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Kollektive Glücksgefühle

Mohira Suyarkulova und Georgy Mamedov aus Kirgistan über einen unterschätzten Schlüsselbestandteil der kommunistischen Gesellschaft

Interview: Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn

Aktivist:innen posieren mit Krigisischer und LGBT-Flagge vor einer Statue
Glück ist ein kollektives Projekt, sagen Mohira und Georgy. Foto: privat

Linke können gut über das Elend sprechen, bei den Themen Glück und Solidarität hingegen ist noch viel Aufholbedarf. Ein Gespräch über Glück als kollektives Projekt, was bei der Definition von Solidarität oft übersehen wird und über die derzeitige Situation in Kirgistan und der Welt.

Mohira und Georgy, ihr seid seit Jahren als Queer-Kommunist*innen in Kirgistan und der Region aktiv. Was macht ihr dieser Tage?

Mohira Suyarkulova: Wir arbeiten zurzeit an mehreren Aktionsforschungsprojekten bezüglich queerer Sexualität in Kirgistan, zum Beispiel entwickeln wir ein neues Queer Sex Education Curriculum in Zusammenarbeit mit einer der ältesten LGBTQ-Organisationen in Kirgistan, Labrys. Wir haben diesbezüglich mit rund 90 Personen Gespräche geführt, um die bis dato benutzten Module zu verbessern und auf die konkreten Bedürfnisse und Herausforderungen nicht-heteronormativer Menschen einzugehen. In diesem Zusammenhang haben wir viele fundamentale Fragen diskutieren können, etwa ob es überhaupt möglich ist und was es bedeuten könnte, geschützten Sex zu haben, oder wie queere Liebe und Elternsein in einem extrem konservativen Umfeld wie dem kirgisischen vorstellbar sind. Auch ging es immer wieder um die Dialektik sexuelles Trauma/Erwachen, und wie beide zusammenhängen mit der dringenden Notwendigkeit der Erschaffung konkreter Strukturen, die eine kritische Solidarität untereinander fördern und zugleich die unterdrückenden heteropatriarchalen Gesellschaftsnormen unterwandern. Im Endeffekt geht es in allen unseren Aktivitäten darum, unsere Community zu stärken und zu erweitern, ganz im Sinne des russischen Ausdrucks »v teme«, der von LGBTQ-Gruppen im gesamten post-sowjetischen Raum benutzt wird.

Mohira Suyarkulova

Mohira Suyarkulova

Mohira Suyarkulova ist eine in Bischkek, Kirgistan, lebende und arbeitende Queer Kommunistin, feministische Wissenschaftlerin und Aktivistin.

Wofür genau steht »V teme«?

Mohira: »V teme« existiert bereits seit Sowjetzeiten und bedeutet, im übertragenen Sinne »Bescheid zu wissen« und Teil einer community zu sein, die versucht, Solidarität über die Grenzen von Gender, Klasse und Race hinweg zu leben. In diesem Sinne ist der Unterschied zwischen dem in anderen Kontexten üblichen Sprachgebrauch des »sich outen« und »v teme« interessant, weil letzteres gewissermaßen das Gegenteil verspricht: Es lädt Menschen explizit in unsere wunderbare Welt ein, um uns gemeinsam von Patriarchat, Kapitalismus und Kolonialismus zu befreien. Diese queere Welt ist unser Geschenk an die Menschheit.

Gregory Mamedov: »V teme« war dann auch der Name einer kürzlich von uns organisierten Konferenz, an der LGBTQ-Aktivist*innen aus aller Welt teilnahmen. Es war allen Beteiligten wichtig, dass es nicht exklusiv um unsere Erfahrungen von Trauma, Stigma und psychischen Belastungen ging, sondern diese immer auch zusammen gedacht werden sollten mit gegenseitiger Unterstützung und der Frage, wie wir in und mit unseren Leben glücklich sein können.

Georgy Mamedov Porträt

Georgy Mamedov

Georgy Mamedov ist Kommunist, LGBTQ-Aktivist, Kurator und Pädagoge. Er lebt in Bischkek, Kirgistan.

Spannende Frage. Solidarität und Glücklichsein, wie bringt ihr das zusammen?

Georgy: Beginnen wir mit dem Glücklichsein. Gemeinsam mit unserer Kollegin Nina Bogasarova haben wir gerade die Arbeit an einem Buch beendet, das auf einem ethnographischen Forschungsprojekt mit Menschen der kirgisischen LGBTQ-Gemeinde basiert. Es ging hauptsächlich um die Themen Sexualverhalten und Wohlbefinden, was wiederum zur Erörterung einer für uns noch grundsätzlicheren Frage geführt hat, nämlich der von »left happiness«, im Sinne individueller und kollektiver Glücksgefühle, und -erfahrungen als unverzichtbarer Teil linker Politik. Unseres Erachtens ist dies ein Thema, dem wir auf der Linken nicht genug Aufmerksamkeit schenken. Im Gegenteil, es scheint uns leichter zu fallen, sich kritisch mit dem allgemeinen Elend zu beschäftigen und die Frage linker Glücksvorstellungen, wenn überhaupt, nur abstrakt zu diskutieren. Das Buch stellt also die Frage, wie Glücklichsein aus marxistisch-feministisch-queerer Perspektive aussehen könnte beziehungsweise inwiefern Liebe, Arbeit oder auch politischer Aktivismus als Formen und Quellen der Produktion von Glück funktionieren können.

Mohira: In diesem Zusammenhang geht es dann natürlich auch um externe Ursachen von Unglücklichsein, und wie uns der heteropatriarchale, neoliberale Zeitgeist seit Jahrzehnten weismachen will, dass wir ausschließlich eigenverantwortlich sind für unsere Lebenssituationen und Gemütszustände, inklusive schwerer psychischer Leiden. Genau deshalb ist es so wichtig, immer wieder zu betonen, dass wir uns nicht selbst die Schuld dafür geben dürfen, wenn es uns schlecht geht beziehungsweise dass es in einer Welt wie der unsrigen eigentlich nur folgerichtig ist, wenn mensch sich unglücklich fühlt und dass die Antwort darauf nicht die Suche nach dem persönlichen Glück ist, sondern dass Glücklichsein prinzipiell nur als kollektives Projekt funktionieren kann. Genau diese unterschiedlichen Glücksvorstellungen thematisieren wir dann auch im Buch, indem jedes Kapitel mit einer Beschreibung typisch liberalen, bürgerlichen Glücks beginnt – zum Beispiel der heterosexuellen Kernfamilie mit 1,5 Kindern und eigenem Haus, das Hollywood Happy End mit Traumhochzeit oder das allzeit beliebte Glück durch individuellen Konsum.

Georgy: Die von uns benutzte Sprache ist dabei bewusst leicht verständlich gehalten. Es ist fast eine Art von queerem Pop-Selbsthilfebuch geworden, mit dem wir vor allem junge Menschen ermutigen wollen, sich die Frage zu stellen, warum es wichtig ist und wie es aussehen könnte, sich politisch zu engagieren. Aus diesem Grund ruft das letzte Kapitel dann auch zum gemeinsamen politischen Kampf auf, sowohl um die Gesellschaft in einem queer-kommunistischen Sinne zu verändern, als auch weil die Geschichte gezeigt hat, dass uns persönliche und kollektive Glückserfahrungen oft just im Moment konkreter sozialer Kämpfe widerfahren. Beispielhaft dafür ist die französische Philosophin und Mitstreiterin im spanischen Bürgerkrieg, Simone Weil, der historischen Hauptfigur des letzten Kapitels. Kurzum, wir glauben, dass die weitestgehend abstrakte Idee einer kommunistischen Gesellschaft nicht von der Frage des Glücklichseins getrennt werden darf, und dass Geschichtsbewusstsein und die Dialektik von Kollektivität/Autonomie zwei der Schlüsselbestandteile linken Glücklichseins sind, gemeinsam mit nur im Kommunismus möglichen Produktionsstrukturen, die die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens aller Menschen befriedigen.

Und welche Rolle spielt Solidarität in diesem Kampf um das Glück?

Mohira: Im Kontext der anhaltenden Unterdrückung queerer Menschen in Kirgistan ist aktive Solidarität zweifelsfrei eine Grundbedingung für die Möglichkeit von Glücklichsein. Viele von uns leben seit Jahren mit multiplen Traumata, und ähnlich wie in anderen Befreiungsprozessen geht es darum, Opferdasein und eigene Handlungsmächtigkeit zu verhandeln und letztere möglichst weit auszubauen. So klischeehaft es mittlerweile klingen mag, es geht weiterhin vor allem um Räume, in denen wir unser Leid und Elend, aber auch unsere Glücksmomente miteinander teilen können, ohne verurteilt zu werden.

Georgy: Die Bedeutung von Solidarität bleibt zentral. Ohne sie ist die Revolution unmöglich, und trotzdem wird sie ähnlich wie das Glücklichsein oft ausschließlich abstrakt diskutiert oder fälschlicherweise sogar vorausgesetzt. Was fehlt, ist die Auseinandersetzung darüber, wie konkrete Solidarität ermöglichende Infrastrukturen geschaffen und gepflegt werden könnten. Wobei es letztlich um die Frage einer dezidiert linken Ethik geht, und wie diese sich von rechten oder liberalen Varianten unterscheidet, vor allem in Momenten wachsender Machtlosigkeit und politischer Depression. Unsere Tendenz ist normalerweise, die sozialen Wurzeln dieser Momente ausfindig zu machen und zu denunzieren. Aber wie geht es dann weiter? Ich denke, ein erster Schritt ist, radikal das Elend unserer Situation zu akzeptieren und in ihr das zu tun, was wir tun können und müssen.

Kirgistan (formal: Kirgisische Republik)

Kirgistan ist ein Land in Zentralasien. Es entstand, als die UdSSR den ehemaligen zaristischen Kolonialgebieten die Staatlichkeit verlieh. Mit der Auflösung der UdSSR 1991 erlangte das Land seine Unabhängigkeit. Die kirgisische Politik wird oftmals als die dynamischste in der Region beschrieben: So erlebte die Republik in ihren 30 Jahren Unabhängigkeit drei Revolutionen, die zu Regierungsstürzen und Verfassungsreformen führten. Das war zuletzt das Los der Regierung von Präsident Sooronbai Jeenbekow nach den umstrittenen Wahlen vom Oktober 2020. Dessen Sturz ging einher mit dem kometenhaften Aufstieg des nationalistischen Anführers Sadyr Japarow, der mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung gebracht wird. Mit 80 Prozent der Stimmen gewann Japarow die Präsidentschaftswahl vom 10. Januar bei einer Wahlbeteiligung von 40 Prozent. Die Wahl wurde ebenfalls von einem Referendum begleitet, das die parlamentarische Republik durch ein präsidiales, zentralisiertes Modell ersetzen soll. Auch hier stimmte eine Mehrheit dafür. Für die vulnerablen Gruppen im Land, inklusive der LGBTQI+-Communities, sind das besorgniserregende Entwicklungen. Georgy schrieb einen informativen Beitrag über den »kirgisischen Trump« (auf Englisch).

Apropos weiterkämpfen: Wie steht es um die progressiven Kräfte nach den politischen Turbulenzen in Folge der Parlamentswahlen im Oktober 2019 und der Machtübernahme des Nationalisten Japarow ?

Georgy: Nicht gut. Wir Linke befinden uns gerade in einem sehr deprimierenden Moment, und es herrscht eine ungeheure Leere vor. Offener Widerstand ist im Grunde unmöglich. Es ist unglaublich, mit wie viel libidinöser Energie der neue Machthaber und seine Unterstützer zu Werke gehen und bereit sind, den Gesellschaftsvertrag aus konservativer Perspektive radikal umzuschreiben. Das ist es, was Rechts und Links heute weltweit unterscheidet. Die extreme Rechte weiß, wie Politik funktioniert, und hat keine Skrupel, das zu tun, was für ihre Zwecke notwendig ist. Nicht umsonst hat sich Trumps ehemaliger Berater Bannon als rechter Leninist bezeichnet. Wir Linke hingegen schaffen es schon ewig nicht mehr, den unterdrückten Massen wirklich radikale Alternativen zu präsentieren und sie für diese zu begeistern. Insofern denke ich, dass die einzig mögliche Antwort auf die derzeit dominante rechte Radikalität eine neue linke Radikalität ist.

Mohira: Absolut. Dschaparows Machtübernahme hat klar gezeigt, wie schwach die progressiven Kräfte in Kirgistan sind. Wenn überhaupt, dann wird immer nur reagiert auf all die wahnsinnige Sachen, die bei uns passieren. Das betrifft vor allem zivilgesellschaftliche Organisationen, bei denen es auch nach dem Coup fast ausschließlich um reine Identitätspolitik geht. Es wird zum Beispiel weiter eine 50-Prozent-Quote für Frauen und ethnische Minderheiten gefordert, ohne dass sich gefragt wird, ob wir wirklich 50 Prozent Repräsentation in einem proto-faschistischem Regime haben wollen. Wo sind bloß die Stimmen, die herausschreien, dass diese neue Regierung uns nicht repräsentiert und dass wir in so einem Land nicht leben wollen? Wir müssen wirklich dringend zu den grundlegenden Fragen zurückkehren: Was bedeutet es heute progressiv zu sein? Wofür kämpfen wir? Oder mit dem alten, linken Lenin gesprochen: Was tun?

Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn

Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn ist Theatermacher und gelegentlicher Verleger, zuletzt des englischsprachigen Sammelwerks Lenin150 (Samizdat). Seit 2007 lebt und arbeitet er hauptsächlich auf dem asiatischen Kontinent, vor allem in Afghanistan, Kirgistan und Südostasien.