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Sexualerziehung, Transrechte und Klassenfragen

Die ShutItAllDown-Proteste gegen patriarchale Gewalt haben die feministische Bewegung in Namibia verändert

Von Yaşar Ohle

Protestierende skandieren vor zwei Polizisten
»Ich denke, diese Generation hat weniger Angst«, sagt die Aktivistin Hildegard Titus. Foto: Hildegard Titus

Im Oktober des vergangenen Jahres kam es zu Protesten in mehreren Städten Namibias, nachdem das Grab der 21-jährigen Shannon Wasserfall in der Wüste vor der Küstenstadt Walvis Bay gefunden wurde. Sie war sechs Monate zuvor vermisst gemeldet worden. In Namibia kommt es immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen, das Level an sexualisierter Gewalt ist seit Jahren sehr hoch. Wie die Namibian Broadcasting Corporation im Oktober berichtete, gab es in den zwölf Monaten davor über 5.000 bei der Polizei gemeldete Fälle patriarchaler Gewalt, 800 Vergewaltigungen und 74 Mordfälle – hohe Zahlen für ein Land mit 2,5 Millionen Einwohner*innen.

Im Oktober 2020 entlud sich dann die Wut über die herrschenden Zustände unter dem Motto #ShutItAllDown (legt alles still): »Junge Menschen und insbesondere Frauen hatten die Nase voll von Femiziden und einer sehr laschen Haltung im Umgang mit Genderfragen im Land«, meint Paleni Amulungu.

Amulungu ist feministische Aktivistin und Podcasterin. Sie arbeitet zurzeit im NGO-Bereich zu reproduktiver Gesundheit. 2018 startete sie den ersten feministischen Podcast in Namibia: »Unser Podcast heard not seen ist ein feministischer namibischer Podcast, der von drei Frauen mit verschiedenen Hintergründen moderiert wird. Die Idee hinter dem Podcast war, eine Plattform zu schaffen, auf der wir so offen und direkt wie möglich über namibische feministische Themen sprechen können. Im Podcast haben wir zum Beispiel patriarchale Gewalt behandelt und auch über Themen wie Abtreibung oder rassistische Verhältnisse gesprochen.« Insbesondere das bestehende weitreichende Abtreibungsverbot abzuschaffen, ist Feminist*innen in Namibia ein drängendes Anliegen. »Die Tatsache, dass Frauen nicht im Zentrum der Diskussion über sichere Abtreibung in diesem Land stehen, ist lächerlich«, sagt Amulungu. Sie gehört zur jüngeren Generation feministischer Aktivist*innen: »Für mich begann das alles offiziell im Jahr 2014, als ich für Sister Namibia arbeitete, eine feministische Organisation, die 1989 gegründet wurde. Eines unserer großen Projekte zu der Zeit war es, uns auf die öffentliche Aufklärung über geschlechtsspezifische Gewalt zu konzentrieren.« Über diese Erfahrung wurde Amulungu Teil einer feministischen Bewegung.

Paleni Amulungu. Foto: Privat

Gespaltene Bewegung

»Es gibt eine Menge Organisationen, sowohl traditionelle als auch informelle, die viel feministische Arbeit machen und irgendwie in getrennten Bereichen arbeiten«, erklärt Hildegard Titus. Titus ist feministische Aktivistin, Journalistin, Künstlerin und Kuratorin. Eines ihrer Hauptprojekte sind die PowerPad Girls, eine intersektionale feministische Organisation, die sich für kostenlose Menstruationsprodukte für namibische Jugendliche einsetzt und kostenlose, umfassende Workshops zur Sexualerziehung für namibische Jugendliche und Schulkinder anbietet.

In ihren Augen gibt es im kommenden Jahr viel zu tun: »Ich denke, dass es darum gehen wird, unsere verschiedenen Bewegungen zu konsolidieren, zusammenzuarbeiten und unterstützend zu sein, denn so sehr die ShutItAllDown-Proteste auch gut waren und eine Menge Leute zusammengebracht haben, so entmutigend war es doch teilweise. Als wir zum Beispiel Trans-Advocacy-Woche hatten, nach dem Pride-Marsch, kamen alle Leute, die zur Pride gingen, nicht zur Trans-Advocacy-Woche, und sie unterstützten die Trans-Community nicht so sehr, wie sie es bei anderen Sachen getan hätten. Es geht einfach darum, dass Leute mehr Solidarität zeigen und feministische Organisationen sicherstellen, dass sie vielfältiger und inklusiver sind und nicht nur kommen, wenn es um etwas geht, das sie direkt betrifft.«

Dabei spielt auch die Klassenfrage eine wichtige Rolle. Proteste werden selten von Feminist*innen aus den ärmeren Stadtvierteln organisiert, und sie konzentrieren sich oft auf die Windhoeker Innenstadt. Deshalb, so Titus, entschieden sich Aktivist*innen, den Marsch für Abtreibungsrechte 2020 beim Katutura State Hospital zu starten, um mit diesem Muster zu brechen. Katutura war der unter der Apartheidsregierung der südafrikanischen Kolonialregierung für die Schwarze Bevölkerung ausgewiesene Wohnraum und ist eine der ärmsten Viertel Windhoeks. »Ich gehe zu Protesten von Shoprite-Arbeitern (Shoprite ist eine der größten Supermarktketten des Landes; Anm. ak) oder von Minenarbeitern. Aber Leute, die zum ShutItAllDown-Protest gekommen sind, würden nicht unbedingt zu so etwas gehen, weil sie sich als Frauen betroffen sehen, aber nicht als Shoprite-Arbeiter. Ich denke, dass es im nächsten Jahr sehr wichtig ist, dass die Menschen die Überschneidungen in ihren Kämpfen erkennen.«

Titus hat die Proteste des vergangenen Jahres intensiv begleitet. In ihren Augen befindet sich die namibische feministische Bewegung zurzeit in einer Phase des grundlegenden Wandels: »Wir gehen über vom Kampf für Frauenrechte, den unsere Mütter geführt haben, als sie für die Unabhängigkeit kämpften, hin zum Kampf für die Rechte von Frauen, Queers, Kindern und so weiter. Es ist ganzheitlicher, es ist jetzt nicht mehr wie unser Kampf gegen die Apartheid. Wir kämpfen gegen jegliche Unterdrückung, auf welche Weise auch immer sie sichtbar ist.« Sie fügt hinzu: »Ich denke, diese Generation hat weniger Angst.«

Grade zwischen älteren Feminist*innen, die schon in der Befreiungsbewegung aktiv waren, und den sogenannten »born-frees«, den nach der Unabhängigkeit Namibias geborenen Aktivist*innen, gibt es immer öfter Konflikte. Bei den Protesten im vergangenen Jahr wurde zum Beispiel die Ministerin für Gleichberechtigung, Doreen Sioka, zur Zielscheibe der Protestierenden. »Die Ministerin lud sie zu einem Gespräch unter vier Augen ein. Und sie sagten ihr nur: Hey, Girl, du musst zurücktreten«, erinnert sich Titus.

Solidarität statt neokolonialer Abhängigkeiten

Wenn in Deutschland von Namibia die Rede ist, geht es eigentlich immer um die Kolonialgeschichte, den Genozid an den Herero und Nama oder (in der breiteren Gesellschaft) vor allem um Urlaubsreisen und Safari. Doch Ende letzten Jahres gab es vereinzelt auch Berichterstattung und Aufmerksamkeit für die ShutItAllDown-Proteste. Dadurch kann auch internationaler Druck auf bestimmte Akteure ausgeübt werden, tatsächlich aktiv zu werden: »Wenn deutsche Feminist*innen weiterhin ihre Plattformen und Kontakte, auch zu internationalen Medien, nutzen könnten, um auf das, was in Namibia passiert, aufmerksam zu machen, würde das die Leute, die nicht so viel tun wollen, dazu zwingen, tatsächlich ihren Arsch hochzukriegen und etwas zu tun«, sagt Amulungu dazu.

Auf der Ebene materieller Unterstützung gibt es für Titus noch einiges zu tun. »Eine Sache, die es schwierig macht, ist, dass lokale Feministinnen oft Geld von deutschen und auch anderen westlichen Organisationen bekommen, aber dann gibt es eine Menge Bedingungen, die damit einhergehen.« Es sind weiterhin klare koloniale Kontinuitäten erkennbar, die die internationale Förderlandschaft dominieren. Förderer aus dem Globalen Norden bestimmen, welche Projekte umgesetzt werden. Titus fährt fort: »Wenn man Hilfe anbieten will, muss man darauf vertrauen, dass die Leute, die ihre Arbeit tun, wissen, was sie tun. Und man kann nicht vorschreiben, was wichtig ist, weil man nicht vor Ort ist und nicht genau versteht, wie die Situation die Menschen beeinflusst.«

Hildegard Titus. Foto: Privat

Für Amulungu liegt die Lösung in der direkten Solidarität zwischen feministischen Gruppen: »Sie sollten nicht nur über die großen deutschen Organisationen finanzielle Förderung ermöglichen, sondern versuchen, die NGOs und Organisationen und Aktivist*innen direkt zu kontaktieren, die vor Ort arbeiten, und sie direkt zu unterstützen!«

Was die Zukunftsaussichten angeht, ist Amulungu hoffnungsvoll: »Es gibt gerade eine Gruppe junger namibischer Aktivist*innen, die all diese Proteste im letzten Jahr begonnen haben, und ich möchte, dass sie weitermachen. Ich möchte, dass sie den Glauben und den Schwung nicht verlieren und weiter Druck machen.«

Yaşar Ohle

lebt in Berlin, wo er juristisch arbeitet und in antifaschistischen, antirassistischen und stadtpolitischen Zusammenhängen aktiv ist. Er schreibt regelmäßig zu namibischer Geschichte und Politik.