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No future unter Putin

In Brüssel trafen sich 300 Mitglieder der russischen Antikriegsbewegung zum klandestinen Kongress. Wie geht es den Oppositionellen?

Von Anna Jikhareva

Collage: Fleur Nehls

An einem sonnigen Apriltag sitzt Michail Lobanow im Kellergeschoss eines gesichtslosen Kongresszentrums irgendwo im Norden Brüssels. Gerade hat die Moderatorin den Moskauer Lokalpolitiker nach seiner Vorstellung von Russlands Zukunft gefragt. Lobanow spricht ausschweifend, als seine Redezeit abgelaufen ist, ist er noch lange nicht fertig. Wer ihm zuhört, erhält beinahe den Eindruck, dass es um diese Zukunft gar nicht so schlecht bestellt ist. »Wenn sich in Russland das Fenster der Möglichkeiten öffnet, braucht es ein starkes politisches Subjekt«, ist der studierte Mathematiker überzeugt, »und ein Projekt, das auch für jene verständlich ist, die heute nicht politisch aktiv sind«.

Die Stichworte, die anschließend fallen, sind Klassiker eines jeden linken Programms: Gewerkschaften und das Streikrecht verteidigen, Klimaerwärmung und Ungleichheit bekämpfen, den Einfluss des Marktes auf Wohnraum begrenzen. Hoffnung setzt Lobanow, der nach Ausbruch der Vollinvasion in Moskau geblieben war, unter dem Druck des Regimes aber schließlich fliehen musste, dabei in die Jugend des Landes, wie er im Gespräch sagt. In den 1990er Jahren hätten die Vertreter*innen des rechten Mainstreams gemeint, mit der Einführung des Kapitalismus komme auch die Demokratie. »Die damals verhängte Schocktherapie hat die Demokratie getötet – weil sie den Menschen die ökonomischen Grundlagen nahm, um sich zu engagieren«, so der linke Politiker. Die heutige Jugend hingegen sei deutlich politischer, linker auch.

Der 41-Jährige ist einer von rund 300 Personen, die für einen zweitägigen Kongress des Netzwerks Platforma (1) in die EU-Hauptstadt gekommen sind. Zusammengeschlossen haben sich unter dem Dach der Gruppe über hundert Antikriegsinitiativen und Aktivist*innen – ein Teil davon operiert weiterhin in Russland, die meisten aber sind aus dem Exil heraus tätig. Es ist der dritte Kongress dieser Art.

Auf der Kellerbühne hängt das Leitmotiv des Bündnisses: gemeinsam für die Ukraine und für Freiheit einstehen. Unter den Teilnehmer*innen sind Aktivistinnen aus Russland und ukrainische Menschenrechtler, aber auch Vertreter*innen der EU und einzelner Mitgliedstaaten. Den Austragungsort haben sie erst wenige Stunden vor Tagungsbeginn erfahren – weder darf er in der Zeitung stehen noch sind Aufnahmen erlaubt. Wer dabei sein wollte, musste sich von mindestens zwei Platforma-Mitgliedern empfehlen lassen.

Kaum politische Spielräume

Draußen vor dem Eingang erzählt Katja Moroko von den Anfängen eines besonderen Projekts. Die 29-Jährige stammt aus Kasachstan, zog dann zum Journalismusstudium nach Moskau, schrieb später für das studentische Onlineportal Doxa. Als vier ihrer Redaktionskolleg*innen angeklagt wurden, flüchtete sie nach Georgien. Heute lebt Moroko in Berlin, wo auch Platforma 2022 gegründet wurde. »Foren für die russische Opposition existierten damals schon, die meisten unter der Ägide liberaler Politiker. Wir aber wollten einen Gegenpol bilden – eine linke, dekoloniale Alternative, die als eigenständiger zivilgesellschaftlicher Akteur Bewegungen und Basisgruppen vereint«, erklärt sie.

So divers die Ansätze sind, so zersplittert sind die Putin-Gegner*innen auch.

Dass das politische Spektrum, in dem sich die Kongressteilnehmer*innen verorten, über Lobanows Positionen hinausgeht, zeigt wiederum die Debatte über Russlands Zukunft. Ein Vertreter von Aleksej Nawalnys Antikorruptionsstiftung spricht über das künftige Parteiensystem, die Notwendigkeit einer konstitutionellen Reform und Föderalismus. Die Politikerin Jekatarina Dunzowa, die letztes Jahr durch den Versuch einer Kandidatur für das russische Präsident*innenamt bekannt wurde, fordert nicht nur die fiskale Stärkung russischer Regionen, sondern auch jene von Care-Arbeiter*innen. Und der Jurist Gleb Bogusch verweist auf ein Projekt der in Russland liquidierten Organisation Memorial: In ihrem über tausendseitigen Aktionsplan »100 Tage nach Putin« haben die Menschenrechtler*innen die dringlichsten Maßnahmen zusammengetragen, »um nach einem Regierungswechsel den Frieden und die politische Freiheit wiederherzustellen«. (2)

So divers die Vorstellungen sind, so zersplittert sind derzeit auch die Putin-Gegner*innen. Vor allem die alten Fragen, was sich aus dem Exil heraus überhaupt bewegen lässt und ob die Exilierten für die Zurückgebliebenen sprechen dürfen, führen immer wieder zu hitzigen Debatten. Und das in einer Zeit, in der die Spielräume für politisches Handeln in Russland selbst – abgesehen von Sabotage und anderen Aktivitäten im Untergrund vielleicht (ak 712) – kaum vorhanden sind. Gerade in der liberal-rechten Opposition laufen zwischen den verschiedenen Fraktionen diverse parallele Streitigkeiten. Dies zeigte sich etwa letzten Herbst in Berlin, als prominente Figuren wie Garri Kasparow oder Michail Chodorkowski nicht an einer von Nawalnys Witwe Julija Nawalnaja mitorganisierten Demonstration teilnahmen.

Hinzu komme die Müdigkeit vieler Aktivist*innen nach drei Jahren Angriffskrieg, sagt Platforma-Vertreterin Moroko: zu wenige Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, zu wenig Ressourcen, Burnouts und programmatische Differenzen. Die Krise, in der sich die Kremlgegner*innen befinden, liegt nicht zuletzt auch in einem Mangel an Perspektiven begründet: Was taugen die besten Visionen einer Zukunft, von der niemand glaubt, dass sie in absehbarer Zeit eintritt? Schließlich scheint das Putin-Regime mit Trumps Hilfe fester denn je im Sattel zu sitzen.

Kampf um die Geiseln des Kreml

Weil die Zukunft ungewiss bleibt, wird auf dem Kongress in Brüssel mehrheitlich die Gegenwart verhandelt. Die Ahndung russischer Kriegsverbrechen etwa ist eines der Hauptthemen. »Wirklicher Frieden ist erst möglich, wenn die Täter*innen zur Verantwortung gezogen, die Leidtragenden gehört werden«, sagt UNO-Vertreterin Kazarowa, die das Treffen mit ihrer Rede einleitet.

Von gesellschaftlicher Aussöhnung zwischen Russ*innen und Ukrainer*innen kann derzeit keine Rede sein, das wissen die meisten hier – ein Projekt für die nächsten Generationen. Dass trotzdem auch ukrainische Menschenrechtler*innen nach Brüssel gekommen sind, ist bereits ein großer Erfolg, das betont Platforma später in einer Mitteilung: »Die Zusammenarbeit mit den Ukrainer*innen ist eines der wichtigsten Kongressergebnisse.« Ein konkretes Kooperationsfeld ist der Kampf um »Zehntausende Menschen, die Russland derzeit gesetzeswidrig festhält«: ukrainische Kriegsgefangene und verschleppte Zivilist*innen, darunter bis zu 20.000 Kinder, aber auch die über 1.400 politischen Gefangenen in Russland selbst.

»Menschen verschwinden einfach, nicht mal das IKRK weiß, wo sie sind. Manche tauchen irgendwann in einem Gefängnis auf, viele gar nicht mehr«, berichtet Michail Sawwa vom Kiewer Zentrum für bürgerliche Freiheiten, zugeschaltet aus der ukrainischen Hauptstadt. Sawwa fordert Sanktionen gegen involvierte Einzelpersonen und Organisationen, das russische Verteidigungsministerium etwa oder die Militärpolizei: »Wir geben unsere Listen gerne an die europäischen Behörden weiter.« Eine andere Forderung, die beim Kongress geäußert wird: dass im Zentrum von Friedensverhandlungen nicht nur Territorien oder Ressourcen stehen, sondern auch die Freilassung aller Kreml-Geiseln.

Die in Brüssel vertretenen Initiativen sind so vielfältig wie die Themen, mit denen sie sich befassen. Eines davon ist die Desertion als Widerstandsform. Eine überwältigende Mehrheit aller Kriegsdienstverweigerer verbleibe in Russland – etwa, weil sie nicht über die für eine Flucht notwendigen Dokumente verfügten, beklagen die anwesenden Expert*innen. Entsprechend fordern sie die EU-Länder auf, Desertion als politische Handlung anzuerkennen und juristischen Schutz zu gewährleisten. Dass in dieser Hinsicht noch viel Luft nach oben ist, zeigt die Statistik: Seit 2022 hätten bloß sechs Personen ein humanitäres Visum für die EU bekommen.

Anna Jikhareva

ist Journalistin bei der Woz und lebt in Zürich.

Anmerkungen:

1) platforma.international

2) 100days.memorialcenter.org