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»Ihr Mut ist unfassbar«

Pipob U. berichtet über die Jugendproteste gegen den Status quo in Thailand

Interview: Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn

Tausende Menschen sitzen auf einem weiten Platz
Die Corona-Pause tat der Bewegung gegen Regierung und Monarchie in Thailand keinen Abbruch: Demonstration am 19. September im Stadtzentrum von Bangkok. Foto: Milktea2020 / Wikimedia, CC BY-SA 4.0

In Thailand gehen seit Februar Zehntausende gegen die Regierung auf die Straße. Einzigartig am diesem Protestzyklus ist, dass die Protestierenden auch die Monarchie kritisieren – was verheerende Konsequenzen für sie haben kann. Pipob U. (51) ist seit vielen Jahren Aktivist mit Wohnsitz im Norden Thailands und erzählt, wie er die Proteste erlebt hat.

Was war der Auslöser der diesjährigen Demonstrationen und was sind die zentralen Forderungen?

Pipob U.: Die ersten Demonstrationen begannen im Februar/März, als eine stetig wachsende Anzahl von Schülern, die sich selbstironisch die »bad students« nannte, gegen die extrem konservative und indoktrinierende Bildungspolitik in Thailand protestierte. Außerdem wurde die bei jungen Thai sehr populäre Partei Future Forward verboten, was sehr viele Menschen erboste. Nach einigen Monaten Atempause wegen der Covid-Pandemie fing dann im Juni eine zweite Protestwelle an, nachdem ein exilierter Demokratieaktivist spurlos verschwunden war und erste Indizien auftauchten, dass Regierung und Monarchie, nicht zum ersten Mal, involviert sein könnten. Seitdem dauern die Proteste an. Es geht vor allem um drei zentrale Forderungen: Erstens den Rücktritt der seit 2014 regierenden Militärjunta, zweitens die Ausarbeitung einer neuer Verfassung und drittens die grundlegende Reform der Monarchie, deren Machtmissbrauch vor allem durch den unsäglichen Artikel 112, der jegliche Kritik an der Monarchie verbietet, symbolisiert wird.

Bis vor kurzem haben wir es nicht einmal gewagt, den König beim Namen zu nennen oder offen den Begriff Monarchie zu benutzen.

Pipob U.

Und wie unterscheiden sich die derzeitigen Demonstrationen von denen der Vergangenheit?

Besonders an diesen Protesten ist, dass es hauptsächlich sehr junge Menschen sind, die ihre Stimme erheben – und das auf eine Art und Weise, wie sie Thailand noch nicht gehört hat. Ihr Mut, die Dinge beim Namen zu nennen, ist unfassbar. Viele von uns Älteren schämen sich regelrecht dafür, was wir all die Jahre nicht haben aussprechen können: die Angst, die unser Leben bestimmt hat, all die offenen Geheimnisse und Tabus, die wir stillschweigend akzeptiert haben und die jetzt endlich explizit in Frage gestellt werden. Und das mit einer Sprache, die ruhig, sachlich und höflich ist, zugleich aber auch keine Zweifel daran lässt, dass eine neue Zeitrechnung begonnen hat und sich die Dinge gefälligst schleunigst zu ändern haben. Um nur ein Beispiel zu geben: Bis vor kurzem haben wir es nicht einmal gewagt, den König beim Namen zu nennen oder offen den Begriff Monarchie zu benutzen. Das waren für uns absolute No-Gos und wir fühlten uns genötigt, ständig irgendwelche Umschreibungen wie »die Institution« zu gebrauchen, besonders deshalb, weil das Majestätsbeleidigungsgesetz in Thailand vielleicht das schärfste der Welt ist und viele von uns bereits mehrmals unschuldig ins Gefängnis mussten. Und nun steht plötzlich eine 15-jährige Schülerin oder ein studentischer LGBT-Aktivist, manchmal auch ein armer Bauer aus dem ländlichen Nordosten, laut angefeuert von einer Gruppe von Drag Queens, einfach so auf einer Bühne und verlangt von König Vajiralongkorn, sich nicht mehr in die Politik einzumischen und sich auf Kosten des Volkes zu bereichern.

Lassen sich die staatliche Autoritäten und ihre Unterstützer das einfach so gefallen?

Offiziell wurde Anfang Oktober ein Notstandsgesetz beschlossen, das die Machthaber genutzt haben, um hart durchzugreifen und viele der Sprecher festzunehmen. Auch ein guter Freund von mir sitzt seit mehreren Wochen ohne Anklage in Haft und darf nur von seinen Anwälten und engsten Familienmitgliedern, unter strengen Auflagen, besucht werden, was offiziell mit dem Schutz vor der Ausbreitung des Coronavirus begründet wird. Außerdem hat es die ersten Fälle von offensichtlicher Folter gegeben. Ich möchte also keinesfalls den Eindruck erwecken, als wenn es nur eine Frage der Zeit wäre, bis sämtliche Forderungen erreicht würden, oder dass es ausreichend wäre, den König beim Namen zu nennen, und schon wären wir alle Probleme los. Trotzdem ist das, was hier in den letzten Monaten passiert ist, für unsere Verhältnisse wirklich unglaublich. Regierung, Staatsfernsehen und Polizei wissen nicht wirklich, wie sie auf diese neue Lage reagieren sollen, außer mit den ewig gleichen, schäbigen Repressionsmaßnahmen, die vielen Menschen aber einfach keine Angst mehr machen. Und was die sogenannten Gelbhemden, die Unterstützer der Monarchie und des politischen und wirtschaftlichen Staus quo, betrifft, so ist vor allem ihre absolute Hilflosigkeit, auf die extrem einfallsreiche Organisationsfähigkeit der Protestler zu antworten, bezeichnend. Sie schaffen es bis dato einfach nicht, der Vielzahl an politischen Protestaktionen – inklusive der unzähligen, künstlerisch hochwertigen Videos, Poster und Lieder – etwas entgegenzusetzen. Insofern macht es im Moment einfach nur große Freude, dies alles mitzuerleben, unabhängig davon, was die Zukunft letztlich bringen wird.

König Vajiralongkorn lebt seit Jahren vorrangig in der Bundesrepublik, wo die Boulevardpresse mit Genuss über seine zahlreichen Eskapaden berichtet. Vor wenigen Tagen kam es deshalb zu einer Großversammlung vor der deutschen Botschaft in Bangkok. Was wird von Deutschland erwartet?

Zunächst muss ich sagen, dass ich mir sicher bin, dass die große Mehrheit der thailändischen Bevölkerung nicht darüber informiert ist, wo genau der König sich aufhält, was er in seinem Alltag macht und, vor allem, wie viele Steuergelder – es wird von mehreren hundert Millionen gesprochen – er für sich und seine Familie beansprucht. Vielen von uns, die die Monarchie kritisch sehen, gefällt es hingegen überhaupt nicht, dass der König die meiste Zeit des Jahres in Deutschland lebt. Seit er 2016 seinen verstorbenen Vater beerbt hat, war er niemals länger als vier Wochen am Stück in Thailand. Im Gegenteil, er hat eigenhändig die Verfassung geändert, so dass er auch aus dem Ausland seinen Funktionen nachgehen kann. Wie ist es möglich, dass ihm seitens Deutschland und der EU erlaubt wird, von europäischem Boden aus Gesetze zu unterschreiben? Wie können sie so etwas billigen beziehungsweise so tun, als wären der König und seine Familie lediglich wegen der guten bayerischen Luft im Land? Wir fordern mehr Entschlossenheit von der deutschen Regierung, dem König nicht länger zu erlauben, von Deutschland aus seine Macht auszuüben und dem thailändischen Volk zu schaden. Leider sind unsere bisherigen Versuche, die deutsche Botschaft in Thailand dazu zu bewegen, dass Berlin die Monarchie für ihre zahlreichen Menschenrechtsverletzungen explizit ermahnt oder gar zur Rechenschaft zieht, bis jetzt auf taube Ohren gestoßen. Ende Oktober gab es zwar eine Erklärung von Außenminister Maas, dass die Aktivitäten des Königs überprüft würden, allerdings war die Sprache so uneindeutig, dass die Royalisten sein Statement dahingehend interpretierten, der König sei »freigesprochen«. Wir fordern also, dass den Worten jetzt endlich Taten folgen. Es muss mehr kommen von einem Land, dass sich der Verteidigung des Rechtsstaatsprinzips verschreibt und dies anderen Ländern und Regierungen auch ständig abverlangt.

Es bleibt die Frage nach der Zukunft.

Es mag mit meinem Alter zu tun haben und mit den vielen politischen Enttäuschungen der letzten Jahrzehnte: Ich befürchte, dass, trotz aller positiven Erlebnisse, Stimmungen und Hoffnungen, die uns die derzeitigen Proteste ermöglichen, die Zukunft blutig sein könnte. Natürlich kann es sein, dass ich zu pessimistisch bin, ich hoffe es sogar. Aber basierend auf der Tatsache, dass die staatliche Verfolgung der Protestler stetig zunimmt und dass auch in den letzten Wochen wieder einige thailändische Aktivisten im politischen Exil in Kambodscha und Laos verschwunden sind, habe ich wirklich Angst um unsere Zukunft. Die allgemeine Lage ist sehr ernst; ein neuerlicher Militärcoup kann nicht ausgeschlossen werden. Es wird noch viele Jahre des Kampfes bedürfen, bis die tief verwurzelte Monarchiehörigkeit aus den Köpfen der Menschen verschwunden ist und wir eine echte Chance auf ein demokratisches Thailand haben werden. Der Traum davon aber bleibt definitiv bestehen, auch wenn wir für unseren Widerstand sicherlich einen Preis zahlen werden müssen. Ich kann nur hoffen, dass dieser nicht all zu blutig sein wird.

Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn

Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn ist Theatermacher und gelegentlicher Verleger, zuletzt des englischsprachigen Sammelwerks Lenin150 (Samizdat). Seit 2007 lebt und arbeitet er hauptsächlich auf dem asiatischen Kontinent, vor allem in Afghanistan, Kirgistan und Südostasien.