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|ak 693 | Kultur

»Ich bin im Herzen eine Sozialistin«

Autorin Christa Kożik über die Hoffnungen auf einen reformierten Sozialismus, das Schreiben im Kapitalismus sowie Enttäuschungen nach der Wende

Interview: Nane Pleger

Aber auf jeden Fall konnte er es ahnen: dass die Wahrheit auf leisen Füßen oder Flügeln kommt und nicht auf lauten. Fast unmerklich.« Mit diesen Worten endet der Kinderroman »Kicki und der König«, der 1990 in der Zeit des Umbruchs der Wende auf dem sich neu ordnenden Literaturmarkt erschien. Geschrieben hat ihn die Schriftstellerin Christa Kożik, deren Name für eine Reihe von Filmen und Büchern steht, die in der DDR große Erfolge feierten. Was diese Wahrheit ist, die auf leisen Füßen und Flügeln kommt, ist Thema ihrer Bücher und Filme für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Christa, du hast ein beachtliches Werk an Texten und Filmen für Kinder und Jugendliche geschaffen. Was war deine Motivation, dich gerade an die jüngere Generation zu wenden?

Christa Kożik: Ich war ein Kriegskind, und wir hatten als Flüchtlingskinder keine Bücher. In der Dorfschule gab es einen Klassenraum für die erste bis achte Klasse mit einem großen, gelben Bücherschrank. Für mich war das der größte Schatz. Da hat sich für mich durch die Bücher das Fenster zur Welt geöffnet. Ich hatte schon als Kind den großen Wunsch, Bücher zu schreiben. Als Erwachsene blieb der Wunsch, sicher auch durch die eigenen Kinder. Dass man Kindern hilft, durch Bücher ihre Welt zu bereichern. Ich wollte Kindern mit meinen Büchern immer Hoffnung und Mut machen und ihnen helfen, leben zu lernen. 

Die Gruppe der Schrifsteller*innen war relativ groß im Vergleich zum Rest der Bevölkerung der DDR. Wie war es für dich, in diesem Gefüge Schriftstellerin zu sein? Hast du einen starken Konkurrenzdruck gefühlt?

Es war eher ein Miteinander als ein Gegeneinander. Weil der Topf groß genug war, sodass wir alle gefördert werden konnten. Ich war im Zirkel »Schreibender Arbeiter« und in der Gemeinschaft »Junger Autoren«, wo wir uns regelmäßig getroffen und gegenseitig unterstützt haben. 80 Prozent unserer Schriftsteller*innen in der DDR waren damals freischaffend und konnten von ihren Einnahmen leben. Es gab immer hohe Auflagen von bis zu 20.000 Exemplaren und man bekam das gesamte Geld beim Erscheinen des Buches. Die Bücher kosteten auch nur vier bis fünf DDR-Mark. Das Gefühl, das ich nach der Wende gespürt habe, dass das Schriftsteller-Sein ein ganz einsames und eisiges Geschäft ist, das kannte ich nicht aus der DDR. 

Die Filme und Bücher für Kinder aus der DDR haben in den 1990er Jahren das Stigma der Indoktrinierung bekommen – würdest du dem etwas entgegensetzen?

Es hat mich oft sehr wütend gemacht. Es stimmt nicht, dass wir Schriftsteller*innen parteiindoktriniert waren. Da werde ich immer vehement widersprechen. Wir hatten immer einen bestimmten Spiel- und Freiraum. Als zum Beispiel die Lektorin beim Manuskript des »Engels mit dem goldenen Schnurrbart« zögerte, habe ich gesagt »Ich entlaste Sie« und bin zum Verlagsdirektor Fred Rodrian gegangen: »Ich habe hier ein Manuskript. Die Lektorin hat Angst. Ich glaube aber, dass das Buch wichtig und nötig ist. Lesen Sie es doch bitte!« Er hat mich nach drei Tagen angerufen und gesagt: »Ich gebe grünes Licht. Wir werden Ärger mit der Volksbildung bekommen, aber das nehme ich auf mich.« Dann ging es an die Hauptverwaltung Verlage/Buchhandel, das war die Zensurstelle im Ministerium für Kultur, und da saß ein Doktor Richard Müller. Das war ein kluger, kultivierter Mann. Er erteilte die Druckgenehmigung innerhalb einer Woche und der »Engel« wurde in einer Auflage von 20.000 Exemplaren gedruckt. 

Christa Kożik

wurde am 1. Januar 1941 im niederschlesischen Liegnitz geboren, das sie im Februar 1945 mit Mutter und Schwester verlassen musste. Sie kam in ein kleines Dorf bei Jena in Thüringen, später nach Potsdam, wo sie noch immer wohnt. Nach einer Lehre zur kartographischen Zeichnerin war sie ab 1969 Assistentin im DEFA-Dokfilmstudio und studierte 1970 bis 1976 Dramaturgie an der Hochschule für Film und Fernsehen Babelsberg. 1977 bis 1978 schloss sich ein Studium am Literaturinstitut in Leipzig an.

Die Literaturwissenschaftlerin Karin Richter hat 2016 die Lage für die DDR-Kinderbuchautor*innen nach 1991 als problematisch, existenzbedrohlich beschrieben. Trifft das auch auf dich zu?

Voll und ganz. Wir waren entlassen, herabgewürdigt und gedemütigt. Die Verlage wurden abgewickelt. Die Bücher wurden zu Hunderttausenden auf den Müll geworfen, also wortwörtlich in Leipzig auf die Müllhalde, und dann vom Pfarrer Martin Westkott aus Niedersachsen gerettet und für die Aktion »Brot und die Welt« verkauft. Es war keine Qualitätsfrage, alle DDR-Bücher mussten weg.

Wie hat sich die Situation nach 1991 für dich konkret gestaltet?

Ich konnte mich eine ganze Weile retten mit Lesereisen. Ich hatte das Glück, dass ich von westdeutschen Bibliotheken und dem Friedrich-Bödecker-Lesekreis viele Einladungen erhielt. Ich bin durch das ganze Land und sogar bis in die Schweiz gereist. Aber ich war dann so viel unterwegs, dass ich zusammengebrochen bin. Trotzdem haben mir die Lesereisen erstmal sehr geholfen, dass ich nicht arbeitslos sein musste, denn ich war ja aus meiner Festanstellung im Filmstudio in Babelsberg entlassen. Meine Bücher hat dann der neu gegründete leiv-Verlag Leipzig aufgenommen, ein kleiner Kinderbuchverlag, dem ich heute noch dankbar bin.

Hattest du dann überhaupt noch Zeit und Kraft, um zu schreiben?

An Schreiben war gar nicht zu denken, weil der ganze Umsturz nach 1989 erstmal alle sehr verwirrt und entwurzelt hat. Worüber sollst du jetzt schreiben? Ich war nicht in der Verfassung, in meiner Art real-fantastisch zu schreiben, Kindern Mut zu machen, eine helle freundliche Welt zu zeigen, wo die Fantasie eine große Kraft ist. Die ganzen Ungerechtigkeiten, die nach dem Zusammenbruch kamen, haben mich aus der Bahn geworfen, und ich bin in der Nervenklinik gelandet. Das war nach zehn Jahren Wende. Ich bin eigentlich ein sehr zäher Mensch und nicht so leicht umzuhauen, aber das war einfach zu viel. Durch meinen Aufenthalt in der Nervenklinik konnte ich nachdenken und erkennen: Meine Zeit ist vorbei. Damit musste ich mich abfinden. Nur einen Film und zwei Bücher konnte ich noch veröffentlichen. Dem stehen über 70 Absagen von Verlagen und Filmproduktionen gegenüber.

Wie hast du es geschafft, nicht völlig aufzugeben?

Immer an Charly Marx denkend: Der Mensch soll heiter von seiner Vergangenheit Abschied nehmen. Ich habe dann aber noch viele Jahre gebraucht, um mich neu zu formieren für diese neue Zeit. Ich hatte das fatale Gefühl, die Kinder würden meine Geschichten nicht mehr verstehen. Die waren zu leise. Diese 90er Jahre waren hart. Ich habe oft in den Hotels abends nach den Lesungen geweint. Denn ich begriff, dass ich meine Kreativität, meine Leichtfüßigkeit, meine heiter-ironische Art verloren habe – und das kann ich auch jetzt noch sagen. 

Hat sich für dich die Funktion von Kunst im Kapitalismus verändert?

Es ist wie bei den alten Römer*innen: Brot und Spiele. Kunst ist nun als Ablenkung von der erbärmlichen Ungleichheit da, die es in der Gesellschaft gibt. Kunst ist von einer Oberflächlichkeit beherrscht, muss möglichst obszön und derb sein, damit sie die Aufmerksamkeit der Leute bekommt und die Sensationslust befriedigt. Sie soll den Menschen nicht zur Emanzipation verhelfen. 

Dein Roman »Kicki und der König«, der 1990 gedruckt wurde, liest sich wie eine Hoffnung auf einen reformierten Sozialismus. Was waren deine Vorstellungen in den letzten Jahren der DDR?

Ich gehörte zu den zahlreichen Naiven, die wirklich glaubten, es könnte eine reformierte DDR mit Demokratie, mit offenen Grenzen (lacht) und den gleichen ökonomischen Bedingungen geben. Diese kurze Zeit der Hoffnung auf einen reformierten Sozialismus war eine schöne Illusion – und endete schmerzlich. 

Wie hast du die Angliederung der DDR an die BRD erlebt?

Für mich ist ein Traum kaputt gegangen, denn ich bin im Herzen eine Sozialistin. Meine Eltern haben im Faschismus gelitten. Meine Mutter war ein Jahr im Frauengefängnis. Das vergesse ich nie. Außerdem war ich armer Leute Kind. Es war meine Hoffnung, dass man mit der DDR ein Land schafft, das allen Menschen eine Chance gibt. In dem Kinder jeder Herkunft gebildet werden können. Es war ein Weg zu einer gebildeten Nation. Das Volk war schließlich so sehr gebildet, dass es seine Regierung stürzte. Der Kapitalismus würde sich nicht auf diese Weise entmachten lassen.

Wie war für dich die Situation als Frau nach 1991?

Es war ein totaler Rückschritt. Als ich dann wegen Krankheit keine Lesereisen mehr machen konnte, habe ich Arbeitslosenhilfe beantragt. Ich bekam den Bescheid, dass ich keine Hilfe bekäme, weil mein Mann ja Geld verdiene. Das war für mich wie ein Schlag ins Gesicht: Mein Mann muss mich ernähren! Wir waren als Frauen im Sozialismus stolze Frauen. Wir wollten ja arbeiten und auf eigenen Füßen stehen. Ich habe immer Hilfsbereitschaft als studierende und arbeitende Mutter im Sozialismus erfahren. Ich weiß, dass es Andere anders erlebt haben, aber die müssen ihre Geschichte erzählen, das ist meine. 

Gibt es für dich denn eine wahre Geschichte der DDR?

In jedem Menschen steckt ein Teil der Wahrheit der Geschichte des Landes. Jeder wird seine eigene Wahrheit haben, und aus dieser Quintessenz der einzelnen Wahrheiten setzt sich die wahre Geschichte der DDR wie in einem Mosaik zusammen. 

Welches politische und gesellschaftliche System würdest du zukünftigen Schriftsteller*innen zum Schreiben wünschen?

Wenn man sich den Sozialismus wieder wünschen könnte… Ja, im Sozialismus hatte man das Gefühl, an Veränderungen und Verbesserungen des Lebens mithelfen zu können. Da war viel Demokratie. Der Kapitalismus ist eine eiskalte Geld- und Machtgesellschaft. Ich verachte ihn zutiefst. Ein unvollkommener Sozialismus ist mir lieber. Man hätte ihn verbessern können! Hoffnung sehe ich aber immer wieder in den Kindern und Jugendlichen, dass die Welt nochmal besser wird. 

Nane Pleger

ist Autorin und schreibt für ak meist über Bücher, deren Geschichten sie als Verhandlungsort von gesellschaftlichen Narrativen sieht.