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Das Gegenmodell

Degerfors IF, der Fußballklub der rotesten Gemeinde Schwedens, spielt allen Prognosen zum Trotz wieder in der höchsten Liga

Von Gabriel Kuhn

Auch die Corona-Restriktionen hielten die Menschen in Degerfors nicht davon ab, ihr Fussballteam zu feiern. Foto: URB

Nach gut zweieinhalb Stunden Fahrzeit rollt der Schnellzug von Stockholm nach Oslo im beschaulichen Degerfors ein. Hier, so offenbarte einst der beliebte schwedische Fußballtrainer Tord Grip, steige er immer aus einem Wagen der zweiten Klasse aus, selbst wenn er sich die Reise in der ersten gegönnt hat. Alles andere wäre in Degerfors zu riskant. Seinen guten Ruf sei man in der »rotesten Gemeinde« Schwedens schnell los.

Der Bahnhof liegt außerhalb des Stadtkerns der 7.000-Seelen-Gemeinde. Auf dem Weg ins Zentrum kommt man am Stahlwerk vorbei, um das sich hier seit jeher alles dreht. Es gibt kaum eine Familie im Ort ohne Bezug zum Werk. Wer nicht selbst dort arbeitet, hat Angehörige, die das tun oder taten. Außer dem Werk gäbe es nichts in Degerfors, erklären einem die Einheimischen gerne – wenn da nicht der Fußball wäre.

Der lokale Verein, Degerfors IF, wurde 1907 gegründet. Von Anfang an ist er eng mit dem Stahlwerk und später mit der in der Stadt regierenden Linkspartei verbunden. Nachdem die Linkspartei 1990 den Zusatz »Die Kommunisten« aus dem Parteinamen gestrichen hatte, behielt die Degerforser Ortsgruppe weiterhin Hammer und Sichel in ihrem Wappen. »In Degerfors ist es keine Schande, Kommunist zu sein – im Gegenteil«, erklärt Joakim, Mitbegründer der linken Ultras Rossobianco, deren Name auf die Vereinsfarben sowie die Ultra-Kultur Italiens anspielt.

Degerfors IF macht der Stadt früh Ehre. 1941 wird der Verein schwedischer Vizemeister, 1963 gelingt dies ein weiteres Mal. 1993 kommt mit dem Gewinn des schwedischen Cups der größte Erfolg, sagenumwobene Europacup-Duelle mit dem AC Parma folgen. Die Torjägerlegende Gunnar Nordahl, der 1949 als erster schwedischer Auslandsprofi beim AC Milan anheuerte, begann seine Karriere in Degerfors, ebenso wie Sven-Göran »Svennis« Eriksson, von 2001 bis 2006 Cheftrainer des englischen Nationalteams. Auch Ola Toivonen, der bei der WM 2018 Manuel Neuer mit einem akrobatischen Heber düpierte, stammt von hier. Seine Großeltern heuerten, wie viele finnische Arbeitskräfte, in den 1950er Jahren im Stahlwerk an.

Hier kommt Degen!

Nach dem Cup-Erfolg 1993 tut sich der Verein angesichts seiner nahezu dörflichen Infrastruktur mit der zunehmenden Kommerzialisierung des Fußballs schwer. Als man 1997 aus der Allsvenskan, der höchsten schwedischen Liga, absteigt, sehen viele das Anfang vom Ende gekommen. Nicht zuletzt Sven-Göran Eriksson, der einen weiteren raschen Abstieg in die Amateurklassen prophezeit, aus denen es danach kein Entrinnen mehr geben werde. Degerfors sei für die Anforderungen des modernen Fußballs schlicht nicht gerüstet. Die Fans sehen das anders. Nach Erikssons Aussagen rollen sie beim kommenden Heimspiel ein Transparent aus: »Svennis, du irrst dich: Die Zukunft gehört uns!«

23 Jahre später sollten sie recht behalten. Nachdem sich Degerfors IF entgegen der Prognosen Erikssons fast durchgängig in der zweiten Spielklasse halten konnte, gelingt in der Saison 2020 sensationell der Wiederaufstieg in die Allsvenskan. (Die schwedische Fußballsaison folgt dem Kalenderjahr.) Ganz Schweden, ungeachtet politischer Vorlieben, ist von dem Fußballmärchen begeistert. Der staatliche Fernsehsender SVT entschließt sich, den Verein während der Saison 2021 aus nächster Nähe zu begleiten. Es entsteht eine achtteilige Serie mit dem Titel »Hier kommt Degen!« (»Degen« ist eine Kurzform von Degerfors, die gerne für den Fußballverein verwendet wird.) Das im Frühjahr 2022 ausgestrahlte Programm zeigt eine Achterbahnfahrt, die Degerfors nach bescheidenem Start auf Platz 5 der Tabelle katapultiert, nach einer Serie von zehn sieglosen Spielen jedoch im Abstiegskampf endet. Erst mit einem Tor drei Minuten vor Schluss sichert sich Degerfors in der letzten Runde, im Schneegestöber von Östersund, den Klassenerhalt. Großes Kino.

Unsere Stärke ist die Gemeinschaft. Wir haben nicht das Geld, das andere haben, aber wir haben eine Stadt, die geschlossen hinter dem Verein steht. 

Fredrik Rakar, Vorsitzender von Degerfors IF

Bürgerliche Zeitungen beanstandeten die stereotype Darstellung der Bewohner*innen Degerfors‘ in der SVT-Dokuserie. Manche sprachen von einer »Exotisierung« der schwedischen Landbevölkerung. Die Menschen in Degerfors, mit denen der Autor für diesen Artikel sprach, können damit wenig anfangen. »Die Leute hier sind eben so«, meint Matto, auch er ein Mitbegründer der Ultras Rossobianco. »In Großstädten gehen solche Typen schnell unter, aber hier gehört jeder zur Gemeinschaft.« Dass man auf die eigene Authentizität stolz ist, machten die Anhänger*innen Degerfors auch klar, als der Verein vor einigen Jahren bei Hammarby IF antrat. Hammarby ist in den ehemaligen Arbeitervierteln des Südens Stockholms beheimatet, die heute stark gentrifiziert sind. Die Degerforser Kurve grüßte mit einem Transparent: »Hallo Latte-Macchiato-Trinker! Hier kommt die Arbeiterklasse.«

Fußballmarxismus

Dass Degerfors selbst ein erlesener Wohnort ist, weiß der Vorsitzende des Vereins, Fredrik Rakar, wissenschaftlich zu untermauern. Rakar wurde vom bekanntesten Fußballjournalisten Schwedens, Erik Niva, als Vereinsvorsitzender beschrieben, der sich mit keinem anderen in Schweden vergleichen lässt. »Er sieht nicht so aus, er redet nicht so, er denkt nicht so.« Rakar zog im Jahr 2014 nach Degerfors – in einen Ort, den er noch nie in seinem Leben besucht hatte. Stattdessen hatte der Soziologe mit steirischen Vorfahren in Ländern wie Brasilien, Mosambik und Tansania gelebt. Auf der Suche nach dem idealen Wohnort führte jedoch an Degerfors kein Weg vorbei. Betrachtet man Faktoren wie Immobilienpreise, Sozialleistungen, Infrastruktur und gesellschaftliches Klima, gibt es laut Rakar nirgends in der Welt eine höhere Lebensqualität pro Euro. »Wenn eure Leser*innen einen besseren Ort kennen, sollen sie sich melden. Aber das ist unmöglich.«

Rakar räumt ein, dass seinen Berechnungen persönliche Bedürfnisse und Möglichkeiten zugrunde liegen. Dass Degerfors nicht für alle ist, meint unter anderem der Sportdirektor des Vereins, Patrik Werner. Studenten verpflichte er nie, denn für sie gäbe es in Degerfors nichts zu tun. Stattdessen setzt man nach wie vor auf Talente aus der Umgebung, von denen viele im eigenen Nachwuchs ausgebildet werden.

Wenn es um die Frage des Überlebens im modernen Fußballgeschäft geht, hat Rakar eine klare Antwort: »Unsere Stärke ist die Gemeinschaft. Wir haben nicht das Geld, das andere haben, aber wir haben eine Stadt, die geschlossen hinter dem Verein steht.« Das zeigte auch die SVT-Serie. Um den Auflagen der ersten schwedischen Liga gerecht zu werden, zimmerten ehrenamtlich arbeitende Pensionäre einen eigenen VIP-Bereich mit Zeltfestcharakter, in dem Sportdirektor Werner persönlich an der Bar steht. Tatsächlich gelang es, alle Auflagen zu erfüllen, ohne der legendären Heimstätte »Stora Valla« ihren Charme zu nehmen. Dazu gehört auch der Naturrasen. Allgemein setzen sich in Skandinavien Kunstrasenplätze immer mehr durch, doch in Degerfors verweigert man sich diesem Trend. Und das, obwohl man immer wieder auf den Kunstrasenplatz des Erzfeindes Örebro SK ausweichen muss, weil das Grün im Stora Valla wieder mal überschwemmt oder gefroren ist. Aber in Degerfors auf einem Kunstrasenplatz zu spielen? Für Rakar ein Ding der Unmöglichkeit. Selbst wenn er die Entscheidung, am Naturrasen festzuhalten, als »ökonomischen Wahnsinn« bezeichnet. Hier machen sich jedoch die engen Verbindungen zur Linkspartei bezahlt. Nachdem diese im Jahr 2010 die letzte große Stadionrenovierung mit Gemeindegeld finanziert hatte, wurde sie bei den darauffolgenden Wahlen mit einem Rekordergebnis von 48,6 Prozent belohnt. Einen »Fußballmarxismus« im Ort machte daraufhin Arbete aus, die Zeitung des sozialdemokratischen Gewerkschaftsverbandes Schwedens.

Der Saisonauftakt 2022 verlief nicht nach Wunsch. Nach sechs Niederlagen steht bereits jetzt fest, dass Degerfors auch in dieser Saison gegen den Abstieg spielen wird. Doch anderes hatte man kaum erwarten können. Leistungsträger des Vorjahres spielen heuer bei Großklubs wie Malmö FF oder Djurgården IF. Mit den dort gezahlten Gehältern kann Degerfors nicht mithalten. Es gelten andere Werte. Ein Gegenmodell zum viel gescholtenen modernen Fußball ist Degerfors IF allemal – ohne jede Exotisierung.

Gabriel Kuhn

lebt als Journalist und Autor in Schweden.