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Die Gaspreisrevolte

Warum und wie es in Kasachstan zu einem landesweiten Aufstand kam

Von Anastasia Tikhomirova

verwackelte Nachtaufnahme einer Straße, die man in einiger Entfernung von oben sieht, eine Menschengruppe umringt mehrere Autos
Am Abend des 4. Januar erreichten die Proteste Almaty. Screenshot aus einem Twitter Video, Menschen zeigt, die wegfahrende gepanzerte Fahrzeuge verfolgen.

Was am 2. Januar 2022 als friedlicher Protest gegen die Erhöhung der Gaspreise begann, breitete sich innerhalb weniger Stunden im gesamten Land aus. Angeführt wurden die ersten Kundgebungen von mit Streik drohenden Öl- und Industriearbeiter*innen, LkW-Fahrern und ihren Anhänger*innen im westkasachischen Mangystau, einem wichtigen Fördergebiet für Öl und Gas. Am 5. Januar demonstrierten die Menschen schließlich auf den Plätzen aller größeren kasachischen Städte, einschließlich Nur-Sultan und Almaty, das zum Zentrum des Aufstands wurde und die größten Massenproteste seit 35 Jahren erlebte. Wirtschaftliche Forderungen nach einer Senkung der Gaspreise wurden durch politische Forderungen ergänzt. Neben bezahlbarem Gas forderten die Demonstrant*innen nun auch »politische Reformen« und eine »parlamentarische Republik« sowie die Rückkehr zur bürgerlich-demokratischen Verfassung von 1993. Außerdem verlangten sie den Rücktritt der Regierung, des Präsidenten Qassym-Schomart Tokajew und den vollständigen Rückzug des ersten Präsidenten Nursultan Nasarbajew aus der Politik.

Postsowjetische Misere

Nasarbajew, der zu Sowjetzeiten die Kommunistische Partei Kasachstans führte und dann Präsident der Republik Kasachstan wurde, schied 2019 aus dem Amt aus, blieb aber an den Schalthebeln der Macht. Obwohl Tokajew ihm auf das Präsidentenamt folgte, blieb Nasarbajew Vorsitzender des Sicherheitsrates und Großaktionär in mehreren Öl- und Gasunternehmen. In den meisten der wichtigsten staatlichen Ämter hat er noch immer treu ergebene Mitarbeiter*innen. Tokajew selbst hatte als höriger Bürokrat mit wenig Charisma bisher keinen tatsächlichen Machtanspruch und stellte keine Gefahr für den kleptokratischen Diktator dar, der weiterhin die Kontrolle über das neuntgrößte Land der Erde ausübte. Jetzt scheint sich das Blatt jedoch zu wenden, und die Zeichen deuten auf eine Spaltung der Eliten hin: Tokajew entließ Nasarbajew aus dem Sicherheitsapparat, dessen Amt er nun selbst innehat. Außerdem übte er scharfe Kritik an Nasarbajew, indem er ihn beschuldigte, das Entstehen einer reichen Elite im Land begünstigt zu haben. Dieser trat seit Beginn der Proteste selbst nicht öffentlich auf. Sein Verbleib ist ungewiss.

Am 3. Januar twitterte Tokajew zur Beschwichtigung der Bevölkerung eine vage Botschaft, in der er versprach, »die Situation unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Machbarkeit zu überprüfen«. Prompt wurde eine Sonderkommission zur Preisregulierung eingesetzt, und die Tankstellen senkten den Benzinpreis von 120 Tenge (ungefähr 0,24 Euro) auf 85–90 Tenge pro Liter. Außerdem trat die alte Regierung geschlossen zurück. Die Behörden reagierten jedoch auch mit der Entsendung zusätzlicher Polizei- und Spezialeinheiten zur Unterdrückung der Proteste. In vielen Städten der Region Mangystau waren Kolonnen von Militärfahrzeugen zu sehen. In einigen Städten wurden zentrale Stadtteile blockiert und der Internetzugang abgeschnitten. In Nur-Sultan, Almaty und Atyrau kam es zu Verhaftungen, während die Polizei in der Großstadt Shymkent die Wohnungen einiger Aktivist*innen abriegelte, um sie daran zu hindern, zur Kundgebung zu gehen.

Trotz der  Versuche des Präsidenten, die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen, dauerten die Proteste zunächst an und traten mancherorts in eine neue, radikalere Phase ein. Obwohl der Aufstand spontan und ohne große Politiker*innen und Parteien begann, fiel er nicht vom Himmel. Denn die Spannungen, die sich dort entluden, hatten sich bereits seit Jahren aufgebaut, die Pandemie eskalierte sie lediglich. Sie speisen sich aus der grassierenden, unter anderem durch die Inflation der vergangenen Jahre bedingten, Armut und sozialen Ungleichheit sowie einer tiefen Unzufriedenheit der Menschen mit dem autoritären, kapitalistischen und bürokratischen System des postsowjetischen Landes.

Obwohl der Aufstand spontan und ohne große Politiker*innen und Parteien begann, fiel er nicht vom Himmel.

Militante Mittel

Am 5. Januar begann sich der Kontrollverlust der kasachischen Führungsspitze allmählich abzuzeichnen. Nachdem sich der friedliche Weg vielerorts als unwirksam erwiesen hatte, gingen einige Protestierende in Almaty zu direkten Aktionen über. Sie besetzten Regierungsgebäude, Polizeistationen und sogar das Gebäude des Nationalen Sicherheitskomitees. Die Aufständischen blockierten die wichtigsten Eisenbahnlinien, um das Eintreffen von Polizei und Militär zu verhindern. In der Stadt Taldykorgan stürzte eine Menschenmenge eine Statue des verhassten ehemaligen Präsidenten Nasarbajew. In Almaty, der größten Stadt des Landes, wurde das Büro des Bürgermeisters gestürmt und in Brand gesteckt, wenig später auch das nationale Parlamentsgebäude und das Gebäude der regierenden Nur Otan-Partei. Mehrere Dutzend Demonstrant*innen besetzten den internationalen Flughafen der Stadt, der gerade von den Truppen, die ihn bewachten, verlassen worden war. Etliche Polizeiautos brannten, einige Demonstrant*innen bewaffneten sich mit Schusswaffen, die sie Sicherheitsbeamten abgenommen hatten. Am Abend wurden die ersten Todesopfer der Zusammenstöße gemeldet.

In  der Hafenstadt Atyrau und der Provinz Mangystau hingegen schloss sich die Polizei den Protesten an. Außerdem wurden von überallher Videos in den sozialen Medien hochgeladen, auf denen Soldat*innen zu sehen sind, die sich mit Demonstrant*innen verbrüdern oder ihre Waffen niederlegen, während sie von einer jubelnden Menschenmenge umringt werden. Eingeschüchtert von solchen Szenen, dauerte es nicht lange, bis das Regime ankündigte, eine »Anti-Terror-Operation« einzuleiten.  Präsident Tokajew denunzierte nun die Protestierenden als »Terroristen«, »Plünderer«, »Rebellen«, »kriminelle Banden«, »Islamisten« und natürlich als »ausländische Agenten«, welche Almaty belagern würden und »mindestens sechs Wellen von Terroranschlägen« verübten hätten. 20.000 Menschen sollen an diesen »Terrorakten« beteiligt gewesen sein. Dieses Narrativ wurde rasch von kasachischen und russischen Staatsmedien übernommen, die immer wieder über Plünderungen und den Tod von dreizehn Polizisten berichteten, von denen zwei enthauptet worden sein sollen. »Die Banditen und Terroristen sind sehr gut ausgebildet, organisiert und stehen unter dem Kommando eines speziellen Zentrums. Einige von ihnen sprachen eine andere Sprache als Kasachisch«, hieß es in einem von Tokajews Tweets, der kurz darauf einen Schießbefehl gegen Aufständische erließ.

Die Taktik, Proteste als terroristisch zu delegitimieren, sobald Gewalt von Seiten der Protestierenden zur Anwendung kommt, ist nicht neu – und keine kasachische Spezialität. Bereits bei Black Lives Matter in den USA wurde sowohl von Seiten der Regierung als auch von bürgerlichen Stimmen versucht, alle Protestierenden zu Plünderer*innen und Terrorist*innen zu erklären und ihre Militanz zu verurteilen. Das Gleiche passierte nun auch in Kasachstan. Dies ist zum einen Kalkül, um mögliche Symphatisant*innen der Revolution abzuschrecken und weiterhin die Erzählung von den gut organisierten Terrorist*innen zu nähren. Auch die Mär von Plünderungen ist ein abgedroschenes Propaganda-Klischee, das dazu dient, Ablehnung in der Bevölkerung hervorzurufen.

Zum anderen macht sich eine bürgerliche Gewaltphobie in den Diskussionen rund um Kasachstan breit. Die Reaktion, außerordentliche Gewalt reflexartig abzulehnen, ist zunächst  normal und resultiert aus einem menschlichen Sicherheitsbedürfnis. Dass viele danach jedoch nicht mehr den Schritt von Missbilligung der Gewalt zur Frage nach ihren Ursachen  vollziehen, offenbart ein realitätsfernes Verständnis der kasachischen Gesellschaft und des dortigen politischen Systems. Die Gewalt, die die Menschen auch vor den Protesten tagtäglich umgab – ökonomische sowie repressive, staatliche Gewalt –, wird von Kritiker*innen der Gewalt gegen Polizei und Militär nicht wahrgenommen. Wie in so vielen liberalen Weltbildern, wurden auch in Kasachstan Staat und Demonstrant*innen als vermeintlich ebenbürtige Gegner gleichgesetzt. Dass die Protestierenden jedoch Wehrhaftigkeit gegen Tokajews Staatsterrorismus bewiesen und ihre Gewalt überwiegend eine Reaktion auf die Gewalt der Sicherheitskräfte war, wurde unterschlagen. Auch vergessen diese Kritiker*innen, dass ein Systemwechsel  hart erkämpft werden muss, vor allem in postsowjetischen Staaten mit autoritärem Erbe, wo Dialog und friedliche Proteste erfahrungsgemäß schnell unterdrückt werden.

Internationale Unterstützung

Tatsächlich tauchten jedoch auch einige Berichte von sogenannten Agents Provocateurs auf, die scheinbar nach dem Ende der Proteste damit begonnen haben sollen, wahllos Geschäfte zu marodieren, während die Polizei aus dem Gebiet abgezogen wurde. Diese Taktik ist schon oft angewandt worden, sei es bei der Farbrevolution in Kirgistan, den Maidan Protesten 2014 in der Ukraine oder den Demonstrationen in Belarus 2020. Die von Provokateuren ausgeübte Gewalt wird dann zur Rechtfertigung für Angriffe auf Demonstrierende benutzt.

Jedoch erwies sich der Machtblock in Kasachstan als unterentwickelt und zu schlecht organisiert, um eine groß angelegte Niederschlagung eines Aufstands im ganzen Land auszuführen. Das räumte Tokajew ein, indem er das östliche Sicherheitsbündnis OVKS, bestehend aus den Ländern Russland, Belarus, Armenien, Kirgistan und Tadschikistan, schließlich um Unterstützung bat. Mit diesem Schritt erklärte er sich bereit, die sonst immer gern hochgehaltene Souveränität Kasachstans zu opfern und  damit die eigene Bevölkerung zur größten Bedrohung des Staates. In seiner Verunsicherung war er nicht einmal in der Lage, einen Reformvorschlag zu formulieren, der die Demonstrierenden spalten könnte, um die Gemäßigten von den Radikalen zu trennen. Im Gegenteil, durch seine panisch-aggressiven Aktionen festigte er den Protest.

Die Proteste waren eine Revolution von unten und maßgeblich von Arbeiter*innen ohne politische Repräsentation initiiert.

Die militärische Intervention in Kasachstan lässt sich auch als Akt der Verzweiflung der herrschenden Kreise in den Ländern werten, in denen sich ähnliche Probleme und Konflikte angehäuft haben. Die Machthabenden versuchen die Revolution in einem frühen Stadium zu unterdrücken, bevor der Funke auf die Nachbarländer überspringen kann und  dort neue Protestbewegungen entstehen.

Die Proteste in Kasachstan waren sehr heterogen. An ihnen nahmen junge Arbeitslose, Binnenmigrant*innen, Mütter, Feminist*innen, Jugendliche sowie ältere Menschen teil. Die Arbeiter*innenklasse hatte sich dem Aufstand angeschlossen, ihn in den meisten Städten selbst losgetreten. Es gab friedliche und gewaltvolle, koordinierte und spontane Proteste. In Almaty wurde zum Beispiel eine Gruppe gebildet, um gegen Plünderungen vorzugehen. Es gibt auch Berichte von Protestierenden, die nach dem Ende einer Demonstration in Almaty Müll von den Straßen aufsammelten. In Schangösen kündigte eine Versammlung von Arbeiter*innen auf dem zentralen Platz der Stadt die Bildung eines »Rat der Aksakals« (Rat der Alten) an, um den Protest zu koordinieren. Nach Tokajews öffentlicher Denunziation gesellte sich eine neue Parole zu den bisherigen Slogans »Shal, ket« (»Alter Mann, geh weg«) und »Alga, Kasachstan« (»Vorwärts, Kasachstan«): »Wir sind keine Terroristen«, skandierten die Demonstrant*innen.

Verschiedene politische Kräfte versuchten, sich als Führer der Protestbewegung zu präsentieren, angefangen bei rechtsgerichteten kasachischen Nationalist*innen und flüchtigen Oligarchen wie Muchtar Abljasow, der sich 2009, nach dem Bekanntwerden von Ermittlungen gegen ihn wegen Veruntreuung und organisierter Korruption, aus Kasachstan abgesetzt hatte und heute in Frankreich lebt. Abljasow reklamierte für sich, die Ereignisse seit mehreren Jahren vorbereitet zu haben. Verschiedene Befürworter*innen des Regimes behaupteten hingegen, dass die Organisator*innen der Proteste entweder in Kiew, irgendwo in Europa oder im US-Außenministerium säßen. Nichts davon scheint bisher zu stimmen, da die Proteste eine Revolution von unten waren und maßgeblich von Arbeiter*innen ohne politische Repräsentation initiiert wurden.

Mithilfe der etwas über 2000 »Friedenssoldaten« gelang es Tokajew inzwischen, sie niederzuschlagen. Mittlerweile hat das Militärbündnis damit begonnen, seine Truppen wieder abzuziehen. Das kasachische Innenministerium spricht von mindestens 164 zivilen Toten, unter den Sicherheitskräften gab es laut Tokajew 16 Tote und mehr als 1600 Verletzte. Die Anzahl der Verhaftungen beläuft sich mittlerweile auf etwa 10.000 Menschen, vielen  droht lebenslange Haft, obwohl sie selbst in Städten festgenommen wurden, wo es ausschließlich friedliche Proteste gegeben hatte.

Doch die wirtschaftliche und soziale Krise dauert an. Denn durch die Rohstofforientierung der kasachischen Wirtschaft hat sich die Instabilität der globalen Energiemärkte brutal im Land niedergeschlagen. Die vagen Reformen, die Tokajew nun angekündigt hat, entsprechen bei Weitem nicht den Forderungen, für die die Menschen auf die Straße gegangen sind. Früher oder später wird sich ihre Unzufriedenheit erneut Bahn brechen. Wie nach jeder Revolution, ist die Gesellschaft auch nach dieser nicht mehr dieselbe. Die Menschen haben ihre Stärke erkannt und gelernt, sich zusammenzuschließen und gegen staatliche Gewalt zu wehren. Und wie nach jeder Revolution folgt auf einen Ab- auch wieder ein Aufschwung.

Anastasia Tikhomirova

ist freie Journalistin und Kulturwissenschaftlerin. Sie war kürzlich als Gastredakteurin bei der russischen oppositionellen Zeitung Novaya Gazeta in Moskau im Rahmen eines IJP-Stipendiums.