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|Thema in ak 719: Wie weiter in Gaza?

Kontrolliertes Töten

Die Genozid-Debatte rund um Israels Krieg in Gaza zeigt die Schwächen des Völkerrechts – aber auch die der Linken

Von Pajam Masoumi

Foto von zertrümmerten und zerstörten Wohnhäusern in Gaza vor blauem Himmel
Von dem, wohin Palästinenser*innen in Gaza nun zurückkehren können, ist kaum noch etwas übrig. Wohnungen, Krankenhäuser, Schulen und Universitäten wurden großflächig zerstört. Foto: picture alliance / Anadolu / Ali Jadallah

Dass der israelische Feldzug in Gaza vollständig vom Völkerrecht gedeckt war, behauptet nicht einmal mehr die von Friedrich Merz geführte schwarz-rote Regierungskoalition. Selbst viele, die Israel lange unterstützt haben, sprechen inzwischen von Kriegsverbrechen. Umstritten bleibt aber der Vorwurf des Völkermordes.

Dieser steht bereits seit langem im Raum. Schon kurz nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und den darauffolgenden ersten israelischen Angriffen auf Gaza wurde er von Aktivist*innen, aber auch von Palästinenser*innen geäußert, die den Bomben schutzlos ausgeliefert waren. Heute besteht unter Jurist*innen kaum ein Zweifel daran, dass die Lebensmöglichkeiten von Palästinenser*innen in Gaza zerstört wurden. Lediglich, ob diese Zerstörung in Kauf genommen wurde oder mit Vorsatz geschah, ist umstritten.

Mit Vorsatz oder ohne

Unter den Stimmen, die Israels Krieg gegen Gaza einen Völkermord nennen, sind längst internationale und deutsche Völkerrechtler*innen, renommierte Genozid- und Holocaustforscher*innen, die Sonderkommision des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen sowie Ärzte ohne Grenzen und andere NGOs. In ihrem Bericht vom 16. September 2025 wirft die UN-Kommission Israel vor, vier der fünf in der Genozidkonvention genannten Handlungen durchzuführen:

1. Tötung von geschützten Mitgliedern der Gruppe;

2. Vorsätzliche Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;

3. Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;

4. Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind.

Die fünfte Handlung, die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe, ist im Zusammenhang mit dem Krieg in Gaza nicht relevant.

Ein Völkermordvorwurf lässt sich anhand zweier entscheidender Faktoren validieren: Gibt es einen Befehl zur ganzen oder teilweisen Vernichtung einer »nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe« oder andere plausible Hinweise darauf, dass von Menschen in relevanten Positionen diese Vernichtung angestrebt wird? Und deckt sich das Vorgehen auf dem Schlachtfeld mit der geäußerten Vernichtungsabsicht? Beides lässt sich rational und überzeugend für das israelische Vorgehen argumentieren.

Als besonders gravierendes Indiz gilt dabei die unzureichende Versorgung mit Hilfsgütern, die zu einer seit September eskalierenden Hungersnot geführt hat.

Auch die regelmäßigen Angriffe auf Krankenhäuser sowie die Zerstörung von rund 60 Prozent der in Gaza bebauten Flächen und rund 90 Prozent der Wohnungen führen fast zwangsläufig zu jenem Zustand, der mit dem »vorsätzlichen Auferlegen von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen«, beschrieben wird. Israel erkennt indes den Menschenrechtsrat der UN nicht an und weist die Vorwürfe von sich.

Heute besteht kaum ein Zweifel daran, dass die Lebensmöglichkeiten von Palästinenser*innen in Gaza zerstört wurden. Lediglich, ob diese Zerstörung in Kauf genommen wurde oder mit Vorsatz geschah, ist umstritten.

Noch bevor all dies geschah, hatte der Internationale Strafgerichtshof (IGH) eine Klage Südafrikas auf Grundlage der Völkermordkonvention vom 29. Dezember 2023 angenommen und Israel mit einem Maßnahmenkatalog belegt, um es nicht zum Genozid kommen zu lassen. Israel hat bis zum vereinbarten Waffenstillstand kaum eine dieser Maßnahmen ergriffen.

(K)eine Frage der Moral

Nun könnte man einwenden, es mache für Palästinenser*innen keinen Unterschied, ob sie mit oder ohne Vorsatz vernichtet werden. Das mag für die einzelne Person zutreffen, die von einer Rakete zerfetzt, einer Kugel getötet oder unter Trümmern begraben wird. Für die, die noch leben, jedoch nicht. Nicht nur, weil die »Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Genoziden« theoretisch zu einem Eingreifen der unterzeichnenden Staaten führen müsste – und zwar noch bevor ein Völkermord juristisch festgestellt ist. Sondern auch, weil eine Anerkennung juristische, politische und sozialpsychologische Folgen für die jeweiligen Gesellschaften hat.

Juristisch können Überlebende sowohl die Täter*innen zur Rechenschaft ziehen, als auch von dem Völkermord verübenden Staat Reparationen und Hilfen einfordern. Auch der Zugang zu internationalen Hilfen für einen möglichen Wiederaufbau sowie die Forderung nach Rückgabe geraubter Güter sind auf juristischer wie politischer Ebene erleichtert.

Gesellschaftlich ist die Anerkennung eine Grundlage, um die kollektive wie persönliche Thematisierung von Traumata mit staatlich oder interstaatlich organisierter Hilfe voranzutreiben sowie Erinnerungsorte und Rituale zu schaffen. Der Historiker und Genozidforscher Omer Bartov argumentiert in seinem jüngsten Buch »Genozid, Holocaust und Israel-Palästina«, ein Teil eines Völkermordes sei auch die Zerstörung möglicher Erinnerung an die potenziell vernichtete Gruppe. Für die Überlebenden und ihre Nachkommen ist aber genau diese Erinnerung wichtig – vor allem, um einen persönlichen Heilungsprozess anzustoßen und die erlebten Gräuel zu verarbeiten. Denn wie sollte dies möglich sein, wenn die Gewalt nicht als solche anerkannt wird und die Opfer aus der Geschichte getilgt sind?

Aus Versehen staatstreu

Wer sich von links aufs Völkerrecht bezieht, begibt sich dennoch auf wackeliges Terrain. Denn es ist ein Recht, welches das Verhalten in der zwischenstaatlichen Konkurrenz regulieren soll. Mit dem Bezug aufs Völkerrecht wird der nationalstaatliche Rahmen akzeptiert – und damit auch der staatliche Zugriff auf seine Bevölkerung als Kriegsmaterial. Das Völkerrecht definiert schließlich auch eine legitime Form der Kriegsführung, welche zivile Opfer in Kauf nimmt, sollten sich die Angriffe der Kriegsparteien vornehmlich auf nicht-zivile Ziele richten.

Zudem ist die Abgrenzung zwischen Kombattant*innen und Zivilist*innen längst nicht so leicht zu ziehen, wie oft suggeriert wird. So ist die Grenze zwischen zivilem Protest und bewaffnetem Widerstand durchlässig, besonders im Kontext von sozialen Bewegungen, die sich »von unten« bilden und zum bewaffneten Kampf übergehen.

Zugleich ist insbesondere der Vorwurf des Völkermords einem politischen Kalkül unterworfen, da die bereits erwähnte Konvention nicht erst an einen juristischen Schuldspruch gebunden ist, sondern zur Verhinderung der Vernichtung auffordert. Das wohl bekannteste Beispiel für ein sich daraus ergebendes politisches Manövrieren dürfte der Genozid in Ruanda 1994 sein. Dieser wurde von der damaligen US-Regierung unter Bill Clinton nicht als solcher bezeichnet, da die Verwendung dieses Begriffs ein Eingreifen der USA erforderlich gemacht hätte. Der UN-Sicherheitsrat scheute aus denselben Gründen die Bezeichnung »Genozid« für das wochenlange massenhafte Morden in Ruanda, während dieses im Radio und Fernsehen von der Weltöffentlichkeit verfolgt wurde.

Warten auf Gerechtigkeit

Mit dem nun von US-Präsident Trump vorgelegten »Friedensplan«, bei dem sich die Hamas und Israel auf die Umsetzung der ersten Phase einigen konnten (siehe Seite 1), scheint es, als würden sich die unmittelbaren Kampfhandlungen in Gaza nun zumindest beruhigen.

Nicht gelöst bleibt jedoch eine Grundproblematik des Konflikts: Israel beansprucht einen Teil oder sogar das gesamte Gebiet des als palästinensisches Staatsgebiet vorgesehenen Landes. Die Menschen, die dort leben, will es aber nicht. Denn dies würde zu einer massiven Umwälzung der israelischen Demographie führen und den Selbstanspruch als jüdischer Staat mit jüdischer Bevölkerungsmehrheit untergraben. So lässt sich erklären, weshalb das Westjordanland seit Jahrzehnten besiedelt, aber nie als Staatsgebiet annektiert wird – dies hätte die Anerkennung der arabischen Bevölkerung als israelische Staatsbürger*innen zur Folge. So aber bleiben dem israelischen Staat auf lange Sicht nicht viele Optionen: Entweder einen Zustand der ewigen, nicht-anerkannten Besatzung fortschreiben, der in regelmäßigen Abständen zu blutigen Auseinandersetzungen führt, die Vertreibung der ansässigen Bevölkerung in Gang setzen – oder die befürchtete Vernichtung der Palästinenser*innen.

Die vierte Option, nämlich die Räumungen von hunderten illegalen Siedlungen, scheint, genau wie die vornehmlich von »westlichen« Staaten geforderte Zweistaatenlösung, unwahrscheinlicher denn je. Nicht nur, dass Israel die Freilassung relevanter palästinensischer Gefangener wie Marwan Barghuti, eines Fatah-Politikers, verweigert, dem viele zutrauen, eine palästinensische nationale Einheit erreichen zu können. Die Zersiedelung, Zerstörung und Besatzung der palästinensischen Gebiete ist auch derart weit vorangeschritten, dass kaum noch etwas übrig ist, das als Staatsterritorium in Frage käme. Selbst die Opposition in Israel ist mehrheitlich weit davon entfernt, einen palästinensischen Staat anerkennen zu wollen.

Großer Druck aus der israelischen Bevölkerung für eine politische Lösung ist, gleich, welche Regierung nach einem hoffentlich baldigen Kriegsende die Geschäfte übernehmen wird, ebenfalls nicht zu erwarten. Bereits vor dem 7. Oktober 2023 war die Besatzung kein Thema in den Demokratieprotesten gegen die Netanjahu-Regierung. Im März 2025 konnten sich 82 Prozent der jüdischen Israelis eine vollständige Vertreibung der Palästinenser*innen aus Gaza vorstellen, einer anderen Umfrage zufolge glaubten nur 21 Prozent der israelischen Bevölkerung überhaupt an die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz im Rahmen zweier Staaten.

Mit Blick auf die illegalen Siedlungen zeigt sich noch eine weitere Schwäche des Völkerrechts. Zur Siedlungspraxis und der Besatzung der Westbank gibt es nämlich, im Gegensatz zum Vorgehen in Gaza, längst ein Urteil des IGH: Israel muss sich sofort zurückziehen. Bisher fand sich jedoch keine Institution, die dieses Urteil durchsetzen würde.

Pajam Masoumi

ist in der Online-Redaktion bei ak.

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