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Beyond Butler

Ein neuer Reader macht erstmalig einflussreiche Texte der Queer Studies auf Deutsch zugänglich

Interview: Nelli Tügel

Ist der Queerfeminismus nicht materialistisch genug? Eine historische Variante dieser Diskussion – der »Tuntenstreit« – begann 1973, als auf dem Pfingsttreffen der kommunistischen Gruppe Homosexuelle Aktion Westberlin (HAW) italienische und französische Genossen in Kleidern auftauchten. Die HAW spaltete sich daraufhin in klassische Marxist*innen und radikale Feminist*innen. Foto: Rüdiger Trautsch, CC BY-SA 3.0

Viele Schlüsseltexte der Queer Theory waren bislang nichts ins Deutsche übersetzt. Das hat zu einer einseitigen Rezeption hierzulande geführt, sagen Mike Laufenberg und Ben Trott, die Herausgeber eines kürzlich erschienenen Readers, in dem einige dieser Texte erstmalig auf Deutsch veröffentlicht werden. Woher die Queer Studies kommen, warum es eine neue queere Lust am Marxismus gibt und wie es um das Verhältnis von Forschung und Bewegung steht, erklären die beiden im Interview.

Nicht wenige Menschen halten Queer Theory für einen Witz – der Einleitung des von euch herausgegebenen Readers mit Schlüsseltexten der Queer Studies zufolge war die Wortschöpfung tatsächlich einer, aber anders, als es die Gegner*innen meinen. Was hatte es mit dem Witz auf sich?

Ben Trott: Das stimmt, die Queer Theory wird und wurde oftmals nicht ernst genommen, und zwar aus ganz widersprüchlichen Gründen. Manche halten sie für zu aktivistisch, um eine ernsthafte Wissenschaft zu sein. Anderen wiederum ist sie zu abstrakt, um von wirklich politischem Wert zu zeugen. Aber eine Menge Theorie ist auf normative Weise darum bemüht, die Welt zu gestalten und formen, selbst in den eher traditionellen akademischen Disziplinen wie etwa den Wirtschaftswissenschaften und Internationalen Beziehungen. Und soziale Bewegungen und Aktivist*innen schaffen selbst eine ganze Menge komplexer Theorie.

Der Begriff »Queer Theory« wurde erstmals als Titel einer Universitätskonferenz im Jahr 1990 verwendet. Damals war das ziemlich provokativ. Es ist ein bisschen so, als würde man heute eine »Faggot Theory«-Konferenz ausrichten. »Queer« war zu der Zeit weitestgehend eine Beleidigung, auch wenn manche das Wort bereits für sich zu beanspruchen begannen – das lässt sich etwa in den Arbeiten von Feminist*innen of Color wie Gloria Anzaldúa aus den frühen 1980er Jahren sehen. Der Witz lag tatsächlich in der Gegenüberstellung: also jenes Schimpfwort mit dem Begriff »Theory« und der ganzen Ernsthaftigkeit und Wissenschaftlichkeit, die dieser impliziert, zu kombinieren. 

Wenn ihr kurz erklären müsstet, was Queer Theory und Queer Studies sind und wo sie herkommen, wie würdet ihr es formulieren?

Ben Trott: Was heute als »Queer Theory« bezeichnet wird, entstand aus den Gay and Lesbian Studies sowie der feministischen Theoriebildung zu einer Zeit, als poststrukturalistische und psychoanalytische Ansätze viel Einfluss auf die kritischen Geisteswissenschaften hatten. Dennoch hat die Queer Theory nie ganz mit dem Materialismus gebrochen, der einige lesbische feministische Theoriebildung oder bestimmte Forschung in der schwulen Historiografie prägte – so etwa die Arbeiten von Monique Wittig und John DEmilio. Auch griff die Arbeit von Schwarzen Feminist*innen und Feminist*innen of Color in den 1970er und 1980er Jahren bereits viel Forschung in den Queer Studies vorweg, indem sie darauf bestand, dass unterschiedliche Phänomene – Misogynie, Rassismus, Homophobie und kapitalistische Ausbeutung – sich zusammen artikulieren und ihnen folglich zusammen widerstanden werden muss. 

Mike Laufenberg & Ben Trott

Mike Laufenberg forscht am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ben Trott ist Gastprofessor am Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft der Leuphana Universität Lüneburg.

Nach welchen Kriterien habt ihr die Texte ausgewählt?

Mike Laufenberg: Wir wollen mit dem Band Texte zugänglich machen, die bislang nicht oder nur auszugsweise ins Deutsche übersetzt wurden. Sprachbarrieren gehören zu den Hauptursachen von Rezeptionssperren. Außer von Judith Butler liegen bisher nur wenige deutsche Übersetzungen von international einflussreichen Texten der Queer Studies vor. Das hat zu einer einseitigen Rezeption geführt. Ein Kriterium bei der Textauswahl war daher, der Heterogenität queerer Theorien Rechnung zu tragen. Ein weiteres bestand darin, Texte auszuwählen, die wichtige theoretische Debatten angestoßen haben. Hierzu zählt Roderick Fergusons Ausarbeitung einer Queer-of-Color-Kritik, Ann Cvetkovichs Arbeit zu aktivistischen Affekten, Robert McRuers Synthese von Queer und Disability Studies und Gayatri Gopinaths Konzept der queeren Diaspora. 

Historischer Materialismus, aka Marxismus, lehnt eine überhistorische, essentialisierende Vorstellung von Geschlecht, Sexualität etc., von dem, was »natürlich« sei, ab. Insofern sind marxistische Ansätze in der Queer Theory ja eigentlich gut aufgehoben. Trotzdem waren sie in den ersten Jahren der Institutionalisierung des Faches marginal. Wieso?

Ben Trott: Ja, genau! Sowohl der Queer Theory als auch der marxistischen Kritik der politischen Ökonomie geht es beiden um die Frage, wie historisch kontingente gesellschaftliche Verhältnisse Kategorien produzieren, die dann als natürlich oder gegeben erscheinen. Beiden geht es nicht nur um die »Entreifizierung« oder Entnaturalisierung dieser Kategorien, sondern auch darum, die Transformation jener Verhältnisse zu denken, die diese Kategorien überhaupt erst schaffen. Was den marginalen Status des Marxismus in den queeren Theorien der frühen 1990er Jahre betrifft: Der Marxismus war für die meisten kritischen Unternehmungen zu jener Zeit, also dem vermeintlichen »Ende der Geschichte«, von marginaler Bedeutung, aber das änderte sich infolge der ökonomischen Krisen von 2007/8. Es gibt inzwischen einen wachsenden Korpus queerer marxistischer Forschung.

Ihr sprecht diesbezüglich von einem Bedeutungszugewinn materialistischer und marxistischer Ansätze in den Queer Studies. Wie äußert sich dieser?

Mike Laufenberg: Es handelt sich um eine wechselseitige Annäherung, denn der Marxismus öffnet sich zeitgleich auch stärker für queere Theorien. Die Weltwirtschaftskrise von 2007/8 hat das noch verstärkt, indem Auswirkungen von Armut, Prekarität, Schulden und Austerität auf queeres Leben mehr ins Zentrum der Queer Studies rückten. Das ist nicht ganz neu, denn in der Queer-of-Color-Kritik waren diese Themen schon seit den 1990er Jahren zentral. Neu ist, dass sich Leute heute vermehrt einem explizit queer-marxistischen Theorieprojekt verschreiben. Erfreulich ist, dass sie hierbei nicht hinter alte Kritiken an den Selbstbeschränkungen des Marxismus zurückfallen, sondern darauf aufbauen. Marxistische Begriffe von Klasse, Arbeit und Totalität werden zum Beispiel mit Performativitätstheorien zusammengebracht, um die Verdinglichung von Begehren zu denken und geschlechtliche Identifizierungen zu historisieren. Die neue queere Lust auf Marxismus rührt auch daher, dass er Perspektiven für einen radikalen gesellschaftlichen Wandel eröffnet, der das Leiden am Normalzustand aufzuheben verspricht. In dieser Hinsicht überzeugte der Poststrukturalismus rückblickend so wenig wie liberale Inklusionspolitiken. Linkskommunistische Autor*innen wie Monique Wittig oder Mario Mieli, die in der Queer Theory aktuell wiederentdeckt werden, waren schon früh davon überzeugt, dass Homo- und Transfeindlichkeit nicht überwunden werden kann, ohne den Kapitalismus zu überwinden. Diesen Zusammenhang zu ergründen, ist ein zentrales Anliegen des queeren Marxismus.

Linkskommunistische Autor*innen wie Monique Wittig oder Mario Mieli waren schon früh davon überzeugt, dass Homo- und Transfeindlichkeit nicht überwunden werden kann, ohne den Kapitalismus zu überwinden.

Mike Laufenberg

Könnt ihr – vielleicht anhand eines der Texte aus dem Reader – illustrieren, was marxistische Ansätze in den Queer Studies erklären helfen können? 

Ben Trott: Petrus Lius Arbeit zeigt, was ein queerer Marxismus kann. Aber er zeigt auch den Bedarf an globaleren, weniger US-zentrischen Queer Studies. Diese haben in den letzten Jahren ihre Kritik auf die Entpolitisierung queerer Kultur inmitten neoliberaler Globalisierungsprozesse fokussiert. Liu stellt die Idee infrage, derzufolge das Aufkommen queerer Identitäten in China ein Symptom der postsozialistischen neoliberalen Wende sei, was implizieren würde, dass ein dissidenter und kritischer Marxismus gänzlich abwesend in der gegenwärtigen queeren chinesischen Kultur ist. Er veranschaulicht, wie queere Kulturproduzent*innen in der Volksrepublik China und der Republik China auf Taiwan Fragen zu Geschlecht und Sexualität mit marxistischen Ideen verschmolzen und so eine queer-marxistische Philosophie der gesellschaftlichen Totalität geschaffen haben. Diese umfasst eine Theorie der Entfremdung, eine historisch-materialistische Analyse dessen, wie ungleicher Zugang zu Ressourcen produziert wird sowie eine überzeugende Kritik liberaler Rechte. Während ein liberaler Pluralismus formale Gleichstellung – also gleiche Rechte für Frauen, LGBT-Menschen und so weiter – verspricht, geht es einem queer-marxistischen Bekenntnis zu substanzieller Freiheit auch um eine Befreiung von den normativen Kategorien von geschlechtlicher und sexueller Identität, die der liberale Pluralismus als selbstverständlich ansieht.

Warum waren die von euch gesammelten Schlüsseltexte, wie etwa ein Teil aus Eve Kosofsky Sedgwicks »Epistemology of the Closet«, den ihr als einen Gründungstext der Queer Theory bezeichnet, eigentlich bis heute nicht ins Deutsche übertragen?

Mike Laufenberg: Die Queer Studies sind bei uns immer noch schwach institutionalisiert, so dass wenig Ressourcen für Übersetzungsprojekte zur Verfügung stehen. Es gibt aber auch fachkulturelle Hürden. Die Queer Theory ist bei uns vor allem in den Gender Studies beheimatet, während sie in den USA stärker aus den Gay and Lesbian Studies kommt. Eine vergleichbare Etablierung der Lesben- und Schwulenforschung gibt es im deutschsprachigen Raum nicht, sie führt eher ein Dasein am Rand. Die Nazis zerschlugen die progressive Sexualwissenschaft, die andernorts den Weg dafür ebnete. Queere Arbeiten stehen diesbezüglich zwischen den Stühlen: Sedgwick etwa ruft einen schwulen Kanon auf, der in den Gender Studies von eher randständigem Interesse ist, während sie für die schwul dominierte Homosexualitätsforschung zu geschlechtertheoretisch und poststrukturalistisch arbeitet, um anschlussfähig zu sein.   

Queer Studies und Queer Theory haben u.a. Wurzeln im radikalen Aktivismus; Forschung und Aktivismus waren nicht immer voneinander getrennt und das Verhältnis zueinander war mitunter angespannt. Wie ist das in der Gegenwart? 

Mike Laufenberg: Wir erleben aktuell eine gefährliche Konjunktur rechter Kulturkämpfe. In deren Windschatten kommt es zu einer neuen Welle von Aggressionen und brutalen Angriffen auf queere und trans Leben. Diese Enthemmungen zeugen von einer fortschreitenden Faschisierung in Teilen der Gesellschaft. Es heißt manchmal, die Queer Studies hätten sich von der Bewegungspolitik zu sehr entfernt. Vielleicht war das bisweilen so, aber es entspricht gegenwärtig nicht meiner Wahrnehmung. In der genannten Konjunktur scheint das Band von Wissenschaft und Aktivismus eher gestärkt zu werden. Die Faschist*innen unterscheiden nicht, ob wir Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen oder einfach nur Queers sind, wenn sie uns angreifen. Angesichts des Zustands der Linken neige ich gegenwärtig nicht zum Optimismus, aber die Verbindung von kritischer Analyse und politischer Organisierung zählt immer noch zu den besten Mitteln, die wir gegen den Aufstieg der Rechten in der Hand haben.   

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.

Mike Laufenberg & Ben Trott (Hg.): Queer Studies – Schüsseltexte. Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Zacharias Wackwitz. Suhrkamp, Berlin 2023. 576 Seiten, 28 EUR.

Das Gespräch ist die Langfassung eines Interviews, das zuerst im Missy Magazine (05/2023) erschienen ist.