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Mit Weißwein gegen internationale Investor*innen

In Zentralgeorgien protestieren etliche gegen ein Staudammprojekt und das Versagen europäischer Nachhaltigkeitsstrategien

Von Evelina Gambino

Die georgische Künstlerin Tamar Magradze arbeitet in Ölgemälden, Filmen und Animationen u.a. mit der ambivalenten Symbolik der Staudämme zwischen Fortschrittserzählung und Naturzerstörung. Foto: Tamar Magradze

Ende Oktober 2020 wurde in der Bergregion von Lechkhumi in Zentralgeorgien ein Protestcamp errichtet. Ziel des Widerstandes war das Baustellengelände eines Wasserkraftwerkkomplexes, bekannt als Namakhvani HPP. Dorfbewohner*innen, die durch den Bau von ihrem Land vertrieben wurden, stellten sich den Arbeiten von Beginn an entschlossen entgegen und fanden dabei die Unterstützung von mehr und mehr Menschen innerhalb und außerhalb Georgiens. Einige von ihnen entschieden sich, dauerhaft in der Region zu bleiben und die Bauarbeiten mit dem Blockade-Camp zu stören. Für sie steht das Projekt stellvertretend für eine nur auf dem Papier nachhaltige Strategie zur Entwicklung der Wirtschaft des Landes – auf Kosten seiner empfindlichen Ökosysteme und seiner Bewohner*innen.

Die Covid-19-Krise machte nochmals auf dramatische Weise eine Folge der Zerstörung von Artenvielfalt deutlich: die wachsende Gefahr von Pandemien. Kämpfe wie der in Zentralgeorgien gewannen dadurch an zusätzlicher Brisanz. Denn Investitionen in große Infrastrukturprojekte, die oftmals als Teil einer »Grünen Transformation« angepriesen werden, sollen nun in vielen Ländern helfen, die schweren sozio-ökonomischen Verwerfungen infolge der Covid-Krise zu überwinden. Der Bau von Wasserkraftwerken wird dabei sowohl von großen internationalen Banken als auch von Regierungen als vermeintlich ökologische Entwicklungsstrategie unterstützt.

Im Eiltempo durchgepeitscht

Allein Georgien plant nicht weniger als hundert Projekte an seinen Wasserwegen. Das Namakhvani HPP ist derzeit das größte Wasserkraftwerkprojekt in Georgien. Die Genehmigung zum Bau kam, etwas abrupt, zu Beginn des Jahres 2020 – fast ein Jahrzehnt, nachdem das Projekt 2010 erstmals angekündigt worden war.

Im Juni begannen dann die ersten Arbeiten in der Gemeinde T’sageri. Als die Arbeiter*innen der türkischen Firma Enka Renewables, Hauptinvestor neben dem norwegischen Unternehmen Clean Energy, mit der Verlegung einer kleinen Brücke über den Fluss Rioni begannen, versammelte sich eine Gruppe von Dorfbewohner*innen in der Nähe der Baustelle. Sie veranstalteten ein Weinfest und eine Kundgebung, bei der sie über den Damm diskutierten. Einer der Anwesenden warf, nachdem er das Mikrofon ergriffen hatte, eine Frage auf: »Warum diese Eile? Wem läuft bei diesem Projekt die Zeit davon?«

Der Bau der Dämme hat bereits begonnen, ohne dass ein effektives System zur geophysikalischen Überwachung geschaffen wurde.

Damit adressierte der Redner die fehlende Auseinandersetzung der Projektverantwortlichen mit der Region. In den letzten Jahren wurden die verschiedenen, zuvor mehrfach unterbrochenen Phasen des Genehmigungsverfahrens im Eiltempo durchgepeitscht, nach Ansicht lokaler Kritiker*innen oft rechtswidrig. Gleichzeitig wurden Schätzungen über die Schädenan der Umwelt, die durch den Bau entstehen könnten, heruntergespielt. Laut georgischen Umweltschützer*innen wurde etwa die von der Firma Enka Renewables eingereichte Umweltverträglichkeitsprüfung von der georgischen Regierung genehmigt, obwohl eine Reihe von obligatorischen Untersuchungen fehlte.

Gemeinsamer Protest

Das Rioni-Tal ist dünn besiedelt. Dennoch ist der Widerstand gegen das Projekt nach und nach gewachsen und hat lokale Gemeinden, Umweltaktivist*innen, Wissenschaftler*innen und NGOs aus dem In- und Ausland zusammengebracht. Die »Öffentliche Bewegung zur Rettung des Rioni-Tals« hat einen Forderungskatalog an den georgischen Präsidenten Salome Zurabishvili gerichtet. Sie will die Unterbrechung der Bauarbeiten, den Widerruf der Baugenehmigung und eine Untersuchung der Schäden erreichen, die durch den teilweisen Einsturz eines anderen Staudamms entstanden – des Shuakevi HPP, der von der ebenfalls an Namakhvani beteiligten Firma Clean Energy entwickelt wurde.

Wenn der Bau wie geplant weitergeht, könnten die Folgen tatsächlich katastrophal sein und weit über das Tal hinausreichen. Wie Forschungen des Instituts für Geowissenschaften in Tiflis gezeigt haben, ist der Gebirgsgürtel des Großen Kaukasus die aktivste tektonische Einheit der Region. 1991 ereignete sich hier das stärkste im Kaukasus je aufgezeichnete Erdbeben, das große Erdrutsche auslöste und zwei Dörfer verschüttete. Die hohe Luftfeuchtigkeit, die häufigen Niederschläge, die steile Topografie und die komplexen geologischen Gegebenheiten in der Region, machen die Berghänge instabil. Wie Tea Godoladze, die Direktorin des georgischen Instituts für Geowissenschaften, argumentiert, könnten die Überflutung des Tals und die dadurch fortschreitende Sättigung der Talwände noch viel größere Erdrutsche auslösen.

Der Bau der Dämme hat bereits begonnen, ohne dass ein effektives System zur geophysikalischen Überwachung geschaffen wurde. Diese Ignoranz gegenüber lokalen Gegebenheiten und den Interessen der Anwohner*innen ist nicht neu: Ein ganzes Jahrzehnt lang hat der Plan, einen Teil des Rioni-Tals zu überfluten, die Sanierung und Instandhaltung der örtlichen Infrastruktur blockiert – mit der Folge einer fortschreitenden Isolierung der Anwohner*innen.

Trotz des infrastrukturellen und sozio-ökonomischen Verfalls werden im Rioni-Tal weiterhin mehrere endemische, hochwertige Pflanzenkulturen angebaut, von denen der Tvishi-Wein die wichtigste ist. Dieser halbsüße Weißwein ist sowohl in Georgien als auch auf dem internationalen Markt, insbesondere in Russland, sehr beliebt. In den letzten Jahren und parallel zur Planung des Staudamms haben mehrere Winzer*innen im Tal Bio-Weinberge angelegt und dabei von staatlichen Subventionen profitiert. An den Hängen des Khvamli-Massivs, das das Tal überragt, wachsen zudem eine Vielzahl von Kräutern, aus denen Tees, Salben und Gewürze hergestellt werden.

Gemälde Tamar Magradze
Tamar Magradze hat sich künstlerisch mit den Protesten gegen den Staudamm auseinandergesetzt. Hier Ausschnitte aus einem animierten Film.

Die Frauen und Männer, die die Kräuter sammeln und verarbeiten, sowie die Winzer*innen, stehen derzeit an vorderster Front der Proteste. Sie argumentieren, dass die durch die Stauseen verursachten Veränderungen des Territoriums den Feuchtigkeitsgehalt der Böden dauerhaft beeinflussen, das lokale Terroir verderben und die heimische Flora und Fauna zerstören werden. Das reiche lokale Wissen über die Landschaft und ihre menschliche Nutzung wird bis heute in den Berichten über das Staudammprojekt weitgehend ausgeklammert.

Bei alledem mangelt es nicht an schlechten Erfahrungen mit Wasserkraftwerken. Zwei der großen Staudämme, die in jüngerer Zeit im Land gebaut wurden, das bereits erwähnte Shuakevi-Wasserkraftwerk in Adjara und das kleinere Dariali-Wasserkraftwerk, sind teilweise zusammengebrochen. Es kam zu erheblichen Schäden in den lokalen Ökosystemen. In der Dariali-Schlucht wurden neun Menschen getötet. Auch hier gehörte Clean Energy zu den verantwortlichen Unternehmen. Und auch hier hatten lokale Gemeinden, Wissenschaftler*innen und Nichtregierungsorganisationen bereits Jahre vor Fertigstellung der Projekte vor den Gefahren gewarnt.

Diese Beschwerden stießen jedoch auch bei den großen internationalen Institutionen, die hinter den Projekten stehen, auf taube Ohren. Dazu gehört etwa die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), die den »Übergang zu einer grünen Wirtschaft« zur obersten Priorität ihrer Entwicklungsvision erklärt hat. Zwar hat sich die EBRD aufgrund öffentlicher Kritik nicht am Bau des Namakhvani HPP beteiligt, sie spielt aber weiterhin eine Schlüsselrolle bei der Ausformulierung der zugrundeliegenden Konzepte eines vermeintlich nachhaltigen Übergangs durch erneuerbare Energien, auf deren Grundlage Investitionen in Wasserkraft gerechtfertigt werden – in Georgien wie auch anderswo in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion.

Gegründet nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, war die Kernaufgabe der EBRD, den Übergang zur Marktwirtschaft zu fördern. Inzwischen wird »eine gut funktionierende Marktwirtschaft als mehr als nur wettbewerbsfähig definiert; sie sollte auch inklusiv, gut regiert, grün, widerstandsfähig und integriert sein.« Unter diesem Motto hat die Bank in den letzten fünf Jahren über 60 Wasserkraftprojekte in Südosteuropa und dem Kaukasus finanziert. Wie die NGO Bankwatch berichtet, haben viele von ihnen schwere Schäden an fragilen Ökosystemen verursacht.

Der Markt soll es richten

Der Imperativ des »Übergangs«, der in seinem Kern marktgesteuerte Deregulierung meint, hat die Entwicklung Georgiens, wie auch die vieler anderer post-sowjetischer Staaten, in den letzten Jahrzehnten geprägt. Die Ausarbeitung einer konkreten Entwicklungsstrategie für das Land, etwa für den Energiesektor, blieb dabei auf der Strecke. Im Ergebnis werden die Auswirkungen, die Infrastrukturprojekte auf ihre Umgebung haben, weiterhin ignoriert.

Sollte es zum Bau der Namakhvani HPPs kommen, so dürfte dies erneut eine Reihe von miteinander verbundenen geophysikalischen, ökologischen und sozio-ökonomischen Veränderungen hervorrufen, die zusammen zerstörerische und unvorhersehbare Folgen haben können. Ohne eine Auseinandersetzung mit allen Elementen des komplexen Puzzles sozial-ökologischer Wechselwirkungen kann es keinen gerechten und nachhaltigen Übergang geben.

So gesehen kämpfen die Aktivist*innen vor Ort nicht nur für die Verteidigung ihrer lokalen Lebensweise und Ökonomie, sondern auch für einen grundlegend anderen Ansatz in der Infrastrukturentwicklung und den internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Es bleibt Aufgabe der kritischen Öffentlichkeit und der Bewegungen in Europa, Protesten wie diesen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen und den systematischen Etikettenschwindel der »Green Deal«-Rhetorik der herrschenden Politik nicht nur abstrakt anzuprangern, sondern an konkreten Beispielen zu entlarven, um Alternativen denkbar zu machen.

Evelina Gambino

forscht am University College London zu Infrastrukturprojekten in Georgien.