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Abspann und Utopie

Gunnar Deckers Buch »Zwischen den Zeiten« über die späte DDR ist mehr als eine weitere Schrift über ein Land, das es nicht mehr gibt

Von Marcel Hartwig

Die DDR. Ein abgeschlossenes, historisiertes Sammelgebiet. In den vergangenen 30 Jahren gab es kaum einen Aspekt der DDR, der nicht wissenschaftlich und publizistisch vermessen und analysiert wurde. Die zuletzt erschienene dreibändige »Kulturgeschichte der DDR« von Gerd Dietrich ist ein großer Wurf, dessen Materialfülle die Lesenden auf eine Art auch überfordert. Einen anderen Weg hat der Philosoph und Kulturjournalist Gunnar Decker gewählt. Er nimmt die Zeitspanne zwischen 1976, dem Jahr der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann, und 1989, um einen ausführlichen Abspann auf die kulturelle, ästhetische und gesellschaftliche Existenz der DDR, ihre Debatten, Widersprüche und Abgründe zu schreiben.

In gewisser Weise setzt Decker mit seinem neuen Buch fort, womit er in dem Band »1965. Der kurze Sommer der DDR« begonnen hatte: zu zeigen, dass es in der DDR vielstimmige Entwürfe einer sozialistischen Praxis gab, die nicht allein deshalb, weil sie nicht zum Zuge kamen, diskreditiert sind.

Kulturelle Kontroversen

Im Mittelpunkt stehen die bleiernen 1980er Jahre, in denen sich in der DDR-Gesellschaft scheinbar nichts bewegte und die doch den Umbruch des Jahres 1989 vorbereiteten. Decker erzählt die Geschichte der späten DDR entlang jener Bücher, Filme und kulturellen Kontroversen, die sie auslösten, weil sie Fragen und Themen aufgegriffen, die im realen Sozialismus zugleich tabu waren und der Zeit den Puls fühlten.

Deckers Ansatz, die Geschichte der späten DDR über ihre Ausdrucksformen vornehmlich in der Kultur zu betrachten, trägt dem Umstand Rechnung, dass gesellschaftliche Konflikte zwischen dem ideologischen Anspruch des Staates und den Handlungsräumen des Individuums im realen Sozialismus öffentlich nur vermittels der Kulturproduktion in Literatur, Theater und Film darstellbar waren. Eine tagesaktuelle, offen kontroverse Öffentlichkeit gab es nicht, was zentral zur Lähmung der Gesellschaft in den 1980er Jahren beitrug.

Deckers Zeitreise durch kulturelle Arenen des Landes zwischen Ostsee und Erzgebirge erinnert an Nischen und die Diversität, in denen sich das kulturelle Leben abspielte. So findet sich im Buch eine Zusammenschau dessen, was in zu vielen wissenschaftlichen Werken zur Spät-DDR ohne Bezug zueinander thematisiert wird, die Punk- und Underground-Szene ebenso wie der letzte Film des Regisseurs Konrad Wolf, »Solo Sunny«, als Ausdruck spezifischer Lebensentwürfe, Praxen und Sehnsüchte im Horizont einer Gesellschaft mit dem Anspruch, Sozialismus zu sein.

Dies verdeutlicht er sehr eindringlich am Beispiel des Films »Gundermann« von Andreas Dresen, der sich herausnimmt, seinen Protagonisten, den DDR- Liedermacher Gerhard Gundermann, mit der moralischen Elle der Ideale des Sozialismus zu messen und nicht mit jener des schließlichen »Rechtbehaltenhabens« der bundesrepublikanischen Geschichtspolitik. Immer wieder kommt der Verfasser auf den katalytischen Faktor Gorbatschow zurück, dessen Politik der Öffnung die Verhältnisse in ganz Osteuropa umkrempelte. Dass die tragische Ambivalenz des Wirkens Gorbatschows dabei ohne Erörterung bleibt, ist eine Leerstelle des Buches.

Brauchbar und tragfähig

Decker lotet sie aus, die Fallhöhe zwischen Utopie und Alltag in der DDR, macht aber auch jene Denkräume sichtbar, die heute, in einer scheinbar alternativlosen Warengesellschaft, wirken wie verschüttete Kellerräume, in denen sich vergrabene Botschaften finden lassen. Sicher, nicht jede Episode, nicht jede kulturelle Referenz, die Decker aufgreift, ist es wert, aufbewahrt zu werden. Doch zu diesem Buch sollte greifen, wer sich für eine differenzierte Binnensicht des kulturellen Lebens der DDR und seiner ungenutzten Potenziale interessiert, statt all die Bücher zu lesen, die die Geschichte des realen Sozialismus im Osten nur als die einer durchherrschten Gesellschaft erzählen. Deckers Buch bietet Zugang zu einem kulturellen Kosmos, dessen Sterne erloschen und vergessen scheinen.

In der Tat: So einige Konflikte und Debatten um Kunst und Kultur in der DDR erschließen sich den heutigen Lesenden ohne historisches Kontextwissen nicht, und es stellt sich die berechtigte Frage der Relevanz für gegenwärtige Debatten. Doch wer gesellschaftlich solidarische Perspektiven sucht, wird in der einen oder anderen Weise auf das nicht einfache kulturelle Erbe der DDR stoßen – und sehen, was davon brauchbar und tragfähig ist.

Marcel Hartwig

lebt in Leipzig und Halle. Er ist in der Jugendarbeit tätig.

Gunnar Decker: Zwischen den Zeiten. Die späten Jahre der DDR. Aufbau Verlag, Berlin 2020. 432 Seiten, 28 EUR.