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Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Der spanische Gewerkschafter Carles Vallejo Calderón über Repression, Traumatisierungen und die erste Aussage eines Opfers des Franquismus vor Gericht

Interview: Lukas Ferrari

Carles Vallejo Calderón heute. Im Dezember 1970 wurde er unter dem spanischen Diktator Franco verhaftet und gefoltert. Foto: Lukas Ferrari

Spanien tut sich schwer mit der Vergangenheitsbewältigung. Laut dem Verband für historische Erinnerung (ARMH) liegen in Massengräbern über 114.000 Menschen, Verschwundene aus dem spanischen Bürgerkrieg und der Franco-Diktatur. Mit dem Amnestiegesetz von 1977 wurde jegliche gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den vier Jahrzehnten franquistischer Diktatur unterminiert. Doch knapp 50 Jahre nach dem Tod des Diktators 1975 ist Bewegung in die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gekommen: Ende Oktober wird zum ersten Mal seit dem Übergang zur Demokratie 1976 ein Opfer franquistischer Gewalt vor Gericht aussagen. Es handelt sich um den Gewerkschafter Carles Vallejo Calderón.

Was bedeutet es für dich, dass die Staatsanwaltschaft von Barcelona ein Ermittlungsverfahren wegen der Repression eingeleitet hat, die du erlebt hast?

Carles Vallejo Calderón: Ich und alle, die sich in Spanien für die historische Erinnerung einsetzen, werten es als einen wichtigen Schritt im Kampf gegen die Straflosigkeit. Es ist das erste Mal seit der »Transición«, des Übergangs zur Demokratie 1976, dass eine Staatsanwältin ein Verfahren aufgrund von Menschenrechtsverletzungen während des Franquismus einleitet. Ohne das im letzten Jahr verabschiedete Gesetz über die demokratische Erinnerung wäre das alles aber gar nicht denkbar gewesen. Das Gesetz ist wesentlich progressiver als das aus dem Jahr 2007 und zwingt den Zentralstaat praktisch dazu, im Fall von Menschenrechtsverletzungen Ermittlungen aufzunehmen.

Es gibt ja noch weitere Klagen. Kannst du uns über diese etwas erzählen?

Etliche werden sowohl von Opfern der franquistischen Repression als auch von Menschenrechtsorganisationen geführt. Manche laufen schon seit zwanzig Jahren. Da die Klagen in Spanien nie angenommen wurden, wendeten wir uns an internationale Gerichte, zum Beispiel in Argentinien. Von dort forderte eine Richterin Spanien dazu auf, Ermittlungen einzuleiten. Doch die spanischen Behörden reagierten nie, sie erschwerten sogar die Arbeit. Das neue Gesetz erweitert den Handlungsspielraum unserer Klagen. Abgesehen von meinem Fall wurden noch zwei weitere Vorladungen ausgesprochen, u.a. eine für Julio Pacheco, ein ehemaliges Mitglied der spanischen Kommunistischen Partei (PCE). Mit seiner und meiner Klage wollten wir uns zunächst an die Staatsanwaltschaft und das Madrider Gericht herantasten, um die Reaktionen der Justiz zu beobachten.

Carles Vallejo Calderón

wurde 1951 in Barcelona geboren. Er war Gewerkschafter bei Seat und ist heute Präsident des Vereins der ehemaligen politischen Gefangenen vom Franquismus und Vorsitzender des Beratungsgremiums der demokratischen Gedenkstätte Kataloniens. Mit der Kampagne »Via Laietana 43: Gerechtigkeit und Erinnerung« fordern sie die Umwandlung der Polizeiwache in Barcelona, die als Sitz des franquistischen Geheimdienstes diente, in eine Bildungsstätte.

Wie sehen die nächsten Schritte in deinem Verfahren aus?

Da es bereits die Zustimmung seitens der Staatsanwaltschaft gibt, wird hoffentlich schon Ende Oktober die Richterin das Ermittlungsverfahren offiziell eröffnen. Das Interessanteste an dem Ganzen ist gar nicht so sehr das finale Urteil, sondern die Ermittlungen an sich. Die Staatsanwältin bekräftigte auch, dass es ihr darum gehe, erst einmal die Büchse der Pandora zu öffnen und sich ihren Inhalt anzuschauen. Und das ist auch unser Ziel: Wir wollen durch die Ermittlungen Zugang zu den Polizeiarchiven und zu den Tatorten erhalten. So könnte ich zum ersten Mal in jene Zelle in der Polizeiwache in der Via Laietana 43 in Barcelona zurückkehren, in der ich eingesperrt und gefoltert wurde. All das wird die Richterin mit ihrem Beschluss ermöglichen. Unsere Forderungen lauten von jeher Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. In der jetzigen Phase geht es uns darum, die Wahrheit zu ermitteln.

In Spanien heißt die Krankheit Repression, Folter und Mord.

Was bedeutet es für dich persönlich, diesen Weg zur Wahrheit einzuschlagen?

Dieser Weg war sehr lang und mit verschiedenen Kämpfen für eine wahrhaftige Demokratisierung des Staates und soziale Rechte gepflastert. Leider hat meine Generation diesen Kampf um die Erinnerung damals links liegen lassen, weil sie andere Prioritäten hatte. Dies änderte sich, als die Generation vor uns zunehmend von uns ging. Diese hatte den Bürgerkrieg und die Nachkriegszeit erlebt, Jahre, in denen die Repression des Franquismus noch brutaler war. Irgendwann stellten wir fest, dass wir faktisch die letzte Generation sind, die den Franquismus an Leib und Seele erlebt hat. So entstand das Gefühl der Verantwortung dafür, nicht nur der eigenen Geschichte Gehör zu verschaffen, sondern auch all jenen, die stimmlos waren – sei es, weil der Franquismus sie ermordet hatte oder sie durch Folter und Verfolgung traumatisiert und gelähmt hat. So habe ich auch mein eigenes Trauma überwunden, indem ich für die Gerechtigkeit von all jenen kämpfte, die das nicht mehr können.

Du hast beim Autohersteller Seat gearbeitet und bist nach Repressionen geflüchtet.

Richtig, im Dezember 1970 wurde ich inhaftiert und gefoltert, weil ich ein Recht wahrnahm, das heute in der Verfassung verankert ist: die Gewerkschaftsfreiheit. Wir bauten die Comisiones Obreras, Arbeiterkommissionen, auf, und zwar in der größten Fabrik Spaniens, bei Seat. Im Franquismus eine schwere Straftat, und deswegen mussten wir im Untergrund arbeiten. Wir forderten das Recht auf eine Interessenvertretung der Arbeiter*innen, höhere Löhne, Gesundheit sowie Sicherheit am Arbeitsplatz und bessere Arbeitsbedingungen. Aus diesem Grund wurde ich zwanzig Tage in einer Polizeiwache körperlich und psychisch gefoltert und dann inhaftiert. Im gleichen Jahr hielt man mich dann noch mal fest, um mich schließlich unter Bewährung freizulassen. Ich nutzte die Gelegenheit, um ins Exil zu gehen, zunächst nach Frankreich und dann nach Italien. Dort war ich weiter für die Gewerkschaft tätig. Erst nach Francos Tod kehrte ich nach Barcelona zurück.

Warum hast du dich für die Rückkehr entschieden?

Weil ich gemeinsam mit meinen Kolleg*innen und Genoss*innen von Seat weiterkämpfen wollte. Sie hatten sich mit mir solidarisiert, mich mit Aktionen und Demonstrationen unterstützt. Ich hatte das Gefühl, in ihrer Schuld zu stehen. Nach Francos Tod eröffnete sich die Möglichkeit, unsere Gewerkschaft sozusagen bei Tageslicht aufzubauen. Dennoch war das Klima weiterhin stark von putschistischen Drohungen geprägt. Auch deswegen fühlte ich mich in der Pflicht, den Kampf gegen diese Kräfte fortzuführen, die leider auch heute noch bestehen.

Wie hast du die Verabschiedung des Amnestiegesetzes von 1977 erlebt?

Für mich wie für die Mehrheit der spanischen Bevölkerung war das eine große Erleichterung. Denn unsere Forderung war die Befreiung aller politischen Gefangenen. Wir dachten nicht daran, dass dadurch auch die Henker eine weiße Weste bekommen würden. Alle linken Kräfte waren für das Amnestiegesetz. Die einzige Stimme dagegen kam von Alianza Popular, die postfranquistische Vorgängerpartei der heutigen konservativen Partido Popular. Unsere Klagen weichen jedoch von dieser Gesetzgebung ab, weil Menschenrechtsverletzungen an sich nicht verjähren. Bisher wurde das Amnestiegesetz praktisch gegen unsere Anliegen ausgespielt.

Wie erklärst du dir, dass eure Klagen heute aufgenommen werden?

Dafür gibt es eine sehr einfache Erklärung: Ein großer Teil der spanischen Bevölkerung war nach 40 Jahren Diktatur traumatisiert. Über mehrere Jahrzehnte hinweg hat die Angst eine gesamte Gesellschaft paralysiert. Wir aktive Antifranquist*innen waren eine Minderheit. Dieses Klima hat dazu geführt, dass die Repression einfach verdrängt wurde, auch weil sich politische Kräfte weigerten, die Wunden der Vergangenheit anzutasten. Doch wir als Erinnerungsinitiativen vertraten schon immer die Haltung, dass diese Wunden nicht von allein verheilen werden. Man muss sie heilen. Und das kann nur gelingen, wenn man in der Lage ist, die Krankheit zu benennen. In Spanien heißt die Krankheit Repression, Folter und Mord.

Lukas Ferrari

ist Dolmetscher und Politikwissenschaftler und beschäftigt sich schon seit Jahren mit der Geschichte Spaniens und besonders mit der Region Katalonien. Dorthin organisiert er regelmäßig Bildungsfahrten.