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Der notwendige Bruch

Die Klimabewegung braucht antikapitalistische Leitplanken für ihre kommenden Aktionen

Von Tomasz Konicz

Auf und in einem Stapel großer Rohre sitzen Aktivist*innen in Maleranzügen, mit Maske und einer Fahne (Aufschrift love music hate fascism), im Hintergrund sind Kräne zu sehen
Angriff auf den Energiehunger des Kapitals, aber gechillt: Protest an der Baustelle des LNG-Terminals in Wilhelmshaven bei der Ende-Gelände-Aktion am 12. August. Foto: Fabian Steffens, Ende Gelände / Flickr, CC BY-NC-SA 2.0

Die Klimabewegung sollte keine Angst vor dem Vorwurf des Radikalismus haben. Angesichts der zivilisationsbedrohenden Dimensionen der Klimakrise ist es eine Frage des blanken kollektiven Überlebenswillens, dieses monströse Problem zu lösen. Es liegt auf der Hand, dass der globale Kapitalismus in seinem uferlosen Wachstumszwang außerstande ist, den Ressourcenverbrauch und die Emissionen zu senken. Empirisch ist dies längst belegt, da im 21. Jahrhundert die globalen Emissionen von CO2 nur um den Preis von Weltwirtschaftskrisen kurzfristig abgesenkt werden konnten, um infolge anschließender Konjunkturmaßnahmen umso rascher wieder anzusteigen. Die gesamte Welt wird zum bloßen Brennstoff dieses irrationalen Verwertungskreislaufs gemacht.

Mehr noch: Da Lohnarbeit die Substanz des Kapitals bildet, lassen Produktivitätssteigerungen den Ressourcenhunger der kapitalistischen Profitmaschine ansteigen, da der Wert der einzelnen Ware sinkt und mehr Waren produziert werden müssen, um den Verwertungskreislauf erfolgreich abzuschließen (hieraus resultiert die Tendenz, dass viele Produkte so produziert werden, dass sie schneller kaputt gehen). Die Klimakrise ist eine kapitalistische Klimakrise. Ohne Überwindung des Kapitals besteht keine Hoffnung auf ein Abwenden der drohenden Klimakatastrophe.

Radikal sein bedeutet zuallererst zu sagen, was Sache ist. Der Kampf gegen die kapitalistische Klimakrise muss angesichts der rasch ablaufenden Zeit mit offenem Visier geführt werden. Es gilt, den Menschen offen zu sagen, dass nachhaltiger Klimaschutz, also die Linderung der Klimakrise nur bei Überwindung des kapitalistischen Wachstumszwangs möglich ist. Der Klimakampf muss somit als ein Transformationskampf in eine postkapitalistische Gesellschaft geführt werden. Die Überwindung des amoklaufenden Verwertungszwangs des Kapitals ist das absolute Minimum.

Mit dieser Konfrontation wäre endlich der ideologische Bannfluch gebrochen, der die Diskussion von Systemalternativen verunmöglicht. Und eigentlich ahnen die meisten Menschen, dass der Spätkapitalismus auf den Abgrund zusteuert, die Apokalypse ist allgegenwärtig in der Kulturindustrie, in Film und Computerspiel. Die Schwierigkeit bestünde eher darin, die in Resignation verfallenden Menschen davon zu überzeugen, dass der Klimakollaps samt Apokalypse nicht zwangsläufig ist. Mit der Forderung nach einer Systemtransformation wäre auch dem bei Grünen und Linkspartei grassierendem Opportunismus ein Riegel vorgeschoben, der selbst die Klimakrise noch als Vehikel für Karriereträume im Krisenmanagement betrachtet.

Was heißt antikapitalistische Klimapolitik

Die so abstrakt scheinende Vision einer klimafreundlichen und ressourcenschonenden postkapitalistischen Gesellschaft ergibt sich aus den konkreten Notwendigkeiten des Klimaschutzes. Die Forderungen einer antikapitalistischen Klimapolitik dürfen sich nicht um die irrationale Zwangslogik des erodierenden und maroden Spätkapitalismus scheren, sie müssen sich an den objektiven, wissenschaftlichen Notwendigkeiten des Klimaschutzes orientieren, wie auch an technologischen Möglichkeiten der Gesellschaft. Die Produktivkräfte, die der Kapitalismus hervorbrachte, würden hierbei die Fesseln der kapitalistischen Produktionsverhältnisse sprengen.

Konkret heißt das, auch den gegenwärtigen Ängsten der Lohnabhängigen zu begegnen: Dem Totschlagargument des Arbeitsplatzerhalts in fossilen Industrien müsste beispielsweise damit begegnet werden, dass die Reproduktion von Menschen nicht mehr an die Reproduktion von Kapital in ihren Arbeitsplätzen gekoppelt sein darf. Denn die stellt die Lohnabhängigen im Spätkapitalismus vor die tragische Wahl, zwischen dem sozialen Überleben und dem drohenden Klimakollaps wählen zu müssen. Ähnliches gilt für die Mahnungen zur Finanzierbarkeit von Klimaschutzmaßnahmen, denen mit der Zuspitzung und Ausdehnung der Sozialisierungs- und Enteignungsdebatte zu begegnen wäre.

Den ideologischen Sachzwängen, die das Kapital in der neoliberalen Ära errichtet hat, müssten die ganz reellen Sachzwänge des Klimaschutzes entgegengesetzt werden. Eine solche transformatorische Klimapolitik, die konkrete Aktionen mit klar über die Kapitallogik hinausgehenden Forderungen koppelt, käme einem ersten Ausbruch aus dem kapitalistischen Gedankengefängnis gleich.

Da das System sich bereits im Umbruch befindet und ehemals feste gesellschaftliche Strukturen sich verflüssigen, haben kollektive Handlungen weitaus größeren Einfluss als in Zeitperioden, in denen der Kapitalismus stabiler schien.

Doch was muss eigentlich überwunden werden? Selbst die mächtigsten Kapitalist*innen sind der Eigendynamik des Kapitals, die dieses marktvermittelt ausbildet, hilflos ausgesetzt. Die unkontrollierbare Selbstbewegung des als Kapital fungierenden Geldes in seinen Formen von Ware, Geld und Arbeitskraft wird als Fetischismus bezeichnet. Deswegen können die Kapitalist*innen auch nicht die Welt »retten«, obwohl der drohende soziale und ökologische Kollaps ja letztlich auch ihre Geschäfte bedroht. Denn es ist gerade diese unbewusst von den Marktsubjekten hervorgebrachte Verwertungsdynamik, die die ohnmächtigen menschlichen Gesellschaften und das globale Ökosystem verwüstet.

Die kryptisch scheinende Bemerkung von Marx, wonach die Überwindung des Kapitalismus »die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft« abschließen würde, erhält so ihre Klarheit. Alle bisherige menschliche Geschichte vollzog sich unbewusst, im Rahmen von fetischistischen Gesellschaftssystemen: vom religiösen Fetischismus der Frühzeit und des Mittelalters bis zur säkularisierten Religion des Kapitals.

Die Systemkrise des Kapitals ist irreversibel

Die Überwindung dieses Zustands würde eine Vereinfachung der gesellschaftlichen Reproduktion bedeuten. Die Organisation der Gesellschaft wäre dann direkt durch einen egalitären, Verständigungsprozess durch die Gesellschaftsmitglieder organisiert. Dieses Ziel müsste auch schon in der organisatorischen Struktur der transformatorischen Bewegung aufscheinen, die in offenem Diskurs ihr Vorgehen plant – und zugleich für die postkapitalistische Zukunft übt.

Und hier ist der springende Punkt: Die Systemkrise des Kapitals ist ebenfalls ein irreversibler, fetischistischer Prozess, da es an seinen zunehmenden ökonomischen und ökologischen Widersprüchen erstickt und in Transformation übergeht. Es ist keine Frage des subjektiven Willens der Gesellschaftsmitglieder, ob das kollabierende System überwunden wird. Es ist eine blanke Überlebensfrage menschlicher Zivilisation, letztendlich menschlicher Existenz, auf welche Art und Weise der kommende Transformationsprozess vonstattengehen wird: als chaotischer Zerfall, in Form der Errichtung einer brutalen Krisendiktatur oder doch in eine progressive Richtung, die allen kommenden klimabedingten Verwerfungen zum Trotz der Menschheit neue emanzipatorische Perspektiven eröffnen würde. Was ansteht, ist ein Kampf um den Verlauf der Systemtransformation.

Mehr noch: Dieser Transformationsprozess läuft bereits ab – und die zunehmenden politischen, ideologischen und auch militärischen Auseinandersetzungen sind gerade Ausdruck dieses unbewusst über der Menschheit ablaufenden Umbruchs. Zivilisation oder Barbarei – dies sind die Extrempole in dieser historischen »Phase des Übergangs«. Der Transformationskampf um eine lebenswerte postkapitalistische Zukunft müsste den gemeinsamen Nenner vieler disparat scheinender Bewegungen und Kämpfe bilden.

Da das System sich im Umbruch befindet und die ehemals festen gesellschaftlichen Strukturen – vom erodierenden Staat, über das in Auflösung befindliche politische Koordinatensystem bis zu der beständig kriselnden Ökonomie – sich gewissermaßen verflüssigen, haben kollektive Handlungen einen weitaus größeren Einfluss auf die Formung der Zukunft als in Zeitperioden, in denen der Kapitalismus stabiler schien. Auch die bürgerliche Politik, die Handlungen der politischen Subjekte sind somit wieder wichtig, sie haben Gewicht. Nicht, weil sie die Krise lösen, sondern weil sie den Krisenverlauf bestimmen können. Ob Donald Trump oder Bernie Sanders im Weißen Haus sitzen, ist für den Verlauf des Krisenprozesses durchaus von Belang.

Aufgaben für radikale Bewegungen

Die Aufgabe für radikale Bewegungen besteht somit darin, auch bloß reformistisch scheinende Entscheidungen als Weichenstellungen im Transformationsverlauf zu begreifen und sich entsprechend zu positionieren. Auch dabei gilt es, die Notwendigkeit der Systemtransformation zu betonen, um einen Diskurs über Gesellschaftsalternativen endlich gesamtgesellschaftlich zu verankern. Selbst Protestbewegungen wie Fridays for Future und Aufstände wie der »Arabische Frühling« gleichen sich insoweit, weil sie bei Überschreitung sozialer Kipppunkte spontan ausbrechen können. Diesen sehr unterschiedlichen Bewegungen, die in Reaktion auf denselben sozioökologischen Krisenprozess eruptiv entstanden sind, ist es aber nur dann möglich, einen emanzipatorischen Verlauf zu nehmen, wenn sie von einem adäquaten, gesellschaftlich breit verankerten Krisenbewusstsein getragen werden.

Die Krise als Maxime emanzipatorischer Praxis zu begreifen, bedeutet also, sich zu fragen, in welcher Form die spätkapitalistische Gesellschaft in den zwangsläufigen Transformationsprozess eintreten wird. Soll es eine autoritäre, rassistische, polizeistaatlich verwaltete Oligarchie mit absurden sozialen Abgründen sein, in der die fossile Industrie sich ihre Parteien kauft, oder ein eher egalitäres, bürgerlich-demokratisches Gemeinwesen, in dem auch weiterhin Spielräume für radikale Kritik und Praxis gegeben sind? Eine progressive Bewegung, getragen von der Einsicht in die Notwendigkeit der Systemtransformation, würde somit um die Herstellung von Bedingungen kämpfen, die diese Transformationsdynamik in eine emanzipatorische Richtung lenken könnten. Die Maxime einer solchen Postpolitik bestünde einerseits in dem Bemühen, den Zivilisationsprozess aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln, und andererseits im Kampf um eine Überwindung der destruktiven kapitalistischen Eigendynamik.

Es gibt eine Maxime politischer Praxis, der linke Bewegungen, Gruppen oder auch Parteien im 21. Jahrhundert folgen müssen, wenn sie in der gegenwärtigen Umbruchs- und Krisenepoche als fortschrittliche gesellschaftliche Kräfte wirken wollen. Der Kapitalismus muss schnellstmöglich in Geschichte überführt werden, das Kapitalverhältnis als gesellschaftliche Totalität muss bewusst aufgehoben werden – an diesem kategorischen Imperativ hätten sich alle praktischen Aktionen, alle Taktik, alle Reformvorschläge, alle breiteren Strategien zu orientieren.

Das ist kein Ausdruck eines linken »Radikalismus«, sondern die Formulierung des vernünftigen, mittleren, gemäßigten Minimums, ohne dessen Realisierung der Zivilisationsprozess im 21. Jahrhundert in Barbarei münden würde. Gerade weil das Kapital kollabiert, muss es überwunden werden. Fortschritt kann nur noch jenseits des Kapitals realisiert werden, im Transformationskampf um die Ausgestaltung einer postkapitalistischen Gesellschaft.

Tomasz Konicz

ist Autor und Journalist. Von ihm erschien zuletzt das Buch »Klimakiller Kapital. Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört«. Mehr Texte und Spendenmöglichkeiten (Patreon) auf konicz.info.