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Aufstand wegen Polizeimord

In Thessaloniki wurde Kostas Fragoulis von einem Beamten getötet, weil er ein Rom war

Von John Malamatinas

Thessaloniki war das Zentrum massiver Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Protestierenden. Foto: Partizan Yunanistan/Twitter

Pavlos Fragoulis kniet sich vor der Wand hin, zündet eine Zigarette an und legt sie auf den Boden. Er zündet eine weitere an und raucht sie. Er murmelt vor sich hin, die Tränen laufen übers Gesicht. Vor ihm steht frisch gesprüht der Name seines Sohnes, Kostas. Etwas weiter rechts über die Treppe steht: »Es war nicht das Benzin, es war nicht das Geld, die Bullen haben auf mich geschossen, weil ich ein Roma war.« Es ist ein sonniger Dezembertag zwischen Weihnachten und Silvester. Familie und Freund*innen haben sich versammelt, um ein Graffiti am Tatort, hier in Diavata/Thessaloniki im Norden Griechenlands, anzubringen. Ursprünglich war geplant, die komplette Wand mit einem Porträt von ihm zu verzieren. Der Hotelbesitzer weigerte sich aber, die ganze Wand freizugeben. Die Aktion wurde am gleichen Tag an der Autobahnauffahrt zum Viertel vervollständigt.

Kurz nach 1 Uhr morgens am 5. Dezember wurde der 16-Jährige Rom Kostas Fragoulis in seinem Pickup-Truck von einem Motorradpolizisten der DIAS-Einheit in den Hinterkopf geschossen. Obwohl schwer verletzt, soll Fragoulis zunächst in kritischem Zustand überlebt haben. Der Vorfall ereignete sich, nachdem er angeblich eine nahe gelegene Tankstelle verlassen hatte, ohne Benzin im Wert von 20 Euro zu bezahlen. Aufnahmen einer Überwachungskamera von der Tankstelle zeigten, dass die Polizisten im Laden Bier tranken, bevor sie vom Besitzer darüber informiert wurden, dass das Fahrzeug abfuhr, ohne zu bezahlen. Anschließend jagten die Polizisten den jungen Fahrer. Knapp 500 Meter vor der Grenze zur Roma-Siedlung, in der Kostas lebte, erschossen sie ihn. Es ist nicht bekannt, ob das Fahrzeug von Fragoulis vor oder nach den Schüssen gegen eine Wand gefahren ist, er wurde jedoch in ernstem Zustand ins Krankenhaus gebracht und dort sofort operiert. Die Polizei spricht von Notwehr, weil Fragoulis versucht haben soll, sie zu rammen – Tatsache ist aber, dass der Polizist von einem fahrenden Motorrad wild geschossen hat.

Bemerkenswert war die teilweise koordinierte Revolte in zahlreichen Roma-Siedlungen und -Vierteln in ganz Griechenland.

Schon am Morgen nach der Tat versammelten sich viele Verwandte und Freund*innen von Fragoulis vor dem Krankenhaus, um ihre Unterstützung zu zeigen. Es tauchten Bereitschaftspolizisten auf, woraufhin die Menge die Einheit angriff. Nachdem die Polizeieinheit Tränengas in die Menge geworfen hatte, war sie gezwungen, sich zurückzuziehen. Am Abend kam es zu einer Spontandemonstration durch die Innenstadt, organisiert von linken Gruppen, bei der es ebenfalls zur Auseinandersetzungen mit der Polizei kam.

Der 6. Dezember und der Aufstand der Roma

Die Erschießung von Fragoulis heizte die Stimmung kurz vor den jährlichen Demonstrationen zum 6. Dezember an. Der 6. ist der Jahrestag der Ermordung des 15-jährigen Alexis Grigoropoulos durch einen Polizisten im linksalternativen Stadtteil Athens, Exarchia, im Jahr 2008. Die Tat führte damals zu einem wochenlangen Aufstand in ganz Griechenland, vor allem durch Schüler*innen und Student*innen angetrieben. Dieses Jahr nahmen 10.000 Menschen an einem großen Marsch durch das Zentrum von Thessaloniki teil, eine der größten Demonstrationen der letzten Jahre. Am Ende errichteten Hunderte Barrikaden, bewarfen die Polizei mit Molotowcocktails, Steinen und schossen Leuchtraketen. In ganz Griechenland versammelten sich in diesem Jahr bei den Gedenkmärschen zahlreiche Demonstrierende. Städte wie Athen, Ioannina und Larissa erlebten veritable Unruhen. Alle Demonstrationen thematisierten den mörderischen Vorfall von Thessaloniki.

Bemerkenswert war jedoch die teilweise koordinierte Revolte in zahlreichen Roma-Siedlungen und -Vierteln in ganz Griechenland – sie betraf mehr als zehn Regionen. Da Roma-Communities in ganz Griechenland TikTok in großem Umfang zur Kommunikation nutzen, verbreitete sich die Nachricht von der Ermordung Kostas Fragoulis durch die Polizei rasant und verwandelte sich in eine Kampagne für Gerechtigkeit und die Verurteilung des Schützen. Die Roma kamen auf die Hauptstraßen oder zu den Eingängen ihrer Siedlungen, entzündeten Barrikaden, und es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei. Mit Slogans wie »Es ging nicht um das Benzingeld, sie haben ihn getötet, weil er ein Roma war« prangerten sie den systematischen Rassismus an, den Roma erleben.

Erst am 13. Dezember gab das Krankenhaus bekannt, dass Kostas Fragoulis gestorben ist. Zuvor gab es Unklarheiten zu seinem gesundheitlichen Zustand – es wurde kein unabhängiges ärztliches Gutachten eingeholt und vermutet, dass wegen der zeitlichen Nähe zum  6. Dezember Informationen zurückgehalten wurden, obwohl Fragoulis schon klinisch tot gewesen sein muss. Vor dem Gericht, wo über die U-Haft des Polizisten entschieden werden sollte, wurde sogar der Vater von Kostas Fragoulis während einer Attacke auf Protestierende von Polizisten zu Boden geschlagen. Das Gericht ließ gegenüber dem beschuldigten Polizisten Milde walten. Es entschied letztendlich, dass er bis zum Prozess frei gelassen wird unter der einzigen Auflage eines Ausreiseverbots.

Gleichzeitig entlud sich  ein reaktionärer Hass im Fernsehen und den sozialen Medien. Rufe wurden laut, jetzt wo die Roma »ihr wahres Gesicht zeigen«, die Chance zu nutzen im »Ghetto aufzuräumen«. Der Staat ließ sich nicht lange bitten und setzte neben den zahlreichen Riotpolizisten auch SEK-ähnliche Spezialeinheiten ein, um die Unruhen unter Kontrolle zu bringen. Zur gleichen Zeit beschloss die rechtskonservative Regierung von Premierminister Kyriakos Mitsotakis eine einmalige Zulage für Polizisten im Wert von 600 Euro.

Rechter Hass

Antiziganismus hat in Griechenland Tradition – ebenso auch die mangelnde Unterstützung von Roma seitens der Behörden. Die Roma sind wie unsichtbare Menschen, die die Griech*innen in ihrem unmittelbaren Blickfeld nicht zu sehen vorgeben. Derzeit leben laut Europarat 270.000 Roma in ungefähr 350 Siedlungen. In den letzten Jahrzehnten waren die Roma Zwangsräumungen durch die Behörden ausgesetzt, was dazu führte, dass ganze Siedlungen im Laufe der Jahre geräumt wurden. Dadurch haben elf Prozent der griechischen Roma keinen Zugang zu Wohnraum und 45 Prozent der griechischen Roma leben in segregierten Wohnungen, die schlechter sind als die der Allgemeinbevölkerung. Viele haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und städtischer Infrastruktur wie Müllabfuhr oder Straßen. Pavlos Fragoulis und seine Freunde erzählen am Tag, an dem die Graffiti gesprüht werden, im Gespräch mit ak, von ihrem Leben: »Niemand arbeitet von uns. Und niemand wird uns Arbeit geben. Wir sind gezwungen vom Sammeln von Altmetallen zu leben.« Sie berichten von rassistischen Kontrollen, sobald sie in der Innenstadt unterwegs sind – manchmal dreimal am Tag.

Auch die tödlichen Schüsse sind kein Einzelfall. Am 22. Oktober 2021 wurde der 18-jährige Rom Nikos Sampanis in Athen im Rahmen einer Verfolgungsjagd wegen eines gestohlenen Autos von der Polizei erschossen. Während der Aktion gaben die Beamten 36 Schüsse ab. Ein 16-Jähriger wurde  verletzt. Sieben Polizeibeamte wurden festgenommen, aber unter dem Beifall ihrer Familien und der Polizeibeamten, die sie als »Helden« bezeichneten, schnell wieder freigelassen.

Der Vorfall veränderte die griechische Linke. Auf der jährlichen Demonstration am 17. November in Athen zum Jahrestag des Polytechnikum-Aufstands, fast einen Monat nach der Ermordung von Sampanis, schloss sich seine Familie spontan dem Protest an, an dem sich viele Tausend Linke beteiligen. Die Demonstration zum Jahrestag des Gedenkens am 6. Dezember 2021 wurde daraufhin dem Gedenken an Nikos Sampanis gewidmet. Es braucht offensichtlich solche Momente, damit bei der griechischen Gesellschaft, aber auch der griechischen Linken, ein Umdenken stattfindet. Denn sonst gilt weiterhin: Wenn sie Griechen gewesen wären, würden Kostas und Nikos noch am Leben sein und die Proteste viel größer und dauerhafter. Und es stünden mehr Leute hinter Pavlos Fragoulis, wenn er in Gedenken an seinem Sohn eine Zigarette raucht.

John Malamatinas

ist freier Journalist in Berlin, Brüssel und Thessaloniki.