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Frühschicht in Winsen

Die Streiks bei Amazon gehen weiter – viel Gelegenheit, das internationale Netzwerk gegen den Konzern zu festigen  

Von Lene Kempe

Zusammen Kaffee trinken, zusammen kämpfen: Rudi Kennes aus Belgien (rechts), die ver.di Betriebsrätin Entisar Mennerich und ver.di-Vertrauensperson Hedi Tounsi beim »Black Friday«-Streik in Winsen (Luhe). Foto: Lene Kempe

Eigentlich hätte der Streik bei Amazon in Winsen (Luhe) am Black Friday, dem umsatzstärksten Tag des Jahres, stattfinden sollen. Zum ersten Mal beteiligten sich in diesem Jahr die Beschäftigten von zehn deutschen Amazon-Standorten an der Protestkampagne »Make Amazon Pay«. In mehr als 30 Ländern gab es am 25. November angekündigte Protestaktionen gegen den Versandriesen, getragen von über 80 Gewerkschaften, zivilgesellschaftlichen Organisationen und NGOs.

Um den Überraschungseffekt zu nutzen, entschied die aktive Belegschaft in Winsen, schon einen Tag früher in den Ausstand zu gehen. Denn Amazon ist bekannt dafür, gewerkschaftliche Aktionen zu blockieren, wo es möglich ist. Tatsächlich wartete am Donnerstag ab 4:30 Uhr aber nicht nur ver.di vor dem Eingang des Verteilzentrums auf die Mitarbeiter*innen der Frühschicht; auch die mittlere Führungsebene, Manger*innen und Betriebsleiter*innen hatten sich zu einem freundlichen Empfangskomitee am Eingang aufgestellt und wie die ver.di-Aktiven gelbe Warnwesten übergezogen. Mit Absperrband war eine Art Leitsystem Richtung Werkstor errichtet worden, das direkt am ver.di-Zelt vorbei führte. Offensichtlich war die Info vom vorgezogenen Streik zum Management durchgesickert.

Management- Empfangskomitee

»Die Amazon-Beschäftigten wurden von ihren Chefs per Handschlag begrüßt und freundlich in Richtung des Eingangs verwiesen«, berichtet ein ver.di-Mitarbeiter aus den frühen Morgenstunden gegenüber ak. »Viele waren verunsichert oder haben gar nicht verstanden, was los war.« Etwa 50 Mitarbeiter*innen seien trotzdem draußen geblieben.

Gegen sieben stehen nur noch eine Handvoll von ihnen am ver.di-Zelt, trinken Kaffee und unterhalten sich. Dass Amazon zu solchen Methoden greift, wundert Entisar Mennerich, ver.di-Betriebsrätin in Winsen, überhaupt nicht. »Das ist nichts Neues. Die lernen immer weiter. Deshalb können wir auch nicht nur eine Linie fahren, sondern müssen uns auch immer weiter entwickeln bei unseren Protesten.«

Die Mitarbeiter*innen der Spätschicht wollen Mennerich und ihre Kolleg*innen deshalb am frühen Abend direkt am Bahnhof einsammeln, mit Flyern und Megafon, und über den Streik informieren. Mit Erfolg: Die Streikbeteiligung der Spät- und Nachtschicht fällt an diesem Abend in Winsen deutlich höher aus.

Dass überhaupt Beschäftigte die Arbeit niederlegen, ist angesichts der ausgeklügelten gewerkschaftsfeindlichen Praktiken des Konzerns immer noch keine Selbstverständlichkeit. Gewerkschaftsaktive werden unter Druck gesetzt, diskriminiert oder gemobbt, davon berichten Betroffene überall auf dem Globus. In Deutschland gibt es seit etwa zehn Jahren Streiks und Organisierungsbemühungen von Amazon-Arbeiter*innen und ver.di, angefangen im Frühjahr 2013 an den Standorten Bad Hersfeld und Leipzig. 

Wenn Amazon neue Niederlassungen eröffnet, muss immer wieder von vorne begonnen werden.

Hart erkämpfte Errungenschaften wie Lohnerhöhungen und besserer Arbeitsschutz konnten bislang jedoch nicht tariflich abgesichert werden – mit der Folge, dass das Unternehmen einmal umgesetzte Verbesserungen nicht nur jederzeit wieder zurücknehmen kann, sondern auch, dass sie oft nur für den jeweiligen Standort gelten. Wenn Amazon neue Niederlassungen eröffnet, muss also immer wieder von vorne begonnen werden, gewerkschaftliche Strukturen aufzubauen und grundlegende Arbeitsrechte und -standards durchzusetzen.

Aufräumen im Betriebsrat

Auch in Winsen haben Menschen wie Entisar Mennerich und ihre Mitstreiter*innen zunächst viel Zeit und Arbeit in den Aufbau eines konfliktbereiten Betriebsrats investieren müssen, bis an einen Streik zu denken war. »Der alte Betriebsrat war sehr arbeitnehmerfreundlich. Als erstes haben wir dort aufgeräumt und ver.di da hinein gebracht, damit der Betriebsrat auch vernünftig mit den Kolleg*innen arbeitet«. Nach fünf Jahren, in denen es vor allem darum gegangen sei, Vertrauen bei den Kolleg*innen aufzubauen, hätten sie dann zum ersten Mal die Arbeit niedergelegt. Das war im September 2022. »Wir sehen, dass weltweit Streiks laufen gegen schlechte Arbeitsbedingungen und wegen der Inflation, deshalb haben wir auch hier in Winsen gesagt: Da machen wir mit.« Zudem seien sie immer noch der am schlechtesten bezahlte Standort in Deutschland. »Das ärgert mich«, sagt die Betriebsrätin.

Dennoch, für Verbesserungen an einem Standort zu kämpfen, reiche nicht, denn Amazon biege die Regeln in jedem Verteilzentrum so, wie es gerade passe und ziehe Leute von einem Standort ab, wenn sie anderswo gebraucht würden – zum Beispiel, um einen Streik zu unterlaufen. So ließ das Unternehmen schon im Vorfeld der Black-Friday-Aktionen verkünden, Amazon erwarte durch die Streiks keine Auswirkungen auf den Paketversand und freue sich auf zahlreiche Kund*innenbestellungen. 

Der Widerstand gegen den Versandgiganten lebt deshalb auch und gerade von der bundesweiten und internationalen Vernetzung zwischen den kämpfenden Belegschaften. Rudi Kennes etwa ist extra aus Belgien angereist, um die Streikenden in Winsen zu unterstützen. Er ist allerdings nicht für die Gewerkschaft da, sondern, zusammen mit zwei Mitstreitern, als Repräsentant der Belgischen Partei der Arbeit (Parti du Travail de Belgique – PTB). Die marxistisch-leninistische Partei ist in den letzten zehn Jahren zu einem ernstzunehmenden linken Akteur in Belgien und Europa aufgestiegen. Im Jahr 2003 hatte die PTB 800 Mitglieder, 2021 waren es 24.000 und die Partei zog mit zwölf Abgeordneten ins belgische Parlament ein. Auch Kennes, ehemaliger Opel-Betriebsrat, arbeitet für die PTB im Parlament und als Stadtrat in Willebroek. Ihnen ginge es darum, die Arbeiter*innenklasse am demokratischen Prozess zu beteiligen. Deswegen wolle er seine Solidarität zeigen mit den Kämpfen der Arbeiter*innen bei Amazon, nicht nur in Belgien, wo das Unternehmen Anfang November das erste Verteilzentrum nahe Antwerpen eröffnet hat.

Ihr Ziel sei es, ein Netzwerk aufzubauen, zusammen mit den Gewerkschaften und den durch sie vertretenen Arbeiter*innen, um sie im Parlament unterstützen zu können. Entisar Mennerich kennt Rudi Kennes schon länger von gegenseitigen Besuchen. »Wir haben in Belgien noch keine Erfahrungen mit gewerkschaftlicher Organisation bei Amazon-Standorten«, sagt Kennes. Die Treffen mit den Aktiven aus anderen Ländern und das Netzwerk, das daraus entstünde, seien deshalb sehr wertvoll.  

Kaffee in Antwerpen  

Was die richtige gewerkschaftliche Strategie gegen das System Amazon ist, darüber diskutieren die beiden bei lauwarmem Kaffee aus Pappbechern vor dem Werkstor in Winsen noch eine ganze Weile. Bei Entisar Mennerich schwingt dabei auch ein bisschen Frust mit: Sie müsse einiges aufwarten, um das Vertrauen der Kolleg*innen zu gewinnen. Häufig scheitere es wegen der vielen unterschiedlichen Sprachen, die unter den Amazon-Mitarbeiter*innen gesprochen werden, schon daran, die Kolleg*innen umfassend über ihre Arbeitsrechte aufzuklären. Wenn das aber gelungen sei, dann seien viele auch motiviert loszulegen und mitzustreiken. Und dann sei es nicht selten die Gewerkschaft, die bremst. »Das ist ein Problem«, sagt Entisar Mennerich. »Die Kolleg*innen vertrauen mir und deshalb sind sie bereit mitzumachen.« Wenn dann nichts oder nur wenig passiere, sei das frustrierend. Der Gewerkschaftsapparat sei träge, bei Amazon müsse man dagegen schnell agieren. Rudi Kennes pflichtet ihr bei. »Wir hatten gerade einen Generalstreik in Belgien. Die Beteiligung ist gut gewesen, besser als gedacht. Es wurde deutlich, dass die Leute die Schnauze voll haben von den hohen Lebenshaltungskosten und Energiepreisen.« Aber als der Streik zu Ende war, ist die Bewegung schnell ins Stocken geraten. Die Gewerkschaften haben es nicht geschafft den Menschen ein Angebot zu machen, sie weiter mitzunehmen. An diesem Punkt, darüber sind sich die Betriebsrätin aus Winsen und der Stadtrat aus Willebroek einig, müsse noch einiges passieren. »Die Gewerkschaft muss kämpferischer werden«, sagt Mennerich. Und dennoch, so sagen beide, sei gerade die Mobilisierung gegen den Versandriesen auch eine Erfolgsgeschichte, weil sie Arbeiter*innen und Gewerkschafter*innen weltweit zusammengebracht habe.  

Der Kaffee ist mittlerweile kalt geworden. Nicht unwahrscheinlich, dass sie den nächsten zusammen in Antwerpen trinken.

Lene Kempe

ist Redakteurin bei ak.