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»Revolution bis zum Ende«

Im Sudan hat sich eine Revolte gegen steigende Brotpreise zu einem landesweiten Großprotest gegen die Regierung Omar al-Baschir entwickelt*

Von Lundimatin

Seit Freitag, den 14. Dezember, erhebt sich die sudanesische Bevölkerung gegen die Diktatur von General Omar al-Baschir, das das Land seit seinem Putsch im Juni 1989 regiert. Der Auslöser: Mangel an Mehl, Benzin und Bargeld, begleitet von einem Wertverfall der Währung, einer Inflation von über 70 Prozent, wodurch sich der Brotpreis in mehreren Städten innerhalb weniger Tage verdreifachte. Aber die schwere wirtschaftliche Krise im Sudan ist nicht der eigentliche Grund der Revolte. Einerseits breitet sich die Armut immer weiter aus, während der Reichtum der herrschenden Klasse beständig wächst. Andererseits versucht das Parlament, die Verfassung zu ändern, damit Omar al-Baschir im Jahr 2020, nach 31 Jahren an der Macht, erneut für das Präsidentenamt kandidieren kann.

Dass ein Aufstand naht, war bereits seit Monaten zu spüren. Regierungsmilizen (Rapid Special Force, die die Hauptverantwortung für die Massenmorde in Darfur tragen) führten im Oktober Razzien in den Außenbezirken von Khartum durch, schlugen junge Menschen und rasierten ihnen die Köpfe, um sie daran zu erinnern, dass jeder Wunsch nach Rebellion mit Gewalt unterdrückt wird.

Geschichte vom Beginn einer Revolution

Aber diesmal war die Wut nicht zu stoppen. Am 14. Dezember gingen erstmals Tausende Menschen in verschiedenen Städten auf die Straße. Am darauf folgenden Mittwoch demonstrierten in der Industrie- und Arbeiterstadt Atbara Schüler_innen und Student_innen, vertrieben die Polizei und brannten das Hauptquartier der National Congress Party von Omar al-Baschir nieder. Die Polizei musste sich komplett aus der Stadt zurückziehen, weil sich die Armee auf die Seite der Protestierenden stellte. Die Schüler_innen und Student_innen von Khartum brachten am nächsten Tag noch mehr Menschen auf die Straße, blockierten Universitäten und einige Hauptverkehrsstraßen in der Hauptstadt. Auch in Gedaref, im Osten des Landes, wuchsen die Demonstrationen an. Am Freitag schließlich, nach dem Gebet, wurden die Straßen der Hauptstadt und vieler anderer Städte von Demonstrant_innen überflutet.

Am folgenden Wochenende erfasste die Oppositionsbewegung die Fußballstadien. Samstagabend demonstrierten die Fans des Vereins al-Hilal aus Khartum. Am nächsten Tag erwog die Regierung, das Spiel von al-Merrikh (aus Ondurman, der zweitgrößten Stadt des Landes, die von Khartum nur durch den Nil getrennt wird) abzusagen. Aber da das eine Anerkennung der Existenz der Oppositionsbewegung bedeutet hätte, füllte sie stattdessen das Stadion mit »Kizan« (»Männer, die das Regime verteidigen oder dafür arbeiten«). Ähnlich in al-Gezira, einer Provinz im Süden, die Omar al-Baschir besuchte, um eine Ausstellung zu eröffnen. Sofort kursierten Demonstrationsaufrufe in der Provinzhauptstadt Wad Madani. In der Nacht vor dem Besuch setzten Aktivist_innen einen Teil der Ausstellung in Brand. Es gab mehrere Verhaftungen. Für die Einweihung wurden dann Kizan und Schüler_innen zusammengekarrt. Während der Rede des Diktators, die live im Fernsehen übertragen wurde, wurden dennoch Rufe in der Menge laut (»iasqut iasqut hukma al askir«: »Nieder, nieder mit der Militärregierung«). Der Sender beendete die Live-Übertragung; al-Baschir musste seine Rede hinter verschlossenen Türen, nur im Kreise seiner Anhänger, beenden. Auch sein Besuch in der Stadt wurde verkürzt.

Das war der Zeitpunkt, als die Revolte auf alle Städte des Landes übergriff. Am 25. Dezember riefen Gewerkschaften und Oppositionsparteien dazu auf, im ganzen Land zu demonstrieren und in Khartum zum Präsidentenpalast zu marschieren. Das Regime blockierte Straßen und platzierte Scharfschützen auf den Dächern. Sobald sich Demonstrationszüge bildeten, wurden sie mit Tränengas, scharfer Munition und Stockschlägen auseinander getrieben. Das Zentrum von Khartum wurde bis zum Abend zum Schauplatz eines makabren Katz- und Mausspiels. Aber die Versuche, sich dem Palast zu nähern, scheiterten. Der Tag war dennoch ein Wendepunkt der Bewegung, erstens, weil sich die Gewerkschaften anschlossen, und zweitens, weil viele Menschen auf die Straße gingen, die das nie zuvor getan hatten.

Der folgende Freitag (28. Dezember) wurde wegen der vielen Toten später zum »Freitag der Märtyrer« erklärt. Am 31. Dezember brachten die Aufrufe der Gewerkschaften erneut Tausende Menschen auf die Straße.

Das Gesicht der Bewegung

Auch wenn wirtschaftliche und soziale Fragen am Beginn der Bewegung standen, ist es vor allem eine politische Revolte. Das Hauptmotto war von Anfang an »Das Volk verlangt den Sturz des Regimes«, oder auch »Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, das Volk wählt die Revolution«. Denn die wahren Ursachen sind nicht nur die plötzlich gestiegenen Preise. Die Korruption hat ein beispielloses Ausmaß erreicht: Die Sicherheitskräfte, die eigentliche Macht im Land, missbrauchen den Großteil der öffentlichen Gelder für eigene Zwecke, etwa den gigantischen neuen Hauptsitz, den sich der Geheimdienst NISS (National Intelligence Security Service) derzeit bauen lässt. Das Regime mobilisiert alle Ressourcen für den Ausbau der eigenen Macht: Der Sicherheitsetat ist höher als der für Gesundheit und Bildung zusammen.

Unter al-Baschir befand sich der Sudan zudem fast ununterbrochen im Krieg. Zunächst bis 2005 im Bürgerkrieg mit dem Südsudan (mit geschätzt zwei Millionen Todesopfern), dessen Bevölkerung 2011 schließlich für die Unabhängigkeit stimmte. Der Konflikt schwelt seither weiter. Seit 2003 dann in der westsudanesischen Region Darfur, ebenfalls mit etwa 200.000 Toten; seit 2011 in den südlichen Provinzen Blauer Nil und Südkordofan. Auch im Ostsudan wurde bis 2006 jahrelang gekämpft. Um so mehr sind diskriminierte Bevölkerungsgruppen wie jene in Darfur oder die Nuba bereit, sich gegen das Regime zu erheben.

Folglich sieht die sudanesische Bevölkerung, die sich jetzt in Aufruhr befindet, im Regime keinen Akteur, der die wirtschaftlichen und sozialen Probleme lösen kann, im Gegenteil. Hinzu kommt, dass keine Oppositionspartei die Kraft hat, sich dem Regime zu widersetzen.

Bemerkenswert an der Bewegung ist, dass sie in den Provinzstädten (vor allem im Norden) und nicht in der Hauptstadt Khartum begann. Ebenfalls bemerkenswert ist, dass in der Revolte die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen (Student_innen und Schüler_innen, Arbeiter_innen verschiedener Branchen, Gewerkschaften, NGOs und Angehörige aller sozialen Schichten) zusammenfanden.

Soziale Netzwerke spielten eine große Rolle dabei, die (Nicht-)Berichterstattung der regierungshörigen Medien zu durchbrechen. Facebook, Twitter oder WhatsApp haben es der Bevölkerung ermöglicht, sich zu koordinieren, vor allem über den Hashtag #moudoun_essoudan_tantafidd (»Die Städte Sudans stehen auf«). Bilder und Videos der Proteste überall im Land verbreiteten sich in Windeseile, was wiederum zu ihrer Ausbreitung beitrug. Auch die Versuche der Regierung, die Bevölkerung zu spalten und gegeneinander aufzuhetzen, konnten dadurch abgewehrt werden. Dies betrifft vor allem die unerbittliche Repression gegen die Student_innen in Darfur, die zu einer breiten Solidarisierung geführt hat: »ialounssouri almaghroor, koulou albalad darfour«, »Der Rassist ist arrogant, das ganze Land ist Darfur« (womit al-Baschir implizit angesprochen wurde).

Gegen die jahrelange rassistische Spaltung der sudanesischen Gesellschaft in ethnische Gruppen haben die Demonstrant_innen versucht, die gesellschaftlichen Konfliktlinien neu zu definieren: auf der einen Seite die Anhänger_innen des Regimes (die Kizan), auf der anderen alle, die gegen das Regime sind (die sudanesische Bevölkerung). Man kann darin den Wunsch erkennen, das alte politische Spiel der Regierung zu durchkreuzen und das politische Feld neu zu bestimmen.

Insbesondere junge Menschen, Männer und Frauen, sind in großer Zahl auf die Straße gegangen, viele zum ersten Mal in ihrem Leben. Auch viele Kinder nahmen an den Demonstrationen teil. Der zwölfjährige Shaouqi Assadig wurde in der Provinz Gezira von Sicherheitskräften erschossen. Sein Bild wurde zu einem Symbol des Aufstands.

Die Gewerkschaften haben sich zögerlich und spät angeschlossen, und sie haben Mühe, ihre Anhänger_innen zu mobilisieren. Sie spielten dennoch eine wichtige Rolle bei den Aufrufen für den 25. und 31. Dezember. Auch einige Streikversuche haben die Gewerkschaften unternommen, doch die Beteiligung war eher schwach. Die Oppositionsparteien hinken dem Geschehen ebenfalls hinterher, obwohl sie selbst von Repressionen betroffen sind (einige ihrer Führungsfiguren wurden verhaftet).

Repression und Solidarität

Zunächst versuchte die Regierung, die Bewegung totzuschweigen, während sie zugleich die Demonstrationen unterdrückte. Angesichts der Solidarisierung vieler Angehöriger der Armee mit der rebellierenden Bevölkerung, vor allem in Provinzstädten wie Atbara, stützt sich das Regime auf Bereitschaftspolizei, Janjaweed-Milizen (die in Darfur für Massaker an der Bevölkerung verantwortlich waren), Mitarbeiter des Geheimdienstes, Kizan, also Zivilisten, die von der Regierung bewaffnet wurden, und auf private Milizen, die an verschiedenen Orten von der lokalen Bourgeoisie angeheuert wurden.

Die Regierung setzte bei den Demonstrationen ein beeindruckendes Arsenal bewaffneter Repression ein: Scharfschützen auf Hausdächern, Unmengen an Tränengas, Schüsse mit scharfer Munition in Kopfhöhe. Bis Anfang Januar waren landesweit etwa 40 Tote zu beklagen. Verhaftete Demonstrant_innen werden verprügelt und häufig verschleppt. Die Zahl der Vermissten wird auf mehrere Hundert geschätzt.

In fast allen Städten wurde inzwischen der Ausnahmezustand ausgerufen: Bewaffnete besetzten vielerorts das gesamte Stadtgebiet, Universitäten und Schulen wurden geschlossen, Student_innen aus Wohnheimen geworfen, in mehreren Städten Ausgangssperren verhängt. Journalist_innen wurden verhaftet, Zeitungen geschlossen. Das Internet wurde mehrmals blockiert, vor allem um die Nutzung der sozialen Netzwerke zu verhindern.

Das Regime hat durchaus mächtige Verbündete, etwa den Emir von Katar, Tamim bin Hamad Al Thani, dem auch der Fernsehsender Al-Jazeera gehört. Die wenigen Berichte des Senders zeigen nur solche Proteste, die das Regime nicht in Frage stellen, zudem ist meist nur von den wirtschaftlichen Forderungen die Rede.

Aber die Staatspropaganda setzt nicht nur auf Verschweigen der Proteste, sondern auch auf deren Spaltung. So verhaftete die Regierung Student_innen aus Darfur, die sie beschuldigte, einer bewaffneten Gruppe, dem Sudan Liberation Movement (SLM), anzugehören. Die Regierung veröffentlichte Bilder der Studenten in Handschellen und ihrer angeblichen Waffen und behauptete, dass sie Demonstrant_innen erschossen hätten, um die Stimmung weiter anzuheizen. Doch die Bevölkerung reagierte auf den staatlichen Rassismus mit Unterstützung der Darfuris. Omar al-Baschir selbst hat sich mehrmals im Fernsehen zu den Protesten geäußert. Zuerst, noch in Wad Madani, nannte er die Demonstrant_innen Verräter und Diebe und behauptete, dass die Behörden die Situation unter Kontrolle hätten und dass Israel hinter den Protesten stehe. Der zweite Auftritt fand am 30. Dezember statt: Al-Baschir zitierte Koransuren und Passagen aus den Hadithen, um die Todesfälle bei den Demonstrationen zu rechtfertigen. Dieser verkappte Tötungsaufruf zeigte seine Wirkung am 31. Dezember, als die Zahl der Toten höher war als zuvor.

Es ist schwer vorherzusagen, wie die Bewegung enden wird. Sicher ist, dass sie bereits heute eine beispiellose Solidarität ausgelöst hat. Gegen die Versuche des Staates, den entstandenen Zusammenhalt zu zerstören, hat die Bevölkerung ihre Einheit bekräftigt. Auch in den Stadtvierteln haben die Älteren den Jüngeren geholfen, Männer und Frauen haben Hand in Hand gegen die Repression gekämpft; Türen wurden für Demonstrant_innen geöffnet, die vor der Polizei flüchteten. Soldaten schlossen sich dem Protest an, weigerten sich, Menschen zu erschießen, oder schützten sie sogar vor der Polizei. Auch international gibt es Solidarität. Sudanes_innen, die in den letzten Jahren vor dem Regime geflohen sind, haben in fast allen westlichen Hauptstädten demonstriert, um ihre Mitbürger_innen in ihrem Kampf zu unterstützen.

Lundimatin

ist ein antikapitalistisches französisches Online-Magazin mit Schwerpunkten auf Theorie und den politischen Aufstandsbewegungen weltwelt, das jeden Montagmorgen erscheint: lundi.am.

Der Artikel erschien ohne namentliche Kennzeichnung am 7. Januar in der französischen Zeitschrift Lundimatin. Es handelt sich um eine gekürzte und redaktionell bearbeitete Version des Textes. Übersetzung aus dem Französischen: Jan Ole Arps

* Der Artikel beschreibt den Stand der Dinge in der ersten Januarwoche. Am 9. Januar gab es erneut Demonstrationen, mit mindestens drei Toten in der Stadt Ondurman. Ärzte und Krankenhausmitarbeiter_innen berichten von sechs weiteren Demonstrant_innen mit Schusswunden. Zudem sollen Sicherheitskräfte auch im Krankenhaus Tränengas verschossen haben, auch von einer »Schießerei« mit scharfer Munition ist die Rede. Am selben Tag erklärte Präsident al-Baschir vor Anhänger_innen, dass er trotz der Demonstrationen im Amt bleiben werde, und machte erneut ausländische Mächte, vor allem die USA, für die Krise verantwortlich. Auch am 11. Januar gab es wieder Demonstrationen in Khartum und Ondurman. Für die kommende Woche rufen die Gewerkschaften zu einer landesweiten »Woche des Aufstands« auf. (Stand: 11. Januar 2019)