analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 715 | International

»Wir wollen, dass Nicaragua blüht«

Drei Aktivistinnen erzählen im Interview, wie sich der Widerstand gegen die Ortegas seit dem Aufstand von 2018 formiert

Interview: Julia Manek

Bild einer Demonstration. Im Mittelpunkt zwei Protestierende, eine hält ein Trauerplakat mit einem Text und dem Bild eines jungen Mannes mit Brille
Demonstrant*innen erinnern an den 2018 von Paramilitärs erschossenen 15-jährigen Alvaro Conrado. Foto: Jorge Mejía peralta / Flickr , CC BY 2.0

Im Ortega-Regime ist offener Widerstand kaum möglich. Mit psychosozialer Arbeit im Untergrund möchte ein feministisches Kollektiv den Widerstand aufrecht erhalten und den Opfern der Repression beistehen. Die Aktivistinnen wollen unerkannt bleiben und nennen sich deshalb nach einem Symbol des Widerstands, den Margaritas, Gänseblümchen. Zur besseren Unterscheidung in blau, gelb und lila.

In Ländern, in denen der Autoritarismus zunimmt, denken sich viele vorher schon: »Da braut sich was zusammen.« Wenn ihr zurückblickt: Gab es ein ähnliches Gefühl, als sich Nicaragua in Richtung Diktatur entwickelt hat?

Margarita Azul: Ich erinnere mich, dass es eine große Unzufriedenheit und Enttäuschung über die ehemalige Revolutionsbewegung der »Frente«, also der Frente Sandinista de Liberación Nacional, gab. Es war offensichtlich, dass es bei den Wahlen Betrug gegeben hatte. Es war klar, dass eifrig an der Stilisierung Ortegas zum größten Revolutionsführer gearbeitet wurde.

Margarita Amarilla: Bevor Ortega 2007 wieder die Wahlen gewann, hatten wir eine neoliberale Regierung. Die hat viele Privatisierungen durchgesetzt, Reichtum zentralisiert und zur Vergrößerung sozialer Ungleichheit beigetragen. Gleichzeitig gab es bereits viel Kritik an der Frente. Es war also eine Wahl zwischen den »Schlechten« und den »weniger Schlechten«. Deshalb entbehrt der Diskurs, es handle sich beim Eintritt in die Diktatur um einen Staatsstreich, jeder Grundlage. Vielmehr war es eine Transition.

Margarita Morada: Parallel gab es eine große Müdigkeit in der Bevölkerung. Niemand wollte mehr so richtig auf die Barrikaden gehen. Wir haben oft den Kopf geschüttelt, weil es schien, dass die jungen Leute apathisch seien, nichts von der Politik wissen und vor allem arbeiten wollten. Dass 2018 die Proteste gegen die korrupte Ortega-Regierung und deren Rentenreform dann gerade von jungen Menschen getragen wurden, war eine große Überraschung. Die Empörung über das Massaker an den jungen Protestierenden versetzte das ganze Land in Aufruhr.  

Auch die Gründung eures Kollektivs geht auf die Proteste 2018 zurück. Was war für euch ausschlaggebend?

Margarita Morada: Im Frühjahr 2018 besetzten Studierende in Managua ihren Campus. Sie wurden von der nationalen Polizei und paramilitärischen Gangs mit brutaler Gewalt verfolgt, viele wurden verletzt, manche sogar von Scharfschützen erschossen. Das löste eine Welle von Protesten aus, die das ganze Land erfasste. Gleichzeitig versuchte das Regime, den wachsenden Protest mit brutaler Repression niederzuschlagen. Letztlich wurden über 320 Menschen getötet.

Für uns war klar, dass wir in einer solchen Situation nicht unbeteiligt an der Seite stehen können. In Nicaragua setzt sich unsere Generation mehrheitlich aus Töchtern und Enkelinnen von Menschen zusammen, die schon damals gegen die Somoza-Diktatur Widerstand geleistet haben. Dieses Erbe wurde in gewisser Weise reaktiviert.

Margarita Azul: Wir sind ein Netzwerk von psychosozialen Arbeiter*innen und wir sind alle politische Subjekte. Also haben wir uns gefragt, was wir aus dieser Perspektive beitragen können. Daraus ist die Arbeit mit den von der Repression betroffenen Menschen und die psychosoziale Begleitung ihrer Familien entstanden – alles im Verborgenen. Für uns war das ein Akt der Solidarität und des politischen Widerstands.

Hat euch das Wissen aus den früheren revolutionären Bewegungen geholfen?

Margarita Amarilla: Uns muss klar sein, dass die Diktatur uns vernichten will – als Bewegung, als Dissident*innen und als Menschen. Es geht um Kontrolle und absoluten Gehorsam. Wir aber sind nicht bequem. Bestärkt fühlen wir uns in der Aufrechterhaltung des Widerstands durch die Erzählungen älterer Genoss*innen aus der Zeit des bewaffneten Widerstands der 1970er und 1980er Jahre. Natürlich handelt es sich um unterschiedliche Kontexte. Damals war vor allem die politische Überzeugung im Kampf für eine befreite Gesellschaft stärker als alles andere. Das Wissen darum hat uns in Momenten geholfen, in denen uns sonst die Angst gelähmt hätte. Auch wenn wir Angst haben, treiben uns Wut, Empörung und Überzeugung an.

Margarita Morada: Wir sind eine Bevölkerung, die immer für die eigene Autonomie gekämpft hat. Dieses Mal aber ist niemand bewaffnet. Der Kampf für Demokratie und Freiheit ist deshalb langsamer. Gleichzeitig werden kritische Lehren aus der Zeit des bewaffneten Kampfes gezogen.

Was wollt ihr ändern?

Margarita Morada: In der sandinistischen Revolution war der Schrei »¡Patria libre o morir!« (»Freies Land oder Sterben«) der zentrale Schlachtruf. Jetzt rufen wir »¡Patria libre y vivir!« (»Freies Land und Leben«) Soll heißen: Lasst uns das machen, in dem wir nicht das eigene Leben aufs Spiel setzen. Vor diesem Hintergrund sehen wir eine Notwendigkeit, die Widerstandsformen und -methoden zu verändern. Wir ignorieren unsere Verletzlichkeit nicht. Wir sind nicht allein und lassen niemand alleine, sondern kümmern uns um unsere sozialen Beziehungen und Netzwerke.

Ist nicht gerade die Gefahr, dass diese sozialen Gefüge zerrissen werden, größer, je stärker die Repression ist?

Margarita Azul: Bewegungen zu spalten, ist ein gezielter Angriff, der zu oft gelingt. In unserem eigenen Netzwerk ist es gelungen, uns dieser Logik zu entziehen und uns nicht kleinmachen zu lassen. Als Teil der feministischen Bewegung sind wir füreinander da und unterstützen uns. Wenn sie eine Person angreifen, dann greifen sie wirklich alle an. Und diese Empörung wiederum gibt uns Kraft.

Margarita Amarilla: Ich kenne kaum jemanden, der nicht außer sich gewesen ist über den Tod von Álvaro Conrado, einem 15-jährigen Jungen, den Paramilitärs am 20. April 2018 erschossen, weil er Wasser an die Protestierenden verteilte. Oder der Tag, an dem sie die Studierenden töteten, die sich in eine Kirche geflüchtet hatten. Die hatten nicht einmal Steine, um sich zu verteidigen. Am Gedenkmarsch der Mütter für die Getöteten beteiligten sich dann Hunderttausende. Und selbst an diesem Tag haben sie Mütter ermordet und Studierende getötet. Ich weiß wirklich nicht, wer da noch an sich halten konnte. Die Gewalt hat uns nicht gelähmt, im Gegenteil, wir haben uns gegen sie organisiert.

Habt ihr denn gar keine Angst?

Margarita Amarilla: Natürlich haben wir alle Angst. Die größte Angst aber ist die, was sie deiner Familie, deinen Freund*innen antun können. Denn auf die Massenproteste folgten die massiven Inhaftierungen, die Überwachung und die Flucht ins Exil. Die Repression ist darauf ausgelegt, die Bevölkerung zu terrorisieren. Denn auf die Massenproteste folgten Überwachung, massive Inhaftierungen, Fluchtbewegungen. (ak 710) Und sie haben Erfolg, das ist das Schlimmste. Offener Widerstand ist in Nicaragua deswegen quasi unmöglich.

Margarita Azul: Die Repression hat tief sitzende Ängste aus den 1980er Jahren geweckt. Die Schüsse auf Demonstrant*innen haben bei einigen Menschen das Gefühl des Krieges zurückgeholt, und sie begannen, am ganzen Körper zu zittern. Uns hat das betroffen gemacht, als die Leute uns von den Bildern zerstörter Körper erzählten, die sie noch aus der Zeit des bewaffneten Kampfes kannten. Auch deswegen ist unsere psychosoziale Arbeit so wichtig.

Nicht die Reaktionen der Leute sind »abnormal«, sondern der Kontext, der sie auslöst. All diese Unterdrückung, all diese Gewalt.

Margarita Azul

Wie seid ihr damit umgegangen?

Margarita Azul: Wir haben in Gesprächen versucht zu verdeutlichen, dass die Gefühle, die die Menschen haben, normal sind. Nicht die Reaktionen der Leute sind »abnormal«, sondern der Kontext, der sie auslöst. All diese Unterdrückung, all diese Gewalt.  

Das muss auch sehr intensiv sein für euch.

Margarita Azul: Ja, natürlich. Das Gute ist, dass wir den Schmerz und die Geschichten teilen. Das Kollektiv ermöglicht es uns, innezuhalten und weiterzuarbeiten. Wenn man von Repression und Stress überwältigt ist, kann man schon mal verzweifeln. Als wir anfingen mit der psychosozialen Begleitung, waren wir so wütend, dass wir nicht mehr ausgingen, weder um Geburtstage zu feiern, noch um irgendetwas anderes Schönes zu unternehmen. Aber es ist gefährlich, so einen Zustand zu normalisieren. Wir haben uns gesagt: »Um weiterzumachen, müssen wir uns treffen. Wir müssen lachen, feiern und auf eine andere Art und Weise leben, gerade, um weitermachen zu können.«

Margarita Morada: Was wir wollen, ist eine Veränderung für die nächsten Generationen, auch wenn das im Moment noch in weiter Ferne scheint. Wir haben viel gelernt. Auf eine sehr harte Art und Weise. Vor allem haben wir gelernt, dass wir keine Held*innen mehr wollen, sondern mehr Margaritas.

Mehr Gänseblümchen?

Margarita Morada: Wir wollen, dass Nicaragua blüht. Und dass die Gänseblümchen wie ein Blumenteppich wachsen, der die Grenzzäune zwischen Exil und Nicaragua überwuchert. Die Gänseblümchen sind mächtig. Im Jahr 2021 wurden mehrere sehr wichtige Oppositionelle inhaftiert, unter ihnen auch die Menschenrechtsaktivistin und Politikerin Ana Margarita Vijil. Nach ihrer Verhaftung wussten wir nichts mehr über ihren Aufenthaltsort. Um ein Lebenszeichen von Margarita zu fordern, haben wir alle ein Foto oder eine Zeichnung eines Gänseblümchens in den sozialen Netzwerken gepostet und an öffentlichen Plätzen aufgehängt.

Margarita Amarilla: Das war ein Zeichen der Solidarität mit Margaritas Familie. Aber Margarita hätte auch jede von uns sein können. Margarita war und ist eine Frau, die wie viele Frauen in Nicaragua Kritik geäußert und Widerstand geleistet hat gegen die Diktatur. Wir waren alle Margarita. Wir sind alle Margaritas.

Julia Manek

ist Psychologin und Humangeografin und arbeitet als Referentin für psychosoziale Arbeit bei medico international. Dort gewinnt sie transnationale Einsichten in die emotionalen Folgen globaler Krisen und autoritärer Tendenzen, die u.a. auf dem medico-Blog nachzulesen sind.

Anmerkung

Das Interview erschien ursprünglich in voller Länge im Blog der Menschenrechtsorganisation medico international. Es ist abrufbar unter www.medico.de.