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|ak 677 | Soziale Kämpfe

Das Ziehkind vor dem Vatermord?

Überlegungen zur Situation von Organizing in Deutschland

Von Slave Cubela

Eine der Vordenker*innen des Organizing: die US-Amerikanerin Jane McAlevey. Foto: Rosa Luxemburg Stiftung/YouTube

Organizing ist in der bundesdeutschen Linken angekommen. Innerhalb der DGB-Gewerkschaften, in der Linkspartei und der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS), in linken Zentren/Stadtteilinitiativen, aber auch in der betriebspolitischen Berater*innenszene (ORKA, Organizi.ng) gibt es inzwischen ein breites Netzwerk von Organizing-Aktivist*innen, das mit viel Enthusiasmus und Können langsam aber sicher an gesellschaftlichem Einfluss gewinnt. Insofern überrascht es keineswegs, dass diese Ausgangsthese durch zwei außergewöhnliche Organizing-Erfolge in Deutschland bestätigt wird, die andeuten, welche aufregende Entwicklung linkes Organizing in Deutschland noch nehmen könnte: einerseits die fulminante und sehr professionelle ver.di-Krankenhaus-Kampagne in Berlin und anderseits der erstaunliche Erfolg der Volksentscheids-Initiative von Deutsche Wohnen und Co enteignen in Berlin.

Ein oftmals verschwiegener Teil dieser Erfolgsgeschichte von Organizing in Deutschland ist die äußerst enge Verknüpfung des Aufstiegs von Organizing mit der Krise der sozialdemokratischen Großorganisationen hierzulande. Denn: Auf der ideellen Ebene hat Organizing in Deutschland ohne Zweifel viele Mütter und Väter – man denke an den express, die Gewerkschafter Peter Bremme und Anton Kobel, die US-Organizer*innen Valery Alzaga, Jeffrey Raffo und Jane McAlevey usw. Gleichzeitig jedoch wären diese Bemühungen ins Leere gelaufen, wenn Organizing in Deutschland nicht materiell ein Ziehkind der Sozialdemokratie geworden wäre, wenn es also den massiven finanziellen Anschub durch DGB-Gewerkschaften, die Linkspartei oder die RLS nicht gegeben hätte.

Warum wird Organizing gefördert?

Um die folgenden Überlegungen zur Rolle von Organizing in der Krise der sozialdemokratischen Großorganisationen zu präzisieren, ist es sinnvoll, die Sozialdemokratie in Deutschland näher zu bestimmen. Hierbei sind fünf zentrale Momente hervorzuheben:

Erstens: Die Sozialdemokratie baut auf mitgliederstarke Großorganisationen. Zweitens: In allen sozialdemokratischen Großorganisationen nehmen Funktionär*innen, die sich »hochgedient« haben, Führungspositionen ein. Drittens: Ziele der Sozialdemokratie sind Aushandlungsprozesse auf Augenhöhe mit dem Kapital (Lösungen statt Siege, Tarifverträge, Kompromisse). Viertens: Die Sozialdemokratie hat trotz gewisser Spielräume ein staatszentriertes Politikverständnis und schreckt im Konflikt nach innen nicht vor autoritären Politikmustern zurück. Und fünftens: Die Sozialdemokratie ist geprägt von einer (technologischen) Fortschrittsgläubigkeit.

Gerade diese Fortschrittsgläubigkeit ist dabei für den Zusammenhalt der genannten Elemente wesentlich. War die Sozialdemokratie einstmals überzeugt, dass das Wachstum der Produktivkräfte den Sozialismus mit notwendiger Folge herbeiführt, so sichert dieses Wachstum laut der heutigen Sozialdemokratie jene Verteilungsspielräume, die Gewerkschaften dann in Tarifrunden auszuschöpfen suchen. Indem so in einem Perpetuum mobile Verteilungsspielräume unentwegt entstehen, da der technologische Fortschritt ja beständig voranschreitet, genügt der Sozialdemokratie die konflikthafte Partnerschaft mit dem Kapital; sie sieht sich letztlich als Teil der sozialen Elite.

Es fällt der deutschen Sozialdemokratie schwer, ihre eigene Krise anders zu verstehen als als Vermittlungs- und/oder Mitgliederkrise. Denn, so würde ein deutscher Sozialdemokrat fragen: Will man mit der Kritik an der Fortschrittsgläubigkeit etwa zurück zur Maschinenstürmerei? Wie können Arbeiter*innen stetigen Einfluss und Solidarität in bürgerlichen Gesellschaften gewinnen, wenn nicht durch den Aufbau von Großorganisationen? Was spricht gegen professionelle und erfahrene Funktionär*innen, schließlich tragen diese in Großorganisationen auch eine immense Verantwortung? Mit anderen Worten also: Wenn sie in eine Krise gerät, dann sucht die Sozialdemokratie fast immer ausschließlich nach einer neuen Strategie der Mitgliedergewinnung oder aber nach Wegen, ihre Botschaften besser »zu vermitteln«. Und deshalb überrascht es nicht, dass der materielle Einfluss der Sozialdemokratie auf Organizing wiederum dazu geführt hat, dass Organizing in Deutschland vor allem eine materielle Funktion in der deutschen Sozialdemokratie hat. Deutlicher formuliert: Das sozialdemokratische Ziehkind Organizing dient bisher vor allem dem Erhalt des Mitgliederbestandes dieser Großorganisation oder wird als Vermittlungsmittel innerhalb von Wahlen eingesetzt.

Diese Mitgliedererfolge bringen Organizing in Deutschland allerdings in eine gefährliche Schwebeposition: Einerseits sichern seine Erfolge den Bestand und den wachsenden Einfluss des Organizings innerhalb der deutschen Sozialdemokratie, andererseits jedoch geraten so die anderen Dimensionen der Krise der Sozialdemokratie aus dem Blick, sodass die Lebensdauer dieses linken Paradigmas zwar verlängert wird, aber die Krise bestehen bleibt. Wird diese Schwebeposition nicht aufgelöst, könnte es zu einer Art dauerhafter Scheinblüte des Organizing in Deutschland kommen, wie wir sie im Übrigen seit Jahrzehnten in den USA beobachten können: Organizing vitalisiert dann zwar immer wieder sozialdemokratische Großorganisationen, sodass deren Veränderung und das politische Ableben hinausgezögert wird. Gleichzeitig jedoch verändert sich dabei sehr wenig an den seit Jahrzehnten neoliberal geprägten Machtstrukturen innerhalb der Gesellschaft.

Eine völlig unzureichende Debatte

Ich kann es nicht beweisen, aber ich wage dennoch die These, dass sich viele der besten Organizer*innen in Deutschland politisch links der Sozialdemokratie verorten. Insofern verwundert es nicht, dass viele von ihnen die tiefe Krise der sie umgebenden und finanzierenden Organisationen fühlen und privat rege diskutieren, es kommt noch etwas hinzu: Gerade die besten Organizer*innen merken genau, dass Organizing das Potenzial hat, linke Ideen und Prinzipien tief in der Gesellschaft zu verankern und dabei neue basisdemokratische und dezentrale Zentren linker Politik zu schaffen. Aber zugleich interessiert das niemanden in den sozialdemokratischen Organisationen, denn die meisten leitenden Funktionär*innen der Organisationen, die Organizing finanzieren, sind davon überzeugt, dass es lediglich darum geht, eine Mitglieder- und Vermittlungskrise zu beheben.

Die Zukunft der deutschen Organizing-Szene hängt von ihrer Haltung gegenüber der Sozialdemokratie ab.

Doch gerade, weil so viele mir bekannte Organizer*innen um diese sozialdemokratischen Beschränkungen ihrer Arbeit wissen und an ihr leiden, ist es auffällig, wie wenig sich die deutsche Organizing-Szene öffentlich mit der Krise der Sozialdemokratie auseinandersetzt. Weit mehr diskutiert man stattdessen lieber Fragen wie: Wie erkennt man Schlüsselpersonen? Sind kollektive Verhandlungen sinnvoll? Wie gründe ich Betriebsräte? Wie »empowere« ich Angestellte? Und so weiter … Aber eine öffentliche Debatte, inwiefern die sozialdemokratischen Großorganisationen auch eine tiefgreifende strukturelle Veränderung, ja eine Selbstaufhebung zu durchlaufen haben, um wirksam bleiben zu können, unterbleibt weitestgehend.

Immerhin: Vor allem die Veröffentlichungen aus dem Gemeinsamen Erschließungs-Projekt (GEP) der IG Metall Baden-Württemberg im »Sozialismus« in letzter Zeit können als sehr zarte Versuche gewertet werden, diese Einseitigkeit der Organizing-Debatte zu verändern und offenere organisationskritische Debatten anzustoßen. Dass eine große organisationskritische Debatte zudem womöglich nur eine Frage der Zeit ist, dafür spricht der Umstand, dass diese Debatten zumindest in geschütztem Rahmen durchaus geführt werden, denn warum sonst sollten ver.di und die IG Metall bereits ambitionierte Organisationsentwicklungs-Projekte begonnen haben, in denen Organizing jeweils eine wichtige Rolle spielt? Es wäre eine vertane Chance, wenn diese zarten Blüten einer inhaltlichen Debatte am Ende doch nur in eine Debatte über die »Organizing-Rendite« münden würden.

Wie dringend jedoch diese zarten Vorstöße und abgeschirmten Organisations-Debatten eine größere Öffentlichkeit innerhalb der deutschen Linken bräuchten, zeigt sich schnell, wenn wir uns die Größe der historischen Aufgabe eingestehen. Zugespitzt: So erfreulich die Entwicklung von Organizing in Deutschland ohne Zweifel ist, so sehr schrumpft diese Entwicklung auf ein ungenügendes Maß zusammen, wenn wir sie in Beziehung zu unserer sozialen Gegenwart setzen, die Pankraj Misha nicht von ungefähr das »Zeitalter des Zorns« nennt. Oder anders gesagt: Während im deutschen Organizing sozialdemokratische Sandsäcke gegen die Flut des Neoliberalismus gefüllt werden, braut sich am globalen Horizont ein ökosozialer Tsunami zusammen, der alle Zutaten für ein neues »Zeitalter der Extreme« hat.

Dies vor Augen, wird deutlich, wie tief die Krise der Sozialdemokratie tatsächlich ist. Viele der massivsten Probleme unserer Gegenwart sind Folgen einer technologischen Fortschrittsgläubigkeit, die die unablässige Entwicklung von Produktivkräften vorangetrieben hat, während die sozialen und ökologischen Kosten dieser Entwicklung über lange Zeit gerade auch von sozialdemokratischen und sozialistischen Regierungen verdrängt wurden. Die Sozialdemokratie mag weiter an der Augenhöhe mit dem Kapital festhalten, aber dann muss sie sich den Vorwurf der Komplizenschaft gefallen lassen, wenn die bürgerlichen Eliten Länder post-kolonial ausbeuten und gleichzeitig gegenwärtig mehr Geld für Grenzanlagen ausgeben als für den Kampf gegen den Klimawandel. Der Aufstieg der radikalen Rechten speist sich auch aus der Unfähigkeit der Sozialdemokratie, den sozialen Ausschluss ganzer sozialer Gruppen und Regionen zu verhindern – oder ist dies gar ein politischer Unwille?

Zusammenfassend: Auch wenn die Sozialdemokratie trotz ihrer Krise in Deutschland ohne Zweifel der sozial einflussreichste Teil der Linken ist; auch wenn sich dieser Einfluss damit erklärt, dass die Sozialdemokratie in den verschiedenen Organisationen schlicht die Politik macht, die sich ihre Klientel wünscht; auch wenn schließlich die Sozialdemokratie denkt, mit der »Mitglieder-Maschine« Organizing Organisationsmacht zu erhalten – all das wird im »Zeitalter des Zorns« immer weniger wert sein, denn die oben genannten Welt-Probleme werden niemandem den Gefallen tun und einen Bogen um Deutschland machen.

Post-sozialdemokratisches Organizing

Wie könnte aber ein post-sozialdemokratisches Organizing aussehen? Wenn Stephan Lessenich bezogen auf unsere Gegenwart von der »Externalisierungs-Gesellschaft« spricht, dann fokussiert sich das Organizing der sozialdemokratischen Großorganisationen in Deutschland vor allem darauf, durch Kampagnen und Mitgliedergewinne den Externalisierungs-Gefährdeten zu helfen. So wichtig das ohne Zweifel ist: Die Frage, wie sie die bereits externalisierten Menschen unterstützen können, bleibt unbeantwortet (Arbeitslose, ALG-II-Empfänger*innen, Geflüchtete, Menschen in strukturschwachen ländlichen Regionen, sog. Ghetto-Viertel)? Das erinnert nicht nur an den historisch fatalen und geringschätzenden Umgang der klassischen Sozialdemokratie mit dem sogenannten Lumpenproletariat. Es ist auch insofern mehr als ärgerlich, weil es im Organizing bereits strategische Interventionspraxen in diese Welt der Ausgeschlossenen gibt, wie der Workers-Center-Ansatz zeigt. Zudem sind da die kostbaren Erfahrungen poliklinischer Projekte, in denen Gesundheit und Politik in abgehängten sozialen Räumen zusammengedacht werden, die man leicht für ein post-sozialdemokratisches Organizing aufnehmen und weiterdenken könnte. Geschieht dies aber alles nicht, könnte die Welt der Externalisierten noch stärker als bislang die Welt der politischen Rechten werden. Dafür sprechen nicht nur rechte Wahlerfolge in abgehängten Kommunen in Deutschland; auch der Siegeszug des Evangelikalismus in Südamerika und Afrika sowie die Genese eines radikalisierten Islam sind Belege dafür, wie Mike Davis schon vor Jahren in seinem Buch »Planet der Slums« gezeigt hat.

Eine weitere Richtung, in die ein post-sozialdemokratisches Organizing gehen könnte, wird deutlich, wenn wir folgendes berücksichtigen: Die technologische Fortschrittsgläubigkeit war, wie Walter Benjamin klug bemerkte, ein wichtiger Grund für die Niederlage der Sozialdemokratie gegenüber dem Faschismus, und sie könnte auch der Grund dafür sein, warum die Sozialdemokratie vor dem Hintergrund der drohenden ökosozialen Katastrophe untätig bleibt, da sie diesmal hofft, dass Impfkampagnen, grüne Technologien oder ein Green-New-Deal diese Welt retten. Um dabei nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich muss man sich gegenwärtig gegen Covid 19 impfen lassen, und es geht auch nicht darum, Technik pauschal abzulehnen. Aber ein technokratisch gedachter Fortschritt allein wird die bedrückende Entwicklung der Weltgesellschaft nicht auffangen, schließlich hat dieser Fortschritt erhebliche Anteile an der Heraufkunft des »Zeitalters des Zorns«.

Vielmehr müssen Gesundheit und ökologische Nachhaltigkeit im Hier und Jetzt als zentrale Maßstäbe linker Politik an seine Stelle treten. Post-sozialdemokratisches Organizing könnte hier einen wichtigen Impuls geben, nämlich dann, wenn es sich als radikales Green-Organizing verstehen würde, das ausgehend von Gesundheitsfragen die Veränderung sozialer Verhältnisse denkt. Die Ausgangsüberlegung ist dabei recht einfach: Menschen, die es gewohnt sind, sich und ihre Körper zum Zweck der Reproduktion ausbeuten lassen zu müssen, werden kaum die Ausbeutung der äußeren Natur offensiv anprangern und gegen diese ankämpfen, schon allein deshalb nicht, weil sie erschöpft sind. Aber Menschen, die verstanden haben, dass Arbeit nicht krank machen darf, Menschen, die durch Organizing bestärkt werden gegen krank machende Arbeit auch massiv vorzugehen, solche Menschen werden sehr bald auch ihre Umwelt mit anderen Augen sehen lernen. Immerhin: Auch hier hat die Berliner Krankenhaus-Bewegung von und um ver.di einen wichtigen Anfang gemacht. Und was ebenso Mut macht: In feministischen Debatten, in der Black-Lives-Matter-Bewegung, in Sorge-Kämpfen und in vielen anderen progressiven linken Bewegungen wird in sehr ähnlicher Weise der menschliche Körper zum Ausgangspunkt emanzipativer Überlegungen, und das könnte eine Basis schaffen für eine linke Bündnispolitik, die es mit Blick auf die Größe der Aufgabe dringend bräuchte.

Ähnlich wie in der Psychoanalyse – etwa bei Erich Fromm – der Vatermord als Akt der Rebellion gegen Autorität verstanden wird und zur Entwicklung eines Individuums dazugehört, hängt die Zukunft der deutschen Organizing-Szene von ihrer Haltung gegenüber der Sozialdemokratie ab. Erfreulich ist: Es gibt vorsichtige Ansätze der Organisationskritik wie in der IG Metall, es gibt Organisations-Entwicklungsprojekte in den DGB-Gewerkschaften, in der Berliner Krankenhaus-Bewegung ist die Gesundheit des Arbeitsprozesses in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt und der erfolgreiche Berliner Mietentscheid wird wahrscheinlich bald zu einem Konflikt zwischen dieser Bewegung und der Berliner SPD und der Linkspartei führen. Aber all diese wichtigen Ansätze müssen vertieft werden, die Organizing-Szene muss beginnen, politisch deutlicher als bislang Farbe zu bekennen. Es wird Zeit, die deutsche Sozialdemokratie solidarisch, aber dennoch gründlich zu kritisieren. Wenn Eva von Redecker zu Recht eine »Revolution für das Leben« einfordert, dann ist eine linke Kritik der Sozialdemokratie in DGB-Gewerkschaften und der SPD und der Linkspartei ein wichtiger erster Schritt, damit Organizer*innen in Deutschland bald beginnen, die entsprechenden revolutionären Prozesse für das Leben mitzugestalten.

Slave Cubela

ist Autor und schreibt u.a. regelmäßig für linksgewerkschaftliche Publikationen wie Express. Er hat gerade eine Geschichte der modernen Arbeiter*innenklassen unter dem Titel »Wortergreifung, Worterstarrung, Wortverlust« (Westfälisches Dampfboot, 2023) veröffentlicht, in der er der Leiderfahrung der Arbeiter*innen im Arbeitsprozess eine besondere Rolle einräumt.