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|ak 695 | Diskussion

Der Täter, das unmenschliche Wesen

Ashley Memo schrieb in ak 692 eine Kritik an Transformative und Restorative Justice – eine Erwiderung

Von Rehzi Malzahn

Foto eines Demotranspis: Queer Liberation not prison nation
Demonstrierende bei einer Anti-Knast-Demo in Kalifornien 2013. Die Frage, wie mit Gewalt umgegangen werden kann, ist eine zentrale Frage linker Kämpfe und Utopien. Foto: Danie Arauz/Flickr, CC BY-SA 2.0

Ashley Memo schreibt in ak 692, als Kritik an meinem Buch »Restorative Justice. Eine radikale Vision«: »Gewaltbetroffene sind keinesfalls für ›ihre‹ Täter oder deren Gewalt verantwortlich. (…) Sie sind in ihrem Verarbeitungsprozess nicht kategorisch davon abhängig, ob diese Täter Täter bleiben oder nicht.« Das sehe ich absolut genauso. Deswegen behaupte ich auch nirgends das Gegenteil.

Es hat auch Recht mit der Feststellung, dass es besonders aus traumapsychologischer Sicht wichtig ist, dass Betroffene Anerkennung und Unterstützung bekommen und sie in keiner Weise für das, was passiert ist, oder für das Wohlbefinden der beschuldigten Person verantwortlich gemacht werden. Da Opferwerdung eine Erfahrung von extremer Ohnmacht ist, braucht es für die Heilung Ermächtigung und das Gefühl, zu bestimmen, eine Situation oder einen Vorgang kontrollieren zu können.

Das sind exakt die Gründe, warum polizeiliche Ermittlungen und Gerichtsverfahren für Betroffene von (jedweder) Gewalt häufig als reviktimisierend erlebt werden. Auch das schreibe ich in meinem Buch.

Eigentlich müsste ich mehr nicht sagen: Ashley Memo unterstellt mir Dinge, die ich nicht vertrete. Dabei zitiert es Stellen, die man mit Müh und Not in seinem Sinne verstehen kann. Aus dem Gesamtkontext des Buches ergibt sich aber notwendig ein anderes Bild. Mir ist nicht klar, warum es das tut.

Überhaupt etwas verändern können

Ich möchte aber auch ein paar Worte zum Rest des Artikels verlieren. Ashley Memo schreibt durchweg von »Tätern«. Nicht ohne Grund benutzen wir im breiteren Kontext des Abolitionismus (1) dieses Wort nicht: Es entmenschlicht, indem es eine Person mit dem Schlimmsten, was sie getan hat, oder der schlimmsten Seite ihres Charakters gleichsetzt, sie darauf reduziert. Es gibt darin keine Komplexität und keine Entwicklung. Der Begriff ist statisch und stigmatisierend.

Das hat mehrere problematische Konsequenzen: Wer so betitelt wird, wird sich mit Händen und Füßen dagegen wehren. Menschen haben in der Regel ein positives Selbstbild. Wenn dieses durch eine Anschuldigung getrübt wird, ist das schwer auszuhalten. Geht die Anschuldigung gegen die ganze Person (anstatt nur gegen eine konkrete Handlung), ist die Abwehr umso stärker.

Wenn man also die Chancen erhöhen will, dass jemand hört, was man zu sagen hat, hilft es, wenn man es so sagt, dass das Gegenüber es annehmen kann. Das kann man jetzt blöd finden und sagen, es sei nicht die eigene Aufgabe. Ich für meinen Teil, als mehrfach Betroffene verschiedenster Formen sexistischer, sexualisierter und sexueller Gewalt habe aber ein dringendes Interesse daran, dass sich etwas ändert. Deswegen kann ich mir so eine Position nicht leisten.

Aus der Kriminologie wissen wir außerdem, dass Stigmatisierung zur Folge haben kann, dass Menschen sich in einer Identität als »kriminelle Person« einrichten und gar nicht mehr Teil der Gesellschaft sein wollen. Wenn ich möchte, dass eine Person sich ändert, muss ich ihr signalisieren, dass ich glaube, dass sie es kann, und dass ich auch bereit bin, eine Veränderung anzuerkennen und sie zu rehabilitieren. Und Achtung: Niemand sagt, dass das Aufgabe der Betroffenen ist (wie Ashley Memo behauptet).

Weil Gesellschaft und Community Taten mitproduzieren, sind sie auch mitverantwortlich.

Menschen, die an einem Restorative Justice Verfahren (2) teilnehmen, tun dies, weil sie es wollen, können jederzeit abbrechen. Sie haben eine lange Vorbereitung hinter sich, in der es darum geht, genau all jene Gefahren zu minimieren (nicht auszuschließen, denn es gibt keine Garantien im Leben), von denen Ashley Memo in seinem Artikel spricht. Das weiß der*die Autor*in, wenn es mein Buch gelesen hat.

Kollektive Verantwortung

Die Art und Weise, wie Ashley Memo das gesellschaftliche Problem sexualisierter und sexistischer Gewalt vereinheitlicht, versetzt mich in Staunen. So vieles finde ich daran grundfalsch. Das Bild, das Memo zeichnet, ist das eines manipulierenden, machtgierigen Beziehungsmehrfachtäters. Diese sind aber nur für einen vermutlich sehr geringen Teil der sexuellen, sexualisierten und sexistischen Gewalttaten verantwortlich – so vieles an Übergriffigkeit passiert in anderen Kontexten, darunter Grauzonen aus Missverständnis, Kommunikationspanne, Reflexionsmangel, Rausch, Gelegenheit. Das ist nicht nur der Bodensatz der verallgemeinerten Gewalt, sondern auch die Ebene, auf der man präventiv und durch Reflexion enorm viel erreichen kann.

Dazu kommt, dass das Ausblenden gesellschaftlicher und situativer Bedingtheit menschlichen Handelns die Gewalt »dem Täter« als eine Art freie Wahl der Handlung aufbürdet und damit eine linke Grundüberzeugung über Bord wirft: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Niemand wird als »Täter« geboren.

Es gibt eine kollektive Dimension der Verantwortung. Das heißt, dass es keine einfachen Antworten gibt. Weil Gesellschaft und Community Taten mitproduzieren, sind sie auch mitverantwortlich – erstens für die Heilung der Betroffenen, zweitens für die »Reformation« der Ausübenden.

Nicht zuletzt vergisst diese Veräußerlichung von Täter*innenschaft die eigenen Anteile und die eigene Gewalt. Der »Täter«, das ist immer der andere. Gerade weil ich selbst ja kein »Täter« bin (bis es mir jemand vorwirft), kann ich meine eigene Gewalt nicht ansehen, denn dann müsste ich ja die Identität »Täter« annehmen.

Wenn ich Gewalt als Verhalten verstehe, das uns alle (in unterschiedlichem Maße und durch Herrschaftsstrukturen geprägt) durchzieht, kann ich auch meine eigene Gewalt akzeptieren – was, wie wir wissen, Voraussetzung dafür ist, sie zu beenden.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht nicht darum, dass Betroffene in ihrer Rolle als Betroffene ihre eigene Gewalt reflektieren, sondern darum, dass wir alle in unserer Rolle als im Machtgefüge positionierte Gesellschaftsmitglieder unsere Gewalt reflektieren, um dann anderes damit umzugehen und sie zu überwinden.

Aus Ashleys Text scheint für mich auch eine gute Portion Paternalismus. Betroffene von Gewalt sind verschieden und haben unterschiedliche Bedürfnisse, darunter Schutz, Abstand, Anerkennung als Opfer, aber auch Antworten auf Fragen, den Wunsch, die eigene Geschichte erzählen zu können, Wiedergutmachung und Prävention für die Zukunft. Vieles davon ist direkt an die tatverantwortliche Person geknüpft. Was für die Einzelnen das Richtige ist – und wann! –, können nur sie entscheiden. Diese Entscheidungshoheit zu haben, kann Teil eines Heilungsprozesses sein. Und die Entscheidungen können sich mit der Zeit verändern.

Restorative Justice ist ein Angebot, das diese verschiedenen Bedürfnisse und ihre zeitliche Dimension annimmt, abbildet und entsprechend angepasst ist. Ein Angebot, das immer auch abgelehnt werden kann. Ich finde es anmaßend, wenn Ashley Memo Menschen, die sich für einen restorativen Kontakt mit der tatverantwortlichen Person entscheiden, pathologisiert, indem es ihnen unterstellt, sie würden einen Schutzmechanismus ausagieren, um die Ohnmacht erträglicher zu machen, oder sie würden nur auf die Manipulation des Tatverantwortlichen hereinfallen. Das bläst nicht nur dessen Macht ins quasi Unermessliche auf, sondern macht uns Betroffene zu entscheidungsunfähigen Getriebenen unserer Psyche (ein altes, genuin misogynes Stereotyp). Das reproduziert das Machtverhältnis.

Was Vermittler*innen und Berater*innen angeht, so wissen wir um diese Risiken. Sie sind mit ein Grund, warum man nie alleine arbeitet und es spezifische Fortbildungen gibt – insbesondere zu sexualisierter und Beziehungsgewalt.

Zu allerletzt möchte ich sagen, dass ich Wut aus Ashley Memos Text herauslese. Wut auf die Verhältnisse, auf die mangelnde Veränderung bei den cisgeschlechtlichen Männern. Darauf, dass sich Frauen, Queers, trans- und intergeschlechtliche Personen immer wieder (an ihnen) den Arsch abarbeiten. Ich teile diese Wut, ich bin megafrustriert. Cisgeschlechtliche Männer sind so eine Enttäuschung. Wir müssen aber mit ihnen leben, und da nur wenige sich von selbst ändern wollen, bleibt uns nichts anderes übrig, als die Hand ausgestreckt zu halten, damit sie die Motivation für eine Veränderung finden. Das ist ein schmerzhafter, anstrengender und schwieriger Prozess, deswegen muss er eine befriedigende Perspektive bieten (und manchmal braucht es auch einen Tritt in den Arsch), sonst tun sie es nicht. Das kann man noch so ungerecht finden, daran führt kein Weg vorbei.

Es ist völlig okay zu sagen: Ich kann das (gerade) nicht. Ich tue es, weil ich es kann und es mir sogar Freude bereitet. Idealerweise gibt es in jedem Umfeld jemanden oder mehrere, die eine solche begleitende oder vermittelnde Aufgabe (eine Zeit lang) übernehmen können. Es wäre allerhöchste Zeit, dass cisgeschlechtliche Männer hier tätig werden, sich fortbilden, auseinandersetzen und als »Community« für die Veränderung ihrer Geschlechtsgenossen Verantwortung übernehmen, um – ja genau! – ein sicheres Umfeld zu schaffen, in dem sich Leute verletzlich machen und zu ihren Handlungen stehen können.

Rehzi Malzahn

arbeitet als Mediatorin seit zehn Jahren im internationalen Kontext von Strafabolitionismus und Restorative Justice. Sie ist Autorin zweier Bücher zum Thema, hält Vorträge und Workshops und unterstützt Gruppen und Einzelpersonen bei der Aufarbeitung von schmerzhaftem Geschehenen.

Anmerkungen:

1) Abolitionismus bedeutet die Abschaffung aller totalitären Institutionen. Historisch angefangen bei der Sklaverei, bezieht er sich heute meist auf die Überwindung des Gefängnisses und aller strafenden Reaktionen.

2) Restorative Justice ist ein Sammelbegriff für Verfahren, die die Bedürfnisse der Betroffenen und Beteiligten einer Verletzung ins Zentrum stellen, Verantwortungsübernahme fördern und nach einer wiedergutmachenden, nachhaltigen Lösung suchen. Sie beruhen auf Freiwilligkeit, Partizipation und Ergebnisoffenheit sowie weiterer wichtiger Werte.