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Das Rentenwunder von Bern 

Ausgerechnet die sparsame Schweiz stimmt überraschend einer 13. Altersrente zu – wie kam es zu diesem sozialpolitischen Coup der Gewerkschaften?

Von Kaspar Surber

Nach dem Berufsleben ab ins Rentner*innenparadies? Das ist immer noch eine Klassenfrage, auch in der reichen Schweiz. Foto: Matt Bennett/Unsplash

Eigentlich schweben die Alt-Bundesrät*innen in der Schweiz über den Dingen. Nur selten melden sich die früheren Mitglieder der Mehrparteienregierung im politischen Tagesgeschäft zu Wort. So wie diesen Januar: Da schickten sich gleich fünf dieser Altvorderen an, der Schweizer Bevölkerung einen offenen Brief zu schreiben. »Wir wenden uns heute mit ernster Besorgnis an Sie«, hieß es darin. »Es geht um die Volksinitiative für eine 13. AHV-Rente. Was verlockend klingt, ist brandgefährlich.« Doch statt dass das Schreiben mit der gebotenen Hochachtung diskutiert wurde, bewirkte es das Gegenteil: Die Belehrung löste bei vielen Bürger*innen Wut und Empörung aus, die sich in Zuschriften an die Medien wie auch in Schmähmails an die Privatadresse der Ex-Magistrat*innen Bahn brach.

Im offenen Brief wie auch an den geharnischten Reaktionen kam beispielhaft zum Ausdruck, was die Abstimmung über eine zusätzliche Monatsrente für die Pensionierten in der Schweiz auszeichnete: Sie traf einen Nerv. Selten wurde eine Volksinitiative im Vorfeld derartig leidenschaftlich diskutiert. Überdurchschnittliche 60 Prozent betrug am Abstimmungssonntag vom 3. März 2024 die Stimmbeteiligung. In der Diskussion über die Vorlage zeigte sich zudem ein Elite-Basis-Konflikt: Den Alt-Bundesrät*innen, die zur Vernunft mahnten, wurde postwendend vorgeworfen, dass sie mit ihrem Ruhegehalt von mehr als 200.000 Franken im Jahr keinerlei Gespür für die sozialen Realitäten im Land hätten. Das Ergebnis der Abstimmung lässt sich schliesslich als veritabler Klassenkonflikt interpretieren, denn nur die hohen Lohnklassen stimmten am Ende gegen die Vorlage.

So ereignete sich am 3. März 2024 der grösste sozialpolitische Coup, den die Schweizer Gewerkschaften und die linken Parteien in den letzten Jahrzehnten erreicht haben: Die 13. Rente wurde deutlich mit 58 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Statt dass bei der Altersvorsorge – wie von den rechten Parteien mantrahaft gefordert – gespart wird, muss sie nun um vier bis fünf Milliarden Franken jährlich ausgebaut werden. Wie kam es zu diesem Rentenwunder? Wo liegen im Resultat auch Widersprüche? Und was lässt sich daraus lernen?

Zum perfekten Zeitpunkt

Die Idee einer 13. AHV-Rente, angelehnt an den 13. Monatslohn, nahm am Kongress des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes SGB 2018 als Volksinitiative ihren Anfang. Die obligatorische Sozialversicherung AHV (»Alters- und Hinterlassenenversicherung«) bildet die erste Säule der Altersvorsorge in der Schweiz, die berufliche Vorsorge mittels Pensionskassen die zweite. Zusammen sollen die beiden Säulen den Rentner*innen gemäß der Verfassung »die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise« garantieren. Das sogenannte Drei-Säulen-Modell komplett macht das individuelle Sparen, das insbesondere den Kauf von Wohneigentum fördert.

Die AHV wurde 1948 eingeführt, als Grundlage diente ein Wehrersatz für Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg. Dass sich die Sozialversicherung bis heute in der breiten Bevölkerung und besonders auch unter linken Politiker*innen einer hohen Beliebtheit erfreut, ist einfach zu erklären: Sie hat eine stark umverteilende Wirkung zwischen hohen und niedrigen Einkommen. Während die AHV-Beiträge auf Grundlage der gesamtem Lohnsumme erhoben werden, ist die Rente selbst auf einen Maximalbetrag gedeckelt. So kommt es, dass 92 Prozent der Schweizer*innen mehr Rente beziehen, als sie je über Lohnabzüge in die Versicherung einbezahlt haben. »Der Millionär braucht die AHV nicht, aber die AHV braucht den Millionär«, pflegte der sozialdemokratische Bundesrat Hans Peter Tschudi zu sagen, der die Altersvorsorge in den 1970er Jahren in der heutigen Form konzipiert hatte. 

Jeder Ausbau der AHV-Rente ist ein Angriff auf die Reichen und Superreichen.

Jeder Ausbau der AHV ist daher ein Angriff auf die Reichen und Superreichen, die in der steuergünstigen Schweiz bekanntlich zahlreich vertreten sind. Von jeder Stärkung der beruflichen Vorsorge hingegen, bei der das individuell angesparte Alterskapital für die Höhe der Rente maßgeblich ist, profitieren die Besserverdienenden – sowie die privaten Versicherungskonzerne. Kein Wunder also, dass bei dieser Konstellation in der Schweiz um die erste und zweite Säule der Altersvorsorge epische sozialpolitische Schlachten geschlagen werden. Zwar konnten die Gewerkschaften in der Vergangenheit in den meisten Fällen einen Abbau verhindern – aber bisher nur selten einen Ausbau erreichen: Noch 2016 scheiterte eine ähnliche Initiative wie die jetzige, damals wurde eine Erhöhung der AHV-Renten um zehn Prozent gefordert.

Dass es diesmal klappte, lag neben der griffigen Idee einer 13. Rente vor allem am wirtschaftlichen Umfeld: Wegen der tiefen Zinsen an den Kapitalmärkten sind die Rentenerwartungen der beruflichen Vorsorge in den letzten Jahren stark gesunken, weshalb das Verfassungsversprechen einer Fortführung der bisherigen Lebenshaltung im Alter infrage gestellt ist. Hinzu kommen wegen der Teuerung gestiegene Preise, insbesondere bei den Lebensmitteln, ein in den großen Städten überhitzter Immobilienmarkt mit entsprechend steigenden Mieten sowie ständig höhere Prämien für die Krankenkassen. Die Initiative erwischte also den richtigen Zeitpunkt. Die Kampagne der Gewerkschaften war zudem gut gemacht und im öffentlichen wie im digitalen Raum präsent – während sich die Gegner*innen gravierende Fehler leisteten, wie den Brief der Alt-Bundesrät*innen. Eingefädelt hatte diesen Economiesuisse, der Lobbyverband der Schweizer Großkonzerne.

Tiefer Lohn, hohe Zustimmung

Dass die Wirtschaftsverbände und die rechtsbürgerlichen Parteien die Zeichen der Zeit nicht erkannten, zeigte sich bereits bei der Beratung der Initiative im Parlament: Während man im Frühjahr noch Milliarden an Garantien für die Übernahme der Großbank Credit Suisse durch die Großbank UBS bereitstellte, kanzelte man das Anliegen einer 13. Rente ohne einen Gegenvorschlag ab. Da kamen Versprechungen im Abstimmungskampf, bei einer Ablehnung alles Mögliche zur Bekämpfung der Altersarmut zu tun, reichlich spät. Doch nicht nur das politische Establishment irrte, sondern auch das mediale: Seit Jahren warnen die großen Medienhäuser vor einem drohenden Generationenkonflikt bei der Altersvorsorge. Auch diesmal diskreditierten sie das Anliegen als populistisch. 

Bei der Analyse des Resultates blieb immerhin die Flucht ins Umfragewesen. So ergab die Nachwahlbefragung der Tamedia-Gruppe einen »Sieg der Armen über die Reichen«. Demnach war der Ja-Anteil für die Initiative desto höher, je niedriger das Einkommen der Abstimmenden war: Erst ab einem Monatslohn von 13.000 Franken stimmte eine Mehrheit gegen eine 13. Rente. Das Ergebnis korreliert mit dem Ausbildungsstatus: Nur Personen mit einem Universitätsabschluss votierten mehrheitlich gegen die Vorlage, allerdings waren auch diese fast unentschieden. Bemerkenswert ist schließlich, dass nicht nur die Wähler*innen der Sozialdemokratischen Partei (sehr deutlich) und die der Grünen (recht deutlich) für die Vorlage votierten, sondern auch eine Mehrheit der Anhänger*innen der rechtspopulistischen SVP. Die von der Milliardärsfamilie Blocher finanzierte Partei hatte sich klar gegen die Initiative gestellt und die Nein-Kampagne geleitet.

Der im Ergebnis sichtbare Klassenkonflikt verschärft sich noch, wenn man den hohen Anteil der Ausländer*innen in der Schweiz bedenkt, die von der demokratischen Mitbestimmung ausgeschlossen sind: Sie machen rund 25 Prozent der Bevölkerung aus, wobei der größere Teil in Branchen mit niedrigeren Löhnen arbeitet. Hätten sie alle auch über das Stimmrecht verfügt, so wäre die Annahme mutmaßlich noch viel deutlicher ausgefallen.

Links stimmen, rechts wählen

Dass das Resultat auch einige Widersprüche enthält, zeigten die Wahlen in einzelnen Kantonen, die gleichzeitig mit der Abstimmung stattfanden: Dabei legte die SVP deutlich zu, während die SP stagnierte. Es muss also viele Bürger*innen gegeben haben, die für einen Ausbau des Sozialstaates gestimmt und gleichzeitig jene Partei gewählt haben, die diesen mit neoliberalen Rezepten vehement bekämpft. Oder anders gesagt: Die zwar für mehr Solidarität sind, aber diese Solidarität vor allem auf sich selbst beziehen. Im Zweifel wählen sie am Ende doch das ausländerfeindliche Programm der SVP.

Für die Linke bedeutet diese Feststellung eine Herausforderung. Zwar dürfte sie die unteren und mittleren Einkommen auch bei weiteren sozialpolitischen Anliegen für sich gewinnen, etwa bei noch in diesem Jahr folgenden Abstimmungen über die Krankenkassenprämien. Wie sie diese aber auch als Wähler*innen für eine gesellschaftliche Wende erreichen kann, steht offen. Eine mögliche Antwort liegt im erwähnten Elite-Basis-Konflikt. Bekanntlich lässt sich der Aufstieg der nationalistischen Rechten auch als Krise der politischen Repräsentation verstehen. Will die Linke diese Lücke schließen und bei den unteren Einkommensschichten als vertrauenswürdige Partnerin in allen Belangen erscheinen, dann muss sie Basisarbeit im besten Sinn leisten – gegen das Establishment des Status Quo. Dafür sollten die Gewerkschaften nicht bloß politische Kampagnenarbeit wie bei der 13. AHV-Rente betreiben, sondern die Auseinandersetzung zwischen Arbeit und Kapital auch wieder verstärkt mit Streiks forcieren.

Kaspar Surber

lebt in Zürich und ist Teil der Redaktionsleitung der linken Wochenzeitung WOZ.