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Die größte Besetzung Griechenlands

Im Squad Prosfygika in Athen haben sich über 400 Menschen zusammengefunden und kämpfen gemeinsam um dessen Erhalt

Von Philipp Leserer

Ein geschichtsträchtiger und widerständiger Ort: Die alten Häuser von Prosfygika. Foto: Philipp Leserer

Im zentralen Athener Stadtteil Ambelokipi, zwischen dem Obersten Gerichtshof und der Hauptwache der Polizei, gegenüber dem Stadion von Panatheneikos Athen, liegt der Komplex Prosfygika. Die acht dreistöckigen Gebäude stechen aufgrund ihrer alten Bausubstanz hervor. Hinter dem abblätternden Putz verbirgt sich aber auch eine lange Geschichte politischer Kämpfe.

Der griechische Staat errichtete den 1,4 Hektar großen Komplex in den 1930er Jahren, für jene Generation an Vertriebenen, die infolge der Zwangsumsiedlungen nach dem griechisch-türkischen Krieg (1919-1922) ins Land kamen. Prosfygika bedeutet übersetzt: Flüchtlinge. Die Gebäude im Bauhausstil sollten den Ärmsten der Geflohenen eine Unterkunft bieten. Zu Zeiten der Besatzung durch den deutschen Faschismus und dem darauffolgenden Bürgerkrieg wurde Prosfygika dann auch ein Ort des Widerstands. Antifaschistische Widerstandskämpfer*innen wurden im Viertel aufgenommen, sie errichteten geheime Durchgänge zwischen den Wohnungen und organisierten Gefangenenunterstützung. Ein Gedenkstein vor den Blocks erinnert daran.

In den 2000er Jahren hatten viele der ursprünglich politisch aktiven Bewohner*innen die Nachbarschaft verlassen, waren in andere Stadtteile umgezogen, und die politische Prägung des geschichtsträchtigen Ortes ging in weiten Teilen verloren. Im Zuge der städtischen Sanierungsmaßnahmen anlässlich der Olympischen Spiele, die 2004 in Athen stattfanden, änderte sich dies wieder. Geplant war damals, alle Wohneinheiten aufzukaufen und den gesamten Komplex abzureißen. Dies scheiterte am Widerstand der verbliebenen Bewohner*innen, die mit Erfolg dagegen klagten und so den Abriss ihrer Wohnungen verhinderten. Der Komplex wurde stattdessen unter Denkmalschutz gestellt. Zugleich begannen damals Obdachlose, Drogenkonsument*innen und (politische) Refugees leerstehende Wohnungen in Prosfygika zu besetzen. Während der Olympischen Spiele 2004 wurde der unliebsame Komplex hinter Planen vor den Augen der internationalen Öffentlichkeit versteckt. Die Troika wiederum setzte den Gebäudekomplex 2011 auf eine Liste von Staatseigentum, darunter auch der Hafen von Piräus, das über einen von den Gläubigern Griechenlands geforderten Privatisierungsfonds insgesamt 50 Milliarden Euro einbringen soll.

Kinder, Alte und Aktivist*innen

»Aufgewertet« wurde das Viertel bis heute nicht. Mit über 400 Bewohner*innen, die allermeisten ohne regulären Mietvertrag, gilt Prosfygika aktuell vielmehr als die größte Besetzung Griechenlands. Während die ersten Besetzungen vor allem aus der Not der Menschen heraus geschahen, gesellten sich nach dem Mord an dem erst 15-jährigen Alexis Grigoropoulos im Dezember 2008 durch einen Polizisten, der zu heftigen Ausschreitungen führte, und nach den aufkommenden Krisenprotesten, auch politische Aktivist*innen aus dem anarchistischen Spektrum zu den Besetzer*innen. Im Jahr 2010 gründete sich die bis heute existierende »Gemeinschaft des besetzten Prosfygika«.

Die Troika setzte den Gebäudekomplex 2011 auf eine Liste von Staatseigentum, das über einen von den Gläubigern Griechenlands geforderten Privatisierungsfonds insgesamt 50 Milliarden Euro einbringen soll.

In die Besetzung eingebunden sind heute verschiedene autonomen Strukturen, darunter ein Frauen*-Café, eine Bäckerei, ein Kinderhaus mit Betreuung, migrantische revolutionäre Gruppen, um nur einige zu nennen. Die Bewohner*innen sprechen Griechisch, Englisch, Türkisch, Deutsch, es sind Athener Anarchist*innen, Menschen proletarisierter Klassen, Internationale Aktivist*innen, Refugees, Kinder, Alte. Manche sind nur auf der Durchreise, um weiter Richtung Zentraleuropa zu gelangen oder unterstützen das Projekt nur für ein paar Wochen, andere leben hier dauerhaft. Um die politischen Kämpfe zu unterstützen oder weil ihnen die Verhältnisse keine andere Wahl lassen, als zu kämpfen, organisieren sich hier unterschiedliche Menschen zusammen.

Das Viertel ist ein Konglomerat von diversen Interessen und politischen Vorstellungen. Verbindliche Organisierung, eine gemeinsame Strategie und politische Pluralität sind im Prosfygika keine Widersprüche. Sie nennen es Kommunalen Konförderalismus, eine Räteorganisierung angelehnt an die kurdische Bewegung. Neben den autonomen Strukturen ist die wöchentlich stattfindende Assambly zentral. Hier werden alle Punkte diskutiert, koordiniert, basisdemokratisch beschlossen und wöchentliche Aufgaben verteilt. Darüber hinaus gibt es »politische Mitglieder«, die alle zwei Jahre gewählt werden und »Vollzeit« für einen grundlegenden Überblick und die politische Linie verantwortlich sind. Den Strukturen wird größtmögliche Autonomie gelassen, jedoch im Rahmen des Kommunalen Konförderalismus, mit dem gemeinsamen Ziel einer freien, solidarischen Gesellschaft.

Inspirationen aus Rojava

Internationalismus ist für das Projekt ein wichtiger Bezugspunkt. Der kurdische Freiheitskampf und die Anwesenheit kurdischer Gruppen liefern der Besetzung nicht nur Inspiration, einige Bewohner*innen haben sich den Strukturen in Rojava auch aktiv angeschlossen und ihre Erfahrungen mit zurück nach Prosfygika gebracht. Nicht allen jedoch gelang der Wechsel zwischen den so verbundenen Welten: Der Anarchist Haukur Hilmarsson, an den ein Wandgemälde und Plakate am Gebäudekomplex erinnern, starb im Februar 2018 bei der Verteidigung des Kanton Efrîn bei einem Artillerieangriff der türkischen Armee.

Das Projekt Prosfygika bezieht seine Stärke jedoch nicht daraus, Rojava imitieren zu wollen, sondern daraus, die Erfahrungen aus anderen Kämpfen angepasst an die lokalen Verhältnisse zu nutzen. Ein anarchistischer Einfluss ist bis heute stark. Undogmatisch, libertär und dennoch fest organisiert wurde aus einem Demokratischem Konförderalismus des Rojava-Projekts ein Kommunaler Konförderalismus in Athen. Der Unterschied besteht vor allem in der anarchistischen Stoßrichtung und der Ablehnung des Begriffes Demokratie.

Die Stadt durchlebt einen immer weitreichenderen Gentrifizierungsprozess. Bezahlbarer Wohnraum ist Mangelware, und es entstehen immer mehr hochpreisige Wohnungen, viele werden über AirBnB vermietet. Der Athener Immobilienmarkt boomt nach der Krise und ist zu einem lukrativen Anlagemarkt für ausländische Investor*innen geworden. Die Athener Verwaltung treibt die Erneuerung der Stadt voran, die in immer weiteren Teilen kapitalistischen Verwertungsinteressen unterworfen wird. Der Komplex Prosfygika und der umliegende Stadtteil Ambelokipi sind hiervon nicht ausgenommen.

Nach dem verhinderten Abriss des Viertels verfolgt die Stadt mittlerweile eine neue Strategie. In den ersten beiden Blocks soll ein Migrations-Museum entstehen. Diese beiden ersten Blocks gehören rechtlich komplett der Stadt, auch der Großteil der übrigen Wohnungen ist in deren Besitz, vereinzelt jedoch auch noch Privateigentum. Gleichzeitig schert sich die Stadtregierung seit Jahren nicht um Refugees. Es gibt immer weniger Wohnraum für Geflüchtete, und polizeiliche Repressionen gegen migrantisierte Menschen nehmen weiter zu. In den restlichen, nicht besetzen Gebäuden von Prosfygika sollen Wohnungen angeboten werden. Gerechtfertigt wird dies unter anderem damit, dass Wohnraum für gefährdete Gruppen benötigt würde. Aus der Feder einer Stadtverwaltung, die sich ansonsten nicht im geringsten für diese Gruppen interessiert, die den innerstädtischen Aufwertungsprozess im Eiltempo vorantreibt und der Prosfygika seit jeher ein Dorn im Auge ist, klingt das nach einer schlecht versteckten »Social-Washing«-Strategie.

Zusammen mit den Menschen aus dem benachbarten, als wiederständig bekannten Stadtteil Exarchia kämpfen die Bewohner *innen auch dort gegen eine Aufwertung.

In den Wohnungen des Prosfygika leben schon jetzt genau diese Menschen aus den unteren Klassen und Refugees, denen die Stadtregierung angeblich Raum schaffen möchte und die bei einer Aufwertung des Viertels als erste ihr Dach über dem Kopf verlieren würden. Besetzung und Selbstorganisation ist für sie deshalb kein Selbstzweck, sondern ein konkreter Kampf gegen diesen Verdrängungsversuch und gegen Gentrifizierung. Für sie ist kollektive Organisation eine notwendige Form des Kampfes.

Dass diese Organisierung allein ausreichen wird, um eine Räumung des Viertels zu verhindern, daran glauben auch die Besetzer*innen nicht. Sie rechnen zuerst mit einem Räumungsversuch der ersten beiden Blocks, die für das Museum vorgesehen sind, und versuchen, Gegenöffentlichkeit aufzubauen, die Social-Washing-Strategie zu dekonstruieren, Demonstrationen und Aktionen, etwa vor Büros städtischer Verwaltung, zu organisieren. Zugleich bereiten sie sich darauf vor, eine Räumung nicht widerstandslos über sich ergehen zu lassen. Dafür werden Vorkehrungen für die Verteidigung getroffen. Der Polizei soll es am Tag X möglichst schwer gemacht werden.

Dass Prosfygika nicht allein gegen den gesamtstädtischen Aufwertungsprozess ankommen kann, ist für die Bewohner*innen eine zentrale Erkenntnis. Zusammen mit den Menschen aus dem benachbarten, als widerständig bekannten Stadtteil Exarchia kämpfen sie auch dort gegen eine Aufwertung. In den letzten Jahren wurde in Exarchia ein Großteil der Besetzungen geräumt und das Viertel durch immer mehr AirBnB-Wohnungen für Tourist*innen zugänglich gemacht. Auch die Polizeipräsenz hat massiv zugenommen. Als nächste Schritte sollen auf dem zentralen Platz eine Metrostation entstehen und der Hügel Lofos Strefie weiter aufgewertet werden. Das damit verbundene Ziel der Stadtverwaltung ist nicht nur eine Wertsteigerung der Immobilien und Baugrundstücke, sondern auch ein Prozess der Befriedung, um den Stadtteil attraktiver für Investitionen zu machen. Dagegen versuchen die Initiativen, gemeinsame Strategien zu finden und zugleich Verbindungen untereinander zu schaffen, um den drohenden Räumungen etwas entgegensetzen zu können.

Kämpfen statt romantisieren

Was aber können wir hierzulande von Prosfygika lernen? Soziale Bewegungen müssen hier wie dort Strategien finden, um aus ihrer Marginalität herauszukommen. Das bedeutet, die eigene Wohlfühlblase zu verlassen und sich ins politische Handgemenge von Klassenpolitiken zu begeben. Urbane Kämpfe gegen Gentrifizierung und Verdrängung bieten die Möglichkeit, bei den konkreten Problemen vieler Menschen gemeinsam anzusetzen und sich im Aufbau von Strukturen und Kampffeldern zu erproben, anstatt sich um sich selbst zu drehen und sich in politischen Grundsatzdiskussionen zu verlieren. Die Idee einer Räteorganisation nach kurdischem Vorbild nimmt dabei auch hierzulande Fahrt auf, so etwa bei den »Kiezkommunen« oder der »Initiative Demokratischer Konföderalismus«. Es lohnt sich, auf den Erfahrungen aus Athen aufzubauen.

Andererseits kann es nicht darum gehen, das Projekt Prosfygika zu romantisieren. Eine Struktur, die versucht, konkrete Kämpfe abseits der eigenen politischen Isolation zu führen und damit einen identitären Politkstil zu überwinden, ist notwendig – im Kleinen wie im Großen – mit Widersprüchen und Reibungen konfrontiert. Die politische Einbindung von Menschen, die nur ein Dach über dem Kopf und nicht um größere politische Ziele kämpfen wollen, ist nur ein Konflikt von vielen, der täglich neu ausgehandelt werden muss. Und: Eine massenhafte Besetzung von Wohnraum als Antwort auf die zunehmende Verdrängung und soziale Spaltung scheint in Deutschland derzeit schlicht utopisch.

Nichtsdestotrotz braucht es auch hier eine pluralistische und dennoch verbindliche Bewegung, die genau das nicht als Widerspruch, sondern als Stärke begreift. Um über den eigenen Horizont zu blicken, müssen pragmatisch verschiedene Ansatzpunkte verbunden, neue unorthodoxe Wege gegangen und geeignete Strukturen geschaffen werden. Und dafür kann uns Prosfygika sehr wohl als Vorbild dienen.

Philipp Leserer

ist aktiv bei stadtpolitischen Initiativen gegen Gentrifizierung und Verdrängung. Er beschäftigt sich mit Themen um Zwangsräumungen und finanzialisiertem Wohnen.