Staatspolitik in Form eines seit 2015 andauernden Krieges in den kurdischen Gebieten der Türkei und zahlreichen militärischen Angriffen auf kurdische Akteur*innen im gesamten Nahen und Mittleren Osten. Durch einen Blick in die Geschichte der Republik Türkei wird zudem sichtbar, dass Massentötungen von Zivilist*innen seit jeher ein untrennbarer Teil der türkischen Staatspolitik sind.

Die Militäroperationen in der Dersim-Region zwischen 1937 und 1938 sind das bekannteste und öffentlich am intensivsten debattierte Beispiel für die staatlichen Vernichtungsmaßnahmen. Während die offizielle Geschichtsschreibung von einem Aufstand, der dann niedergeschlagen wurde, spricht, betont die Gegenposition die langjährige staatliche Planung der Militäroperation sowie das Fehlen eines tatsächlichen Aufstandes und spricht von Massakern oder gar von einem Genozid. Doch insgesamt ist Dersim 1937 bis 1938 weder historisch aufgearbeitet, noch kann in einer angemessenen Weise an die Opfer erinnert werden – für beide Probleme ist an erster Stelle der türkische Staat verantwortlich.

Entwürfe und Planungen

Seit Gründung der Republik Türkei wurde von ihren Institutionen die Dersim-Region als eine rebellische, ungehorsame und widerspenstige Region problematisiert, begleitet von wiederkehrenden Forderungen nach harten Maßnahmen, um die staatliche Autorität durchzusetzen. Auffällig ist, dass diese immer wieder vorgeschlagenen sicherheitspolitischen und militärischen Maßnahmen von einer rassistischen Argumentation sowie nationalistischen Geschichtsmythen umrahmt wurden.

Dabei taucht ein Widerspruch auf, der für die Narrative staatlicher Akteure bezüglich der Kurd*innen charakteristisch ist: Während man einerseits die Bevölkerung Dersims zu Türk*innen erklärt, werden die Dersimer*innen andererseits als fremd, andersartig und nicht vertrauenswürdig beschrieben – nicht zuletzt um sie aus dem Kreis der schützenswerten Bürger*innen auszuschließen und damit die Gewaltpolitik gegen sie zu legitimieren. So forderte Fevzi Çakmak, Vorsitzender des Generalstabs: »Dersim kann nicht durch Streicheleinheiten gewonnen werden. Dersim muss zuerst als eine Kolonie betrachtet werden und das Kurdentum muss in der türkischen Gemeinschaft aufgelöst werden. Erst danach und nur schrittweise kann Dersim mit dem türkischen Recht behandelt werden.« Schließlich forderte Staatspräsident Mustafa Kemal 1936: »Die wichtigste Aufgabe in unseren inneren Angelegenheiten ist das Dersim-Problem. Diese innere Wunde, dieses abscheuliche Furunkel muss mitsamt ihrer Wurzeln entfernt werden – koste es was es wolle. In dieser Angelegenheit muss die Regierung alle Befugnisse erhalten, um die dringlichen Entscheidungen zu fällen.« Damit war absehbar, dass die Militäroperation in Dersim zeitnah stattfinden würde.

Als Ausbruchszeitpunkt für den vermeintlichen Aufstand in Dersim wird der 20. März 1937 angegeben, als eine Holzbrücke zerstört und eine Telefonleitung gekappt wurden. Daraufhin bombardierte die türkische Luftwaffe das Haus von Seyit Rıza, den man zum Drahtzieher erklärt hatte. Indizien lagen dafür nicht vor, vielmehr wurde Seyit Rıza zu diesem Zeitpunkt als Hauptakteur hinter der staatsfeindlichen Stimmung in Dersim angesehen und damit auch für die Ereignisse am 20. März 1937 verantwortlich gemacht. Die türkische Luftwaffe bombardierte darüber hinaus weitere Orte, in denen sie »Banditen« vermutete.

In den folgenden Wochen und Monaten wurden in der Dersim-Region viele Dörfer umstellt und niedergebrannt. Am 10. September 1937 stellte sich Seyit Rıza zusammen mit zwei Weggefährten bei der Gendarmerie in Erzincan, der Generalstab beschloss allerdings, die Militäroperation trotzdem fortzusetzen. In der Folgezeit gerieten auch Gemeinschaften (»Aşiret«), die sich gehorsam und staatsloyal gezeigt hatten, ins Visier der türkischen Armee und wurden vernichtet. Dabei hatte sich Seyit Rıza gestellt, damit die Militäroperation beendet wird und seine Gemeinde überleben kann. Seyit Rıza und sechs weitere vermeintliche Aufständische wurden in einer Gerichtsverhandlung zum Tode verurteilt und am 15. November 1937 hingerichtet.

Die Regierung beschloss nach der Hinrichtung Seyit Rızas eine neue Militäroperation, die im Juni 1938 begann. Die Truppen belagerten und zerstörten nun verstärkt die Höhlen, in denen die Bevölkerung Zuflucht gesucht hatte.

Für die Einordnung der Ereignisse in Dersim sei darauf verwiesen, dass die Zerstörung einer Holzbrücke und die Kappung einer Telefonleitung durch unbekannte Täter kaum als Aufstand charakterisiert werden können. Die staatlichen Reaktionen auf diese Taten waren nicht etwa eine Ermittlung und Bestrafung der Täter, vielmehr wurden die Ereignisse als Anlass genommen, eine umfangreiche Militäroperation, einschließlich Luftangriffen, durchzuführen und viele Dörfer zu zerstören.

Die Vernichtungsoperationen im Jahr 1938

Die Regierung beschloss nach der Hinrichtung Seyit Rızas eine neue Militäroperation, die im Juni 1938 begann. Die Truppen belagerten und zerstörten nun verstärkt die Höhlen, in denen die Bevölkerung Zuflucht gesucht hatte. Dabei wurden auch die Überlebenden dieser Sprengungen, die gefangen genommen worden waren, anschließend getötet. In dieser Phase wurden viele Dörfer niedergebrannt und zerstört, wobei das Schicksal der Dorfbewohner*innen in den Berichten des türkischen Generalstabs ungenannt bleibt, sodass unklar ist, ob die Menschen getötet oder gefangen genommen wurden.

Auffällig ist, dass, obwohl der Ministerrat bereits die Zwangsumsiedlung der Bevölkerung beschlossen hatte, in den Berichten des Generalstabs von Gefangennahmen und Überlebenden nur äußerst selten die Rede ist. Stattdessen tötete man alle erwähnten »Banditen«, von Zivilist*innen wurde ohnehin nie gesprochen. Der Generalstab zog am 19. September 1938 für die letzte Phase der Gesamtoperation im Jahr 1938 folgende Bilanz: »Aus dem Durchkämmungsgebiet wurden 7954 Personen tot oder lebendig rausgebracht. 1019 Waffen wurden eingesammelt.« Die Zahl der tatsächlich eingesammelten Waffen (1019) steht indes im Kontrast zu der Zahl der Personen, die im Zuge der Operation getötet oder gefangen genommen wurden (7954). Daraus kann geschlossen werden, dass die überwiegende Mehrheit der Opfer unbewaffnet war. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass die Zahl der Waffen auch diejenigen Waffen wie etwa Jagdgewehre umfasst, die bei den Durchsuchungen der Dörfer gefunden und nicht von etwaigen Rebellen gegen die türkischen Truppen eingesetzt wurden. Die einzige größere bewaffnete Rebellengruppe, die der Generalstab in seinen Berichten benannte, bestand aus 30 bis 40 Personen und hatte am 27. Juni 1938 versucht, die Flucht von 500 Personen zu schützen.

Die Angaben darüber, wie viele Menschen durch die Vernichtungsoperationen im Jahr 1937 und 1938 getötet und deportiert wurden, weichen stark voneinander ab. Die Zahlen der türkischen staatlichen Akteure sind recht genau, wenn auch zu niedrig. Laut dem für Dersim zuständigen 4. Generalinspektorat wurden in diesen beiden Jahren 13.160 Personen getötet und 11.818 Personen deportiert. Das Generalkommando der Gendarmerie wiederum meldete am 8. August 1939, dass in den Jahren 1936 bis 1939 insgesamt 13.806 Personen in der Dersim-Provinz getötet wurden. Das Innenministerium, das die Deportationen organisiert hatte, meldete am 23. Dezember 1938, dass 11.683 Personen bereits in die westlichen Provinzen deportiert worden waren und die Deportation von weiteren etwa 2.000 Personen geplant sei. Während nach türkischen staatlichen Quellen etwas über 13.000 Menschen in Dersim getötet wurden, gehen kurdische Autor*innen von 50.000 bis 70.000 Toten aus.

Genozidales Vorgehen

Dersim 1937 bis 1938 lässt sich weder als Aufstand noch bloß als eine weitere Militäroperation erfassen. Die Markierung Dersims als »Problem«, »Furunkel« oder »Geschwür« hat eine sehr lange Geschichte und beginnt schon vor der Gründung der Republik Türkei. Dersim geriet früh ins Visier der staatlichen Homogenisierungspolitik und wurde immer wieder in den Berichten der staatlichen Funktionäre als dringendes »Problem« thematisiert, das es militärisch und repressiv zu lösen galt. Die konkreten Planungen für die Vernichtungsoperation begannen spätestens 1932, wie aus den Äußerungen des Generalstabs und des Generalkommandos der Gendarmie zu erkennen ist. 1935 wurde mit dem Tunceli-Gesetz ein besonderer Rechtsraum und -rahmen geschaffen, der sich sowohl von den türkischen Provinzen im Westen, als auch von den kurdisch besiedelten Provinzen im Osten unterschied. 1937 begann die jahrelang vorbereitete Operation, für die zwar ein Vorfall als Auslöser genutzt wurde, dieser Vorfall aber äußerst nichtig war.

Insbesondere im zweiten Operationsjahr, 1938, lassen sich zahlreiche und offenbar koordinierte einzelne Vernichtungsoperationen in vielen Dörfern nachweisen, die sich ganz explizit gegen die gesamte Bevölkerung, unabhängig vom Geschlecht oder Alter der Opfer, richteten. Dadurch, dass die Dersimer Bevölkerung eine religiös und sprachlich besondere Gruppe ist, kann die Vernichtung eines nennenswerten Teils dieser Bevölkerungsgruppe mindestens den Versuch eines Genozids bedeuten. Auch die vorhergehende Benennung Dersims als »Problem«, »Furunkel« oder »Geschwür«, die es zu entfernen gelte, legt nahe, hier von einem genozidalen Vorgehen auszugehen.

Ismail Küpeli

ist Politikwissenschaftler und analysiert die Konflikte in der Türkei und im Nahen und Mittleren Osten. Derzeit schreibt er eine Dissertation über die »Kurdenfrage« in der Türkei an der Universität zu Köln. Weitere Informationen: kupeli.blogsport.eu