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|ak 672 | Geschichte

Kampf gegen »historischen Nihilismus«

Vor 100 Jahren wurde die Kommunistische Partei China gegründet

Von Felix Wemheuer

Portrait von Mao, daneben ein Soldat in Haltung
Mao gehört dazu, aber auch nicht allzu sehr. Foto: Rabs003 / Wikimedia , CC BY-SA 3.0

Am 1. Juli feiert die Kommunistische Partei China (KPCh) den 100. Jahrestag ihrer Gründung. Die Parteiführung hat eine landesweite Lernkampagne zur Parteigeschichte gestartet. Durch  kollektives Studium eines neuen Lehrbuches, Apps, tägliche Podcasts und den Kinofilm »1921« soll die offizielle Version der Geschichte in Partei und Bevölkerung verankert werden. Parteiführer Xi Jinping zitiert gerne eine klassische chinesische Weisheit: »Wenn man einen Staat vernichten will, muss man zuerst seine Geschichte ausradieren.« Aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion zog die KPCh die Lehre, dass die Partei die Diskurshoheit bewahren und sogenannten »historischen Nihilismus« bekämpfen muss.

Keine Ent-Maoisierung

Parteigeschichtsschreibung spielt in der Geschichte der KPCh traditionell eine wichtige Rolle. Schon in der »Ausrichtungskampagne« im roten Stützpunktgebiet in Yan’an Anfang der 1940er Jahre studierte Mao gemeinsam mit Kadern Parteigeschichte, um die »Gedanken zu vereinheitlichen«. Nach seinem Sieg über konkurrierende Fraktionen ließ Mao 1945 in einer Resolution des Zentralkomitees (ZK) zur Parteigeschichte festhalten, dass seine Führung die Grundlage für die Siege der chinesischen Revolution darstellen würde. Im Folgenden wurde Parteigeschichte als Triumphzug der Mao-Zedong-Ideen geschrieben.

Nach Maos Tod 1976 sah sich die Parteiführung allerdings gezwungen eine neue Interpretation der Geschichte seit der Gründung der Volksrepublik 1949 vorzulegen. Während der Kulturrevolution (1966 bis 1976) waren Fraktionskämpfe innerhalb der KPCh unter Beteiligung der Bevölkerung in einen Bürgerkrieg eskaliert. Nach langen internen Debatten verabschiedete das ZK 1981 schließlich eine Resolution zu Parteigeschichte, die eine verbindliche Interpretation und gleichzeitig einen Schlussstrich der Debatte darstellen sollte. Nach dieser Version war Mao ein großer Revolutionär und Marxist-Leninist. Unter seiner Führung siegte die neudemokratische Revolution 1949, und bis 1956 wurden die Grundlagen des sozialistischen Wirtschaftssystems gelegt. Mit dem »Großen Sprung nach vorne« (1958 bis 1961) und der Kulturrevolution hätten Mao und andere Mitglieder der Führung jedoch »linke Fehler« begangen. Diese seien nicht bösen Absichten, sondern einer falsche Theorie der Überbetonung des Klassenkampfes und Ignoranz der objektiven ökonomischen Gesetzmäßigkeiten geschuldet gewesen. Die Kulturrevolution wurde als »große Katastrophe für Volk und Partei« bezeichnet. Durch den Sturz der »konterrevolutionären Vierer Bande« 1976 sowie Rehabilitierungen vormals verfolgter Kader und Bürger*innen habe die Partei jedoch das Land wieder auf den richtigen Weg geführt.

Die neue Parteiführung um Deng Xiaoping, deren Mitglieder fast alle selbst Opfer der Kulturrevolution gewesen waren, entschied sich gegen eine »Ent-Maoisierung«. Man fürchtete, dass eine grundsätzliche Verneinung des Staatsgründers zu einem großen Legitimationsverlust der KPCh führen könnte. Deng definierte die Mao-Zedong-Ideen als kollektiven Schatz der Partei, dessen Interpretation den jeweiligen Herausforderungen anpasst werden müsse. Damit wurde ein flexibler, aber auch teilweile beliebiger und manipulativer, Umgang mit Maos ideologischem Erbe möglich.

Gegen »wilde Geschichte«

Bis heute halten sich offizielle Darstellungen der Parteigeschichte im Wesentlichen an die Interpretation von 1981. Allerdings verlor diese Version an Überzeugungskraft. Seit den frühen Nullerjahren konnten im Internet verschiedene Gruppen von ehemaligen Aktivist*innen und Opfern ihre eigenen Versionen der Geschichte, zumindest in einem gewissen Rahmen, verbreiten. Mit der offiziellen Interpretation sind weder die meisten (Neo)-Maoist*innen noch die Opfer der maoistischen Kampagnen zufrieden.

Chinesischen und ausländischen Forschenden wurde es möglich, basierend auf neu zugänglichen Quellen besonders die Mikro- und Lokalgeschichte von Staat und Partei neu zu schreiben. Dabei spielten der Zugang zu Zeitzeug*innen, die Öffnung von lokalen Archiven und auch der Kauf von »Müllmaterialen« auf Floh- und Altpapiermärkten eine wichtige Rolle wie ausgesonderte Akten, parteiinterne Publikationen, Tagebücher oder Pamphlete der Roten Garden. Neue Details kamen ans Tageslicht wie zum Beispiel das Ausmaß der Hungersnot während des »Großen Sprungs«, kreative Widerstandsmaßnahmen der Landbevölkerung oder die Bedeutung von Fraktionskämpfen innerhalb der Armee in der kulturrevolutionären Gewalt sowie große lokale Unterschiede bei Kampagnen. Chinesische Forschende konnten in der Regel zumindest in Hongkong oder im Ausland publizieren ohne mit Repressionen rechnen zu müssen.

Seit dem Machtantritt von Xi 2012 ist die »goldene Ära« der Forschung jenseits der Parteidoktrin jedoch endgültig vorbei. Die Regierung ließ den Zugang zu Archiven, selbst auf Kreisebene, stark beschränken. Vor einigen Archiven hängen sogar Parolen, dass es die wichtigste Aufgabe der Archivarbeit sei, die Geheimnisse von Staat und Partei zu bewahren. Auf Flohmärkten sind kaum noch »Müllmaterialen« zu finden oder sie werden zu horrenden Preisen im Internet gehandelt.

In einer Rede im Februar 2021 betonte Xi, dass die Parteigeschichte politisch korrekt erzählt werden müsse. Er kritisierte die »Vulgarisierung« der Parteigeschichte in Medien, die Verbreitung von »wilder Geschichte«, sprich populärwissenschaftliche Literatur basierend auf inoffiziellen Quellen, sowie »illegale Veröffentlichungen« in ausländischen Verlagen.

Kein »Abschied von der Revolution«

Seit Jahren wettert die Parteipresse gegen den sogenannten »historischen Nihilismus«, der die Errungenschaften von Partei und Staat verneine und einige »historische Fehler« der KPCh nutze, um das politische System generell in Frage zu stellen. Laut der offiziellen Version blieb in China die bürgerlich-demokratische Revolution nach 1911 durch den Verrat der Guomindang unter Chiang Kai-shek unvollendet. Die KPCh habe in einer »halb-feudalen« und »halb-kolonialen« Gesellschaft die »neudemokratische Revolution« 1949 zum Sieg geführt. Die zentralen Inhalte dieser Revolution seien die Bodenreform sowie die Vertreibung der westlichen und japanischen Kolonialmächte aus China gewesen.

In der Kampagnen gegen »historischen Nihilismus« wird zum einem eine Strömung von Forschenden angegriffen, die seit den 1990ern einen »Abschied von der Revolution« fordert. Sie argumentieren, dass die Xinhai-Revolution von 1911 und die folgende Ausrufung der Republik Dekaden von Kriegen, Bürgerkriegen, Gewaltorgien und Chaos eröffnet hätten. Eine geordnete Modernisierung von oben durch die Reformkräfte der Qing-Dynastie sei eine mögliche bessere Alternative gewesen. Als »historischer Nihilismus« gilt auch die Ansicht, dass westliche Kolonialmächte einen positiven Beitrag zur Modernisierung Chinas geleistet hätten: Nicht wenige Bücher, TV-Produktionen und Museen zelebrierten in den frühen 2000ern unkritisch die kosmopolitische und moderne Kultur der globalen Metropole Shanghai der 1920er in einem Trend des »Republik-Fiebers«.

Im Narrativ vom »Abschied der Revolution« und im »Republik-Fieber« sieht die offizielle Presse eine Infragestellung der Notwendigkeit der chinesischen Revolution und damit der Existenzberechtigung von Staat und Partei. Als »historischer Nihilismus« zählt überdies die Verächtlichmachung von Märtyrer*innen wie zum Beispiel des Vorbildsoldaten Lei Feng. Dass offizielle Medien alte Heldengeschichten aus der Ära von Revolution und Aufbau aufwärmen, hatte im Internet einigen Hohn und Spott nach sich gezogen. Seit 2018 stellt ein Gesetz das Schlechtmachen von Märtyrer*innen und Held*innen unter Strafe. Zudem wurde ein offizieller Märtyrer*innen-Gedenktag eingeführt.

Höhepunkt der neuen Parteigeschichte: Die Xi-Ära

Xi machte bezogen auf die Geschichte der Volksrepublik deutlich, dass man nicht mit einem Verweis auf die Erfolge der Reform-Ära nach 1978 die Mao-Ära (1949 bis 1976) negieren dürfe. Das ist eine Warnung an liberale Kräfte. Ebenso wenig dürfe man sich positiv auf die Mao-Ära beziehen, um die Notwendigkeit der »Reform und Öffnung« zu verneinen. Diese Aussage ist gegen die (Neo)-Maoist*innen gerichtet, die in der Politik nach 1978 eine »Restauration des Kapitalismus« sehen. Xi legte dar, dass beide Epochen zur Geschichte des Aufbaus des chinesischen Sozialismus gehören würden.

In dem neuesten offiziellen Lehrbuch zur Geschichte der KPCh nimmt die bisher neunjährige Amtszeit Xis mehr als ein Viertel des Werkes ein.

Das neue offizielle Lehrbuch »Eine kurze Geschichte der KPCh« zum 100-jährigen Jubiläum orientiert sich bei der Bewertung der Mao-Ära an der ZK-Resolution von 1981. Allerdings wird der Darstellung der Verfolgung von Parteikadern und Bürger*innen während der Kulturrevolution deutlich weniger Raum eingeräumt als in früheren vergleichbaren Publikationen. In einem Lehrbuch zum 90. Jahrestag der Parteigründung wurden die Hungersnot und die »außergewöhnliche Sterblichkeit« während des »Großen Sprungs« noch erwähnt. 1960 habe sich die Zahl der Bevölkerung im Vergleich zum Vorjahr um zehn  Millionen reduziert. In dem neuen Lehrbuch wird nur von »ernsthaften wirtschaftlichen Schwierigkeiten« gesprochen, die durch »linke Fehler«, Naturkatastrophen und den Vertragsbruch der Sowjetunion ausgelöst worden seien.

Mit dem neuen Lehrbuch versucht Xi sich vor allem selbst einen Platz in der Parteigeschichte zu sichern. Seine bisher nur neunjährige Amtszeit nimmt mehr als ein Viertel des Werkes ein. Xi wird als weiser marxistischer Politiker, Theoretiker und Stratege gepriesen. Die Vereinheitlichung der Führung von Staat, Partei und Armee mit Xi als Kern sei Ausdruck des Volkswillens und die Anerkennung dieser Autorität Pflicht jedes Mitglieds von Partei und Streitkräften. Als Xis großes Projekt wird der »chinesische Traum« mit der Planung der »2 Mal 100 Jahre« dargestellt. Das erste Ziel, zum 100. Jahrestag der Gründung der KPCh, China zur Gesellschaft eines »allgemeinen bescheidenen Wohlstandes« zu machen, sei schon erreicht worden. Zum 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik im Jahr 2049 soll China ein vollentwickeltes Industrieland und Weltmacht sein. Ausführlich werden auch Xis Pläne dargelegt, die Volksbefreiungsarmee bis dahin auf Weltklasseniveau aufzurüsten.

Trotz dieser ambitionierten Zukunftspläne zeigt die gegenwärtige Kampagne, wie wichtig die Geschichte für die Legitimation der KPCh ist. Die chinesische Führung sieht in einer Kapitulation vor dem »historischen Nihilismus« durch der KPdSU unter Michail Gorbatschow Ende der 1980er einen Grund für den Zusammenbruch der Sowjetunion. In einem Kommentar des offiziellen Theorieorgans der KPCh, Qiushi, von April 2021 wird kritisiert, dass die sowjetische Partei in einer breiten Öffentlichkeit Debatten zuließ, in denen die Geschichte der KPdSU, Lenin, Stalin und sogar die Oktoberrevolution selbst komplett negiert wurden. Durch ideologische Verwirrung seien die sowjetischen Parteiorgane auf allen Ebenen nutzlos geworden und hätten auch die Führung über die Armee verloren.  

Die chinesischen Behörden rufen derzeit dazu auf, Fälle von »historischem Nihilismus« im Internet zu melden. Laut Angaben der South China Morning Post von Mai 2021 wurden im Rahmen der Vorbereitung des 100. Jahrestages der Parteigründung schon über zwei Millionen Beiträge im Internet gelöscht. Die Spielräume jenseits der offiziellen Version Parteigeschichte zu diskutieren und zu erforschen werden zunehmend kleiner.

Felix Wemheuer

ist Professor für Moderne China-Studien an der Universität zu Köln. Der von ihm herausgegebene kritische Reader »Marktsozialismus: Eine kontroverse Debatte« erschien im April beim Promedia Verlag.