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»Die MAS ist zurzeit die einzige linke Option«

Die Aktivist*innen Iveth und Marcelo über die Lage in Bolivien nach dem Putsch gegen Morales

Graffiti in El Alto
Das Grafitti zeigt eine traditionell gekleidete Indigena, die eine Zwille gegen einen Helikopter richtet. Während des Massakers im November 2019 hatten Helikopter aus der Luft Reizgas auf Demonstrierende gesprüht. Foto: Privat

Die linke Regierung Boliviens unter Evo Morales und seine Partei Movimiento al Socialismo (MAS) galten lange als die letzten gefestigten, populären und erfolgreichen Vertreter des sogenannten Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Bolivien schien gesellschaftlich befriedet, egalitärer und wirtschaftlich erfolgreicher zu sein als je zuvor. Die politische Rechte war tief gespalten und weitestgehend bedeutungslos. Nachdem sich Morales und die MAS bei der Wahl im Oktober 2019 erneut mit 47,08 Prozent der Stimmen vor dem Oppositionskandidaten Carlos Mesa durchgesetzt hatten, wurde der Vorwurf der Wahlfälschung laut. Am 10. November 2019 erklärte Morales seinen Rücktritt. Zuvor hatte es anhaltende Ausschreitungen und Angriffe auf MAS-Abgeordnete gegeben, Polizei und Militär stellten sich gegen Morales. Zwei Tage später ernannte sich Jeanine Añez in Abwesenheit eines beschlussfähigen Parlaments zur Übergangspräsidentin und verkündete Neuwahlen innerhalb von 90 Tagen. Eine Studie der Organization of American States (OAS), die Morales den Wahlbetrug nachweisen sollte, wurde später als falsch widerlegt. Dennoch ließ Añez mit Gewalt gegen die linke Opposition vorgehen. In den MAS-Hochburgen El Alto und Sacaba (Cochabamba) wurden mindestens 22 Menschen von der Polizei getötet. Nachdem Añez zum dritten Mal ankündigte, die Wahlen zu verschieben und am 16. Oktober abzuhalten, riefen Gewerkschaften und soziale Bewegungen zum unbefristeten Generalstreik auf.

Im August dieses Jahres sind der zentrale Dachverband der Gewerkschaften und indigene Organisationen in einen Generalstreik getreten. Wie kam es dazu?

Iveth: Der Putsch gegen die linke Regierung von Morales im November 2019 hatte zunächst eine enorme Schwächung der sozialen Bewegungen zur Folge. Hinzu kam die Pandemie, die die Bevölkerung weiter fragmentiert hat. Bildungs- und Sozialpolitik wurden komplett ausgesetzt. Das laufende Schuljahr wurde an staatlichen Schulen gestrichen. Es findet nur noch Unterricht an privaten Bildungseinrichtungen statt. Die wirtschaftliche Situation hat sich verschlechtert, viele leiden unter Arbeitslosigkeit und Aussichtslosigkeit. Die Korruption ist gestiegen, ebenso wie die politische Verfolgung von Journalist*innen, die kritisch über die Regierung berichten.

Dann hat die Regierung erklärt, die Wahlen erneut verschieben zu wollen …

Iveth: Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Mitte Juni war im Parlament ein Gesetz verabschiedet worden, nach dem die Wahlen auf den 6. September 2020 festgelegt wurden. Die Leute haben auf dieses Datum gewartet, um endlich Veränderungen bewirken zu können. Die Gewerkschaften und die Föderationen der indigenen Gemeinden entschieden deshalb, nach der erneuten Verschiebung der Wahlen zum Generalstreik und zu landesweiten Blockaden aufzurufen. Diesem Aufruf folgten sämtliche Basisorganisationen der Zivilgesellschaft, wie die Nachbarschaftsvereinigungen, die organisierten indigenen Gemeinschaften, Minenarbeiter*innen und Lehrer*innen.

Dennoch ziehen die unterschiedlichen sozialen Bewegungen, die Gewerkschaften und die MAS nicht wirklich an einem Strang. Warum?

Iveth: Während des Streiks übernahm die Gewerkschaftsführung den Dialog mit der Regierung und stimmte schließlich einer Festlegung der Wahlen auf den 16. Oktober zu. Dafür erntete sie Kritik von der Basis, die Wahlen zum ursprünglichen Termin oder den Rücktritt der Regierung forderte. Die am Streik beteiligten Organisationen befinden sich gegenwärtig in ständiger Mobilisierungsbereitschaft und drohen mit sofortigen Streiks, sobald die Regierung die Wahlen erneut verschieben will.

Die Interviewpartner*innen

Iveth ist Aktivistin, gehört zur indigenen Bevölkerung Boliviens und ist Mitbegründerin des linken Nachbarschafts- und Kulturzentrums Inti Phaj’si in der Millionenstadt El Alto. Marcelo arbeitet ebenfalls dort, studiert Soziologie und ist Künstler. Das Inti Phaj’si ist Teil des internationalen und widerständigen Netzwerks Cultura viva Comunitaria von Basisorganisationen, Kulturschaffenden und Aktivist*innen.

Marcelo: Die MAS ist eine Partei, die durch Kämpfe der sozialen Bewegungen an die Regierung gekommen ist. Sie hat die Regierung mit dem Versprechen übernommen, der parlamentarische Arm jener Bewegungen zu sein, die sie an die Macht gebracht hatten. Ein wichtiger Grund für die aktuelle Schwäche der sozialen Bewegungen ist, dass sie von der MAS-Regierung vereinnahmt wurden und ihre Unabhängigkeit und Selbstbestimmung verloren haben. Arbeiterorganisationen aus verschiedenen Bereichen wurden im zentralen Dachverband zusammengelegt, der von der MAS dominiert wird. Kritik ist kaum möglich.

Die derzeitige Eskalation ist nur vor dem Hintergrund des Putsches vom November 2019 zu verstehen. Wie kam es zu diesem?

Marcelo: Beim Referendum 2016 stimmte das Land mehrheitlich gegen eine Verfassungsänderung, die Evo Morales eine weitere Kandidatur ermöglichen sollte. Er trat dennoch an, und es bildete sich eine breite Oppositionsbewegung aus Umweltorganisationen, Feministinnen, Studierenden und Bürgerkomitees. In diesem Moment eignete sich die politische Rechte linke Widerstandsformen wie Demos, Protestmärsche, Straßenblockaden oder Hungerstreiks an. Dies half ihr, die Proteste für sich zu vereinnahmen. So wurde die dem Selbstanspruch nach demokratische Bewegung zum Rückgrat der Rechten.

Spielen hier noch andere Akteure eine Rolle?

Marcelo: Die Rolle der Religion ist nicht zu unterschätzen. Damit meine ich nicht das Christentum, sondern Evangelikale, Adventisten und Mormonen, die an Einfluss gewinnen. Allein in unserem Viertel gibt es zehn bis zwölf solcher Gemeinden. Die Rechte bedient den evangelikalen Diskurs und hat den Putsch als von Gott gewollten Wandel inszeniert. Añez hatte während des Putsches eine Bibel bei sich, als sie symbolträchtig im Präsidentenpalast erklärte, »die Bibel kehrt zurück in den Palast«. Es war nicht irgendeine Bibel, sondern die der Evangelikalen.


Geht es bei dem Putsch also um mehr Einfluss für diese Statusgruppen?

Marcelo: In Bolivien ist eine neue Form des Faschismus entstanden. Um den zu verstehen, reicht es nicht, auf seine religiösen Verflechtungen zu gucken, man muss Rassismus als ein essenzielles Element dieses bolivianischen Faschismus verstehen. Dabei geht es um die Frage der nationalen Identität, die historisch durch den Ausschluss der Indigenen geprägt ist. Der Kolonialismus hat die indigene Identität zu eliminieren versucht. Die konservativen und liberalen Regierungen nach der Staatsgründung stellten in dieser Hinsicht keine Veränderung dar. Anders wurde es erst Anfang der 2000er Jahre, mit den sozialen Bewegungen, der Präsidentschaft Evos und der neuen Verfassung, die Bolivien als plurinationalen und multiethnischen Staat definierte. Im Zuge des Putsches erleben wir, dass diese Frage neu verhandelt wird und eine grundlegende Polarisierung der bolivianischen Gesellschaft entsteht. So wurden Whipala-Fahnen, das Symbol des plurinationalen Staates, während der Anti-MAS Proteste nach den Wahlen im November symbolisch verbrannt und Polizisten sowie Militärs rissen sich diese von ihren Uniformen.

Hängen auch Klassenkämpfe damit zusammen?

Marcelo: Wir haben lange Zeit gedacht, dass es in Bolivien nicht um Klassenkämpfe, sondern um Kämpfe geht, die sich anhand des Gegensatzes »Indio vs. Blanco« ausdrücken. Doch das ist ganz sicher nicht die ganze Wahrheit. Die Rechte genießt breite Unterstützung durch die Agrarindustrie, eine der traditionell mächtigsten Eliten im Osten des Landes. Diese haben entscheidend einen rassistischen Diskurs geprägt, der Bolivien in die indigene und weiße Bevölkerung unterteilt. Unter Evo hat diese Elite aufgrund der Verstaatlichungen von Unternehmen und staatlicher Kontrolle des Agrarsektors nicht nur an ökonomischer, sondern auch an politischer Macht verloren.

Was passierte nach dem Putsch?

Marcelo: Nach dem Putsch haben die Faschisten die Polarisierung durch Anti-MAS-Propaganda und Repression weiter verschärft. Zum einen wurden sämtliche Kommunikationskanäle, Fernsehsender, Redaktionen und Radios übernommen. Zum anderen wurden militante Unterstützer von Evo, die sich in ihren Vierteln gegen den Putsch organisierten, zu Terroristen erklärt. Das war leider sehr effektiv. Es gab aber auch Gegenden wie unser Viertel Senkata in El Alto oder Sacaba in Cochabamba, die sich den Putschisten widersetzten. Dieser Konflikt mündete letztendlich im Einsatz von Militär und Polizei, die im Auftrag der Putschisten Massaker verübten.

Welche Perspektiven gibt es heute für die Linke in Bolivien?

Iveth: Eine Sache für die Leute hier im Viertel ist sicher: Sie werden nicht die Rechten wählen. Es bleibt also nur die MAS. Gleichzeitig sind diejenigen, die die MAS wählen werden, nicht unbedingt MAS-Anhänger. Sie wollen die Errungenschaften der letzten Jahre verteidigen: Staatliche Unternehmen, denen nun der Bankrott droht und die von der neuen Regierung privatisiert werden sollen; die plurinationale Verfassung, die von den sozialen Bewegungen erkämpft und gestaltet wurde. Da geht es nicht um Evo oder die MAS. Dennoch sind diese zur Zeit die einzige linke Option.