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Zurück zum Beton

Anselm Jappe versucht sich an einer Geschichte des Baustoffs, die sich vor allem durch Technikfeindlichkeit auszeichnet

Von Thomas Waimer

Eine grüne Wiese, links daneben ein Baum. Eine braun-graue Betonsiedlung dahinter
Nicht schön, finden manche, aber Platz für Viele: Die Technologie half gegen die Wohnungsnot. Foto: Julián Varas / Wikimedia, CC BY-SA 3.0

In einem Jahr verschlingt die kapitalistische Bauwirtschaft genug Beton, um alle Hügel, Täler, Ecken und Winkel Englands zu überziehen. Beton, den es schon Jahrhunderte gibt, ist neben Wasser global die am häufigsten verwendete Substanz. Wäre die Zementindustrie ein Land, wäre sie nach China und den USA drittgrößter CO2-Emittent der Welt. Dieser Baustoff verkörpert, glaubt man dem deutsch-französischen Theoretiker Anselm Jappe, wie kein anderer die kapitalistische Logik. Das Gemisch aus Zement und Splitt stelle, aufgrund seiner bestimmten Eigenschaften, sogar die »konkrete Seite der Warenabstraktion dar«. Im Beton zeigt sich das Kapital in einem Stoff.

Doch es ist nicht der Beton, der dem Kapitalismus laut Jappe als Massenkonstruktionswaffe dient, sondern vielmehr der Stahlbeton. Er wurde nach dem Zweiten Weltkrieg massenhaft angewandt, ist wesentlich instabiler und schuf »die Schrecken der heutigen Architektur und der modernen Bauwerke«. Zwar geht Jappe in seinem 160-seitigen Büchlein kurz auf die stofflichen Probleme des Stahlbetons ein, vor allem auf das Problem der Korrosion des Stahls und die damit einhergehende verringerte Haltbarkeit zahlreicher Stahlbetonbauten. Doch sein Feind ist ein anderer: die moderne Bewegung bzw. die modernistische Architektur, die ab den 1920er Jahren Transparenz, Funktionalität und Massenhaftigkeit zu Prinzipien des Bauens erklärte und hierfür vor allem Stahl, Glas und Beton verwendete.

Wütende Architekturkritik

Diese Strömung, die u.a. mit Namen wie Le Corbusier, Mies van der Rohe und Hans Scharoun verbunden ist, sei laut Jappe für »die Auslöschung architektonischer Diversität« verantwortlich. Avantgardistischen Bewegungen wie den russischen Konstruktivist*innen wirft er die Erarbeitung einer einheitlichen industriellen Ästhetik vor, obwohl ihren Bauwerken die revolutionäre Euphorie nach 1917 anzusehen ist. Der Frankfurter Architekt und Siedlungsdezernent der 1920er Jahre, Ernst May, ist für ihn ein »Urheber einer wahren Orgie von Sozialbauten aus Beton und Ziegeln« und auch nur ein Gespräch über die Schönheit des architektonischen Brutalismus »überschreitet jede mögliche ästhetische Diskussion«.

Die Architektur der Moderne konnte sich in ihrem Ziel, günstigen und massenhaften Wohnraum zu schaffen, nicht auf das traditionelle Handwerk stützen.

Die Probleme, die die moderne Bewegung zu lösen beanspruchte und die zu einer Internationalisierung und Normierung der Architektur führen sollten, erwähnt Jappe mit keinem Wort. In der industriellen Fertigung von Gebäuden erblickt der Autor ausschließlich die Nivellierung von lokalen Unterschieden und in letzter Instanz die Materialisierung des Wertes. Doch Funktionalismus und Industrialismus in der Architektur waren zunächst ein notwendiger Bruch mit der Tradition, da sie den ersten Versuch darstellten, die Wohnungsfrage mit rationalen Mitteln zu lösen.

Die Architekt*innen und Baumeister*innen der Moderne konnten sich in ihrem Ziel, günstigen und massenhaften Wohnraum zu schaffen, nicht auf das traditionelle Handwerk stützen. Es bedurfte industrieller Produktion und billiger Baustoffe: eben Beton. Besagter May,  der zwischen 1925 und 1929 das Stadtplanungsprogramm Neues Frankfurt leitete, das in der Lage war, die akute Wohnungsnot zu beseitigen, konnte nur dank der neuen Verfahrensweisen ca. 12.000 neue Wohnungen bauen lassen. Die Umgestaltung der Mainmetropole wurde mithilfe vorgefertigter Bauteile und optimierter Grundrisse umgesetzt – für Jappe lediglich Betonorgien.

Maschinensturm auf dem Bau

Dem durchaus auch problematischen Funktionalismus, der die soziale durch eine technische Revolution ersetzte, und die Menschen oft in freudlosen Wohnmaschinen einsperrte, setzt Anselm Jappe lediglich die ortsgebundenen Architekturen traditioneller Gesellschaften entgegen: »Die Häuser, die aus den Steinen errichtet wurden, die sich in der Erde der Umgebung finden, erscheinen oft wie eine Ausformung dieser Erde, ein spontaner Auswuchs, eine natürliche Entwicklung, eine Blume, die hier wächst.« In den Bauten traditioneller Gesellschaften »hausen die Geister der Vergangenheit« und nicht die Fachleute und Wissenschaftler*innen der Gegenwart. Die Befreiung der Architektur vom Beton und seinen Spezialist*innen soll bei Jappe durch die Handwerker*innen getragen werden, die Hand- und Kopfarbeit in sich vereinen.

Diese Fortschrittsfeindlichkeit ist kein Zufall, sondern in der wertkritischen Weltanschauung des Autoren begründet. Jene Lesart des Marxismus, die in den 1980er Jahren als Reaktion auf den sich abzeichnenden Zusammenbruch der Arbeiter*innenbewegung entstand, versteht sich als »klassenloser Marxismus«. Die Geschichte der Klassenkämpfe begreift sie lediglich als »tautologische Beziehung der abstrakten Arbeit auf sich selbst«.

Die Mannigfaltigkeit der architektonischen Moderne, die in der Zwischen- und Nachkriegszeit zu großen Teilen ein sozialdemokratisches und realsozialistisches Projekt war, reduziert sich unter dem Blick des Werttheoretikers auf ein Gespräch des Kapitalismus mit sich selbst. Gleiches gilt für industrielle Produktion und ihre Technik. Diese sind laut Jappe »weit davon entfernt, für den Aufbau einer befreiten Gesellschaft eingesetzt zu werden«. Statt zu fragen, wie sich industrielle Produktion vermenschlichen und nachhaltig gestalten ließe, werden wir wieder zu lokal bornierten, aber unentfremdeten Handwerker*innen. Der Abschied vom Proletariat, immerhin das veranschaulicht Jappes Buch, ist nichts anderes als ein Abschied von der Zukunft. 

Thomas Waimer

lebt in Berlin und ist Redakteur des Onlinemagazins Communaut.

Anselm Jappe: Beton. Massenkonstruktionswaffe des Kapitalismus. Mandelbaum, Wien 2023. 160 Seiten, 20 EUR.