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Eine Kompradoren­bourgeoisie im revolutionären Gewand

Die Hamas verspricht die radikalste Form des Widerstands – dabei ist sie die Vertreterin einer konformistischen Revolte

Von Elfriede Müller

Eine Menschenansammlung, im Hintergrund eine Bühne, dahinter große Bilder mit dem Gesicht zweier Männer.
Wählen kann man sie auch: öffentliche Veranstaltung der Hamas in Ramallah/Westjordanland 2007. Foto: Hoheit / Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.0 DE

Die Islamische Widerstandsbewegung (Hamas) ist seit 20 Jahren die stärkste Organisation in Gaza. Der Überfall von 2.500 palästinensischen Kämpfern und circa Hundert Zivilisten auf Israel sorgt seit dem 7. Oktober 2023 für massive Umwälzungen in der Region. Die Bewaffneten stürmten um die zwölf Militärbasen sowie dreißig Gemeinden, richteten ein Blutbad an und nahmen Geiseln.

Der Überfall wurde von den Qassam-Brigaden der Hamas, den Al-Quds-Brigaden des Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ), und weiterer Milizen – darunter auch von der PFLP, der ehemals linkesten Gruppe der PLO – aus dem Gazastreifen verübt. Die PLO ist eine Dachorganisation mit dem Anspruch alle Palästinenser*innen zu vertreten. Sie wurde 1964 gegründet, Jassir Arafat war von 1969 bis zu seinem Tod ihr Vorsitzender. Heute verwaltet sie das Westjordanland.

Trotz gegenteiliger Behauptungen war dies kein Überfall aus dem nichts. Der Angriff am 7. Oktober hat eine lange Vorgeschichte der Besatzung und Repression gegen die palästinensische Bevölkerung, welche die Gewalt erklärt und in einen historischen Kontext setzt, ohne dass dies eine Legitimation darstellt. Da Geschichte kontingent ist und keinen mechanischen Gesetzen folgt, war diese Form des Angriffs auf Israel nicht die einzige Möglichkeit, wie die palästinensischen Gruppen auf die anhaltende Besatzung hätten reagieren können. Eine linke Position sollte die Geschichte des 20. Jahrhunderts und ihrer Dialektik der Gewalt im Auge behalten und nicht vergessen, dass Widerstand immer eine Dynamik entwickeln kann, die emanzipatorische Intentionen aufhebt, wenn sie sich Mitteln bedient, die Emanzipation und Menschlichkeit widersprechen. Nie dürfen Linke dieselben Methoden wie ihre Gegner anwenden.

Die Hamas ist keine linke, sondern eine konterrevolutionäre Organisation, die Palästinenser*innen der systematischen Tötung aussetzt, den Märtyrertod verherrlicht, interne Kritik unterdrückt und ihre Form von Widerstand als göttliches Gebot präsentiert. Ihr fehlt jeglicher politischer Horizont und die Körper der Palästinenser sind ihr Werkzeug. Sie ist eine politische Bewegung, eine Wohlfahrtsorganisation und Miliz in einem. Dabei unterscheidet sie strikt zwischen militärischen und politischen Aktionen. Seit 2006 stellt sie die Regierung in Gaza, die sich auch durch die wohlwollende Zurückhaltung der israelischen Regierung durchsetzen und festigen konnte. In kongenialer Zusammenarbeit vermochten die israelische Rechte und die Islamisten alle Friedensbemühungen in der Region scheitern zu lassen.

Konkurrenz zwischen PLO und Hamas

Die Hamas wurde 1987 in Konkurrenz zur PLO in Gaza gegründet. Der Hauptakteur, Ahmed Yassin, wurde dabei auch von Israel unterstützt; Das religiöse Lager zu stärken, war eine Möglichkeit, um die einheitliche politische Organisierung der Palästinenser zu verhindern, die mit aller Härte und Killerkommandos bekämpft wurde. Attraktiv schien für Israel die ägyptische Muslimbruderschaft[1], aus der die Hamas entstand. Während der ersten Intifada begründete die Hamas ihren Kampf religiös, ließ aber nach und nach auch nationalistische Töne einfließen. So wird für die Vereinbarkeit von Islam und nationaler Sache geworben.

1988 veröffentlichte die Hamas ihre Gründungscharta mit einem theologisch und antisemitisch definierten Feindbild Israel: Gottes Plan sei die Vertreibung aller Juden*Jüdinnen, die der Weltherrschaft bezichtigt wurden, eine Referenz auf die »Protokolle der Weisen von Zion«.

Am 15. November 1988 rief der Palästinensische Nationalrat in Algier, dem unter anderem Arafat angehörte, den unabhängigen Staat Palästina aus. Dies bestärkte die Hamas, sich als national-religiöses Gegengewicht zu positionieren. Finanziert wurde sie damals von den jordanischen Muslimbrüdern und Kuwait. Es gab Kampfgruppen allein zur Verfolgung der Kollaboration mit Israel verdächtigter Palästinenser.

Die Weigerung Israels, direkte Verhandlungen mit palästinensischen Vertreter*innen und die Gründung eines palästinensischen Staates anzuerkennen, war Wasser auf den Mühlen der Hamas. Die Straßenkämpfe mit der PLO wurden blutiger, die Liquidierungen von »Kollaborateuren« grausamer und spektakulärer. Selbstmordattentate, auch gegen Zivilist*innen, wurden zur beliebtesten Kampfform. Diese wurden ausgerechnet von der PFLP in den 1970er Jahren von dem syrisch-palästinensischen Ex-Offizier Ahmad Dschibril, als Mittel eingeführt, die Hamas begann erst 1993 mit solchen Anschlägen.

Die Folgen von Oslo

Die Gegner innerhalb der PLO des Osloer Abkommens begingen einen Schulterschluss mit der Hamas, woraufhin sich die sogenannte Ablehnungsfront aus Hamas, PIJ, DLFP, PFLP und weiteren Gruppen formierte. Basis des Bündnisses war der Konsens, Israel dürfe nicht existieren und müsse durch ein Palästina »from the river to the sea« ersetzt werden. Wo sich die Positionen unterschieden, waren die Vorzeichen dieser Forderung: DFLP und PFLP forderten damals noch ein sozialistisches, Hamas und andere Gruppen ein islamisches Palästina. Die Unterordnung der PFLP und anderer säkularer Gruppen unter die Führung der Hamas ließ ihre eigene politische Agenda immer mehr verschwinden, heute sind eigene Positionen kaum noch erkennbar und ihr Einfluss sinkt seither konstant.

Nach der Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin durch einen radikalen Zionisten 1995 und dem jähen Ende der Osloer Friedensgespräche, radikalisierte sich die israelische Gesellschaft. Dies entsprach dem Ziel der Hamas, um weitere Friedensverhandlungen zu verhindern. Am 4. Mai 1999 kündigte Arafat erneut einen unabhängigen palästinensischen Staat mit Ostjerusalem als Hauptstadt an. Der damalige Ministerpräsident Ehud Barak lehnte Ostjerusalem als palästinensische Hauptstadt ab und war auch darüber hinaus nicht sehr bemüht, dass Friedensverhandlungen erfolgreich verlaufen. Auch Ariel Scharon, ab Februar 2001 neuer Ministerpräsident, stärkte die Rolle der Hamas als Opposition zur PLO.

Der PLO entglitt die Kontrolle über die Autonomiegebiete, weshalb sie versuchte mit den Selbstmordattentaten der Hamas mitzuhalten. 2003 wurde von den USA, Russland, der EU und den Vereinten Nationen die »Roadmap« entwickelt, welche die Errichtung eines palästinensischen Staates in drei Phasen vorsah, woraufhin die PLO und ihr erster Ministerpräsident Abbas zur Beendigung des bewaffneten Kampfes aufriefen. Parallel dazu taten die israelische Rechte und die Hamas alles, um die Auseinandersetzungen zu polarisieren. In dem sie jede Verhandlung verweigerten, trieben sie die Gewaltspirale hoch und versuchten die Roadmapzu verhindern, was ihnen schließlich auch gelang.

Der Abzug Israels aus dem Gazastreifen 2005 führte zu einer Stärkung der Hamas, die 2006 die Autonomieratswahlen in Gaza gewann. In der Westbank und in Gaza kam es anschließend immer wieder zu Schießereien zwischen Fatah- und Hamasanhängern. Die jahrzehntelange Dominanz der PLO wurde durch einen Putsch der Hamas von 2007 gebrochen. Ein linker Diskurs in Gaza war nicht mehr möglich.

Jenseits der Organisierung

Nun herrschten in Gaza und der Westbank zwei parallel agierende Regierungen, die sich gegenseitig nicht anerkannten. Das Parlament in Gaza verabschiedete 2008 ein »Gesetz zum palästinensischen Widerstand«, dass die Vertreibung der zionistischen Besatzung als heilige Pflicht festschrieb und den bewaffneten Kampf institutionalisierte. Dieser Doppelcharakter der Hamas zwischen Regierung und Guerilla führte auch zu konfusen linken Positionen, die ihre selbstdeklarierte Widerstandsrolle und Hegemonie akzeptierten, statt eigenständige linke Positionen zu entwerfen. So schrieb etwa Marx 21 zum Angriff der Hamas 2023: »Er war ein Schlag des Ausdrucks eines Befreiungswillens einer gewissen Gruppe.« Aber für was und für wen?

Die militärische Belästigung von Israel aus dem Gazastreifen, eine wirkliche Bedrohung sind die baufälligen Raketen der Hamas und des PIJ nicht, führte zu seiner Abriegelung im Jahr 2006. Die internationale Gemeinschaft hatte weder Einfluss auf Israels harte Reaktionen noch gegen die Menschenrechtsverletzungen der Hamas. Letztendlich erkannte Israel Hamas‘ Souveränität über Gaza an.

Das zionistische Versprechen eines sicheren Ortes für alle jüdischen Menschen ist vor den Augen der Welt zerbrochen.

Der Gazakrieg von 2014 markierte eine weitere Eskalationsstufe. Der israelischen Regierung wurde schon damals vorgeworfen, auf die Bedrohung durch die Tunnel der Hamas nicht vorbereitet gewesen zu sein und keine politische Lösung des Konfliktes zu haben. Der Krieg dauerte 51 Tage und vernichtete ein Fünftel der Agrarfläche Gazas. Eine Konsequenz des Kriegs war die 2021 fertig gestellte Grenzbarriere, die von ihren Gegner*innen als »Mauer der Apartheid« beschrieben wird. Zwar wurden die Osloer Friedensverträge weiterhin abgelehnt, die Hamas ließ nun aber die Möglichkeit eines israelischen Staates neben Palästina offen und erkannte somit implizit die Zweistaatenlösung an.

Doch auch friedliche Versuche der palästinensischen Reorganisierung scheiterten: Die palästinensischen Massenproteste am Grenzzaun 2018 forderten auf palästinensischer Seite mehr als hundert Tote und mehrere Tausend Verletzte. Im Mai 2018 schlossen sich daraufhin die zwölf im Gazastreifen operierenden Milizen unter dem Namen »Gemeinsamer Operationsraum« zusammen.

Als 2022 die rechtsradikale Regierung Israels unter Führung von Netanjahu an die Macht kam, nahm der Siedlungsbau im Westjordanland und die Gewalt gegen Palästinenser*innen in allen Bereichen zu. Von israelischen Friedensverhandlungen mit arabischen Staaten wurden die Palästinenser ausgeschlossen, ihre Zukunft spielte keine Rolle. Innerhalb Israels wurde die Justizreform diskutiert und gegen sie protestiert. In der Westbank nahmen parallel die Angriffe und Überfälle zu. Israelische Siedler zerstörten, teilweise unterstützt vom israelischen Militär, in pogromartigen Ausschreitungen ganze Dörfer.

In diesem aufgeheizten Kontext fand am 7. Oktober der Angriff aus dem Gazastreifen statt. Israel reagierte mit den schwersten Bombardements in der Geschichte des Konflikts. Die innerisraelische Kritik am Sicherheitsversagen des Staates wurde sofort im Krieg erstickt, Netanjahu versicherte, volle Rache üben zu wollen und Orte der Hamas in Trümmer zu verwandeln. Das zionistische Versprechen eines sicheren Ortes für alle Juden*Jüdinnen war vor den Augen der Welt zerbrochen. Die Verantwortung dafür trägt Netanjahu, der nie politische Schritte im Umgang mit Palästina ins Auge gefasst hat.

Die Hamas sollte in linken Debatten als das bezeichnet werden was sie ist: die konformistische Revolte gegen die Unterdrückung und den Krieg Israels. Es ist an der Zeit, eine alternative palästinensische Erzählung zuzulassen, ohne Religion, Zerstörung und Opferkult. Die Hamas ist genau wie die israelische Besatzung und Krieg politisch zu bekämpfen.

Elfriede Müller

ist Teil der jour fixe initiative Berlin.