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»Die Politik der Spaltung ist gescheitert«

Kamran Matin und Havri Yousefi über die Militarisierung der Staatsgewalt in den kurdischen Städten Irans

Interview: Dastan Jasim und Pedram Zarei

Porträtfotos von zwei Männern, links ein Mann mittleren Alters mit Brille, rechts ein Mann mit grauem Bart
»Letztlich können sich die Iraner*innen nur auf sich selbst verlassen.« Havri Yousefi, Redakteur des Nachrichtenmagazins Iranwire (links), und Kamran Matin, Professor für internationale Beziehungen an der Universität Sussex (rechts).

Die in Reaktion auf den Tod der 22-jährigen Kurdin Jina Amini begonnenen Proteste halten an. Das iranische Regime, das bis dato laut verschiedener Menschenrechtsorganisationen mehr als 300 Menschen ermordet hat, scheint überfordert. Gekränkt von dem Widerstandsgeist der Demonstrierenden versucht es, die Proteste an ihrem Anfangsort in den kurdischen Gebieten des Landes auch mit Hilfe des Militärs brutal niederzuschlagen.

Herr Yousefi, Sie verfolgen seit Jahren die politischen Geschehnisse in Ostkurdistan. Wie ist gerade die Lage, und was hat das iranische Militär vor?

Havri Yousefi: In den vergangenen Tagen (Stand Anfang Dezember, Anm. der Redaktion) wurde eine große Zahl von Menschen in den Städten Mahabad, Bokan (Bukan), Sine (Sanandadsch) und Juanro (Javanrud) durch staatliche Kräfte ermordet. Einheiten der Revolutionsgarde haben die kurdischen Städte militarisiert. Anstelle der Polizei haben sie dort die Aufgabe der Stadtkontrolle und Niederschlagung der Demonstrationen übernommen. Seitdem sehen wir Karawanen von Militärautos in den Städten herumfahren, mit Maschinengewehren und anderen schweren Waffen wird teils ziellos auf Wohnhäuser geschossen. Die Revolutionsgarde hat zudem an den Stadteingängen einiger Grenzstädte Kontrollpunkte eingerichtet. Das Regime will die Bevölkerung einschüchtern. So eine flächendeckende Militarisierung gab es nur in der Zeit nach der Revolution 1979. Der Aufstand in den kurdischen Städten wurde vorerst niedergeschlagen, ohne dass jedoch der vorherige Zustand wiederhergestellt werden konnte, wie die andauernde Militarisierung zeigt.

So eine flächendeckende Militarisierung gab es nur in der Zeit nach der Revolution 1979.

Havri Yousefi

Wie schützen sich die Menschen vor dem Militär und wie verläuft diese asymmetrische Auseinandersetzung?

Havri Yousefi: Die seit bald drei Monaten anhaltenden landesweiten Proteste werden sowohl in Form von Straßenprotesten als auch Generalstreiks organisiert. Die Aktivist*innen haben die Demonstrationen schnell von den Hauptplätzen der Städte an die am Rande liegenden Stadtviertel verlegt. Diese Taktik hat zu einer schnelleren und effektiveren Organisation der Proteste beigetragen. Darüber hinaus hat das zu einer Verwirrung und Überforderung der Sicherheitskräfte geführt.

Gleichzeitig mit den Protesten in den vier kurdischen Provinzen (West-Aserbaidschan, Kurdistan, Kermanschah und Ilam) haben sich Lehrkräfte, Schüler*innen, Ärzt*innen, Ingenieur*innen, Universitätsprofessor*innen, Studierende, Bauarbeiter, Arbeiter*innen in Produktionsbetrieben, insbesondere in der Stadt Sna, und sogar die Straßenbauarbeiter den Demonstrationen angeschlossen. Die Gleichzeitigkeit der Straßenproteste und Streiks zeigt, dass dieser neue Aufstand im Hinblick auf die Selbstorganisation und den Aufbau koordinierender Netzwerke erfolgreich neue Dimensionen erreicht hat, was wir in früheren Protesten nicht gesehen haben. Und das geschieht in einer Zeit – das dürfen wir nicht vergessen –, in der Hunderte Menschen ermordet und Tausende andere festgenommen und verletzt worden sind. Unter den Getöteten befinden sich allein in kurdischen Gebieten zehn Kinder.

Wie sieht die Solidarität der nicht-kurdischen iranischen Bevölkerung aus?

Havri Yousefi: Da diese Proteste in Kurdistan ihren Anfang nahmen und sich dann mit dem Slogan »Jin, Jian, Azadi« landesweit verbreitet haben, haben sie eine nie da gewesene Solidarität und Verbundenheit hervorgerufen. Diese Solidarität wurde nach Protesten von Iraner*innen in der Diaspora, etwa in Berlin und Toronto, und der Gedenkfeier von Jina Amini in der Stadt Seqiz (Saqqez) vertieft. Auf den ersten Blick scheint es jetzt so, dass die Solidarität des Rests der iranischen Bevölkerung im Zuge der Militarisierung in Kurdistan abgenommen habe, aber ich glaube nicht, dass es so ist.

Warum?

Havri Yousefi: Den Menschen in den nicht-kurdischen Teilen wurde jahrelang suggeriert, dass die Kurd*innen sich abspalten wollen und dass in Iran im Falle einer Revolution eine Situation wie in Syrien entstehen würde. Die neuen Proteste haben diese Propagandaerzählungen verdrängt. Die Menschen fürchten sich nicht mehr vor der Zukunft. Ein anderer wichtiger Punkt ist, dass die Organisationskraft der Kurd*innen aufgrund ihrer fast 44-jährigen Widerstandserfahrung ihnen die Möglichkeit gibt, präsenter zu sein. Die jetzige Solidarität mit Kurd*innen ist beispiellos in der Geschichte Irans. Sie verändert auch die Qualität des kurdischen Kampfes gegen das Regime, ein Regime, das 44 Jahre versucht hat, die verschiedenen Volksgruppen gegeneinander aufzuhetzen und religiöse Minderheiten zu dämonisieren. Die Politik der Spaltung ist nun gescheitert, und das ist der größte Sieg der Menschen.

Was aber noch besser sein könnte: Die nicht-kurdische Bevölkerung benötigt mehr Wissen über Organisation und Kooperation, damit sie zum Beispiel die Generalstreiks in den Schlüsselindustrien wie Öl- und Petrochemie sowie Streiks in den Bazaren der Metropolen effizienter organisieren können.

Havri Yousefi (links) und Kamran Matin (rechts)

Havri Yousefi & Kamran Matin

Havri Yousefi ist Journalist und Redakteur des Nachrichtenmagazins Iranwire. Kamran Matin ist Professor für internationale Beziehungen an der Sussex Universität in Großbritannien.

Herr Matin, der UN-Menschenrechtsrat hat eine Resolution zu Iran verabschiedet. Was muss noch geschehen? Welche politischen Maßnahmen sind nötig?

Kamran Matin: Die Versammlung des UN-Menschenrechtsrates war ein wichtiger Schritt, um die Islamische Republik Iran für ihre systematischen Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen. Es ist wichtig, dass die Menschenrechtsverletzungen der IRI in den einschlägigen UN-Gremien auf höchster Ebene ein lebendiges und aktives Thema bleiben. In diesem Zusammenhang ist auch die Verurteilung der Tötung von minderjährigen Protestierenden durch UNICEF eine begrüßenswerte Entwicklung.

Es gibt jedoch noch weitere Schritte, die auf internationaler Ebene unternommen werden können, ohne den Umweg über die UNO gehen zu müssen.

Welche zum Beispiel?

Kamran Matin: Die IRI hat ihr Vorgehen gegen Aktivist*innen und regimekritische Journalist*innen im Ausland, vor allem in Europa und Kanada, verschärft. Aus den vergangenen 40 Jahren, in denen die IRI ihre Oppositionellen im Exil ins Visier genommen hat, wissen wir, dass die Botschaften und diplomatischen Vertretungen der IRI eine zentrale Rolle bei der außergerichtlichen und extraterritorialen Verfolgung politischer Aktivist*innen spielen. Die Regierungen der EU und Kanadas könnten sicherstellen, dass die iranischen diplomatischen Vertretungen im Ausland nicht als Koordinierungs- und Durchführungszentren für die Angriffe auf iranische Dissidenten im Ausland genutzt werden. Sie können auch mit den wichtigsten Oppositionsgruppen gegen die IRI Kontakt aufnehmen und ihnen Gehör schenken, insbesondere den Minderheiten, insbesondere den Kurd*innen, sowie unabhängigen Frauen-, Arbeits- und Menschenrechtsorganisationen.

Was wird der Westen tun? Wie schätzen Sie die Position der EU und USA im Moment ein?

Kamran Matin: Vieles hängt von der Langlebigkeit der Revolution in Iran und den Verhandlungen über die Wiederbelebung des Iran-Atomabkommens ab. Der Westen, insbesondere die USA, ist daran interessiert, dieses Abkommen zu besiegeln, wofür sie einen Gesprächspartner brauchen, der für das iranische Atomprojekt verantwortlich ist, was derzeit die Islamische Republik Iran ist. In Ermangelung pro-westlich organisierter und einflussreicher Oppositionsgruppen besteht der instinktive Ansatz des Westens und der USA darin, Iran unter dem Druck der dortigen Revolution, auf die er wenig oder gar keinen Einfluss hat, zu einem Abkommen zu drängen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die iranische Regierung bei den Verhandlungen Flexibilität zeigt, solange die Proteste andauern, da sie dies als falsches Signal sowohl im Inland als auch auf internationaler Ebene ansehen würde.

Und die EU?

Kamran Matin: Die EU ist, wie der Westen generell, zwar nicht an einem politischen Wandel interessiert, auf den sie wenig Einfluss hat, aber sobald sie davon überzeugt ist, dass dieser Wandel dennoch stattfindet, wird sie mit Sicherheit versuchen, ihre Politik entsprechend anzupassen. All dies bestätigt erneut, dass sich die Iraner*innen letztlich nur auf ihre eigene Handlungsfähigkeit und Macht verlassen können.

Letztlich können sich die Iraner*innen nur auf die eigene Handlungsfähigkeit verlassen.

Kamran Matin

Wie schätzen Sie die Beziehungen zwischen der Türkei und Iran derzeit ein? Koordinieren sie sich, so wie es viele vermuten?

Kamran Matin: In beiden Ländern gibt es eine innenpolitische Krise, für die sie eine, wenn auch nur temporäre, Lösung suchen, indem sie ihr Vorgehen gegen die Kurd*innen sowohl im eigenen Land als auch über die Grenzen hinweg verstärken. Auf dieser Ebene könnte tatsächlich eine gewisse Koordinierung stattgefunden haben. Abgesehen von ihrer gemeinsamen strategischen antikurdischen Politik haben Iran und die Türkei jedoch auch ernsthafte Spannungen miteinander in der Region. In Syrien unterstützen sie gegnerische Seiten, ebenso im Kaukasus, wo die türkisch-aserbaidschanische Allianz den russisch-iranischen Einfluss erheblich beschnitten und Armenien, den De-facto-Verbündeten Irans, an den Rand gedrängt hat. Die rasche Annäherung zwischen der Türkei und Saudi-Arabien wird wahrscheinlich auch zu Problemen zwischen Iran und der Türkei führen. Aber im Moment hält ihre antikurdische Haltung sie zusammen.

Welche Rolle spielt die kurdische Opposition in der Diaspora? Was tut sie, und was kann sie tun?

Kamran Matin: Sie kann eine organsiertere und aktivere Stimme des kurdischen Volkes in Rojhelat sein, wo die Menschen täglich fast alles opfern, um die Revolution für »Frau, Leben, Freiheit« weiterzuführen. Eine vollständige politische und organisatorische Konvergenz zwischen den verschiedenen Strängen der kurdischen Opposition im Exil oder in Kurdistan ist allerdings unrealistisch und vielleicht nicht einmal wünschenswert aufgrund der Notwendigkeit einer demokratischen, pluralistischen kurdischen politischen Landschaft. Doch angesichts der schicksalhaften Situation, in der sich die Kurd*innen in allen Teilen Kurdistans, vor allem aber in Rojhelat und Rojava, derzeit befinden, ist ein grundlegendes Maß an politischer Koordination und diskursiver Einheit in bestimmten Fragen, z.B. ein gemeinsamer Aufruf zum Generalstreik, ein gemeinsamer Umgang mit nicht-kurdischen Oppositionsgruppen und internationalen Akteuren, sowohl möglich als auch höchst wünschenswert.

Dies ist in gewissem Maße bereits in Rojhelat geschehen, wo alle wichtigen kurdischen Parteien ähnliche Aufrufe zum Generalstreik am gleichen Tag veröffentlicht haben. Diese ersten Initiativen können beispielsweise zu einem »ständigen Koordinationskomitee« weiterentwickelt werden, das alle wichtigen kurdischen Parteien in Rojhelat umfasst, um die Aktivitäten zur Unterstützung der Rojehalti-Kurd*innen in ihrem laufenden Kampf gegen die IRI zu koordinieren.

Dastan Jasim

ist Politikwissenschaftlerin und Doctoral Fellow am German Institute for Global and Area Studies. Gerade ist sie in Sulaimaniya in der Kurdistan-Region Irak, wo sie Feldforschung zu ihrem Dissertationsprojekt über die politische Kultur von Kurd*innen durchführt.

Pedram Zarei

ist mehrsprachiger Übersetzter, Journalist und politischer Aktivist aus Rojhelat (Ostkurdistan). Er lebt seit vier Jahren als politischer Geflüchteter in Deutschland. Zu seinen Interessengebieten gehören die kurdische Frage, Kritische Psychologie und Kultursoziologie.

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