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|Thema in ak 717: Die neuen Kriege

Mensch und Maschine

Welche Technik in Kriegen eingesetzt wird, ist immer auch ein Spiegel gesellschaftlicher und globaler Veränderungen

Von Axel Gehring

Ein Mann im Anzug sitzt auf einem Messestand und tippt in sein Telefon, das Gesicht ist verdeckt von einem technischen Gerät, an der Wand hängt eine Schusswaffe
Die Kriegführung wird zunehmend automatisiert, sehr zur Freude der Waffenindustrie. Foto aus der Reihe »Nothing Personal – The Back Office of War« von Nikita Teryoshin

Ihre Rolle als einzige Weltmacht konnten die USA nach 1990 erhalten, weil ihre Durchsetzung kapitalistisch-liberaler Normen größtenteils im Interesse der Mehrheit der anderen gewichtigen Akteure auf der Welt waren: Seien es Konzerne, Staaten in den Zentren oder solche, die durch die Forcierung kapitalistischer Entwicklung selbst zum Teil des Zentrums werden wollten. Kriege, so schien es, würden nicht mehr um die direkte Inbesitznahme von Territorien geführt, sondern primär um die Durchsetzung der Regeln der globalisierten kapitalistischen Ordnung, also um Zugänge zu Gütern, Arbeitskräften, Steuern und Zöllen. Zur Verfügung stand der Hegemonialmacht und ihren Verbündeten dabei das große, aus dem Kalten Krieg geerbte Potenzial konventioneller Waffen. Es war für solche Kriege nicht gebaut worden, sondern für die Auseinandersetzung mit mehr oder minder ebenbürtigen Gegnern. Effektiv, um »Schurkenstaaten« wie den Irak zu erobern und sich im Regimechange zu verzetteln, aber weniger effektiv und vor allem zu teuer für die dauerhafte Globalkontrolle der Ordnung.

Der Verzicht auf Landnahmen und auf die Beseitigung der sozialen sowie politischen Ursachen gab dieser Form der politisch-militärischen Machtausübung einen fast schon polizeilichen Charakter. Luftstreitkräfte schienen am geeignetsten: Vermeintliche Störungen der globalen Ordnung konnten mit Luftschlägen schnell eingedämmt werden, ohne zwingend große Bodentruppen entsenden zu müssen. Flugzeugträgerverbände und weit verzweigte Netze von Militärbasen sorgten dafür, dass sie praktisch fast überall stattfinden konnten. In wachsendem Maß richteten sich diese Maßnahmen gegen substaatliche Akteure, allen voran islamistische Terrorgruppen und ihr Führungspersonal. Waffen, die im Kalten Krieg für die Zerstörung gegnerischer Kommandozentralen entwickelt worden waren, versprachen »chirurgische Präzision«, Beseitigung des Übels mit nur wenigen zivilen Opfern also. 

Aus der Luft

In diesem Kontext wurde die Automatisierung und Verbilligung des Luftkrieges hin zu Drohnen immer weiter forciert. Die Mehrzahl der eingesetzten Drohnen war damals kein Hightech, sondern mit konventionellen Technologien bestückt. Konzeptionell reichten sie bis zurück in den Kalten Krieg. Auch kleinere Mächte, wie die Türkei oder Israel, konnten deshalb rasch eigene ähnliche Systeme entwickeln.

Drohnen ließen die Distanz zwischen den Kombattant*innen auf ein bis dahin nicht erreichtes Maß anwachsen: Gezielte Tötungen unterhalb der Ebene des Krieges wurden und werden über tausende von Kilometern ausgeführt. Und der Begriff des »Kollateralschadens« etablierte sich im Zuge des asymmetrischen Drohnenkrieges über seinen Entstehungskontext des Kosovo-Krieges hinaus im kritischen Sprachgebrauch.

Zugleich haben diese Drohnen wenig gemein mit jenen Einwegfabrikaten, die heute in Massen zusammen mit diversen anderen Flugkörpern in der Ukraine eingesetzt werden. Dies hat nicht zuletzt sehr wesentlich mit dem Wandel der Weltordnung zu tun: Maßgeblich für die Ausrichtung von Streitkräften ist in der multipolaren Welt – jener Ordnung, die global unterschiedliche Machtzentren hat – inzwischen wieder der Kampf gegen andere mehr oder minder ebenbürtige Staaten. Mit der Rückkehr des Staatenkrieges hat sich auch die primäre Funktion und Form der Luftkriegsführung erneut gewandelt: Wie schon in den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts gilt die Annahme, dass Staaten und ihre Bevölkerungen als quasi Kollektiv-Subjekte gegeneinander Krieg führen. Alles, was sie dazu befähigt Krieg zu führen, kann dieser Logik nach zum militärischen Ziel werden: Kommandozentralen, aber auch Fabriken und Infrastruktur.

Praktisch alle militärischen Schläge, die Russland und die Ukraine heute gegeneinander im Landesinneren, weit ab von der Front ausführen, sollen der Logik des Staatenkrieges folgend über ökonomische, soziale und politische Ziele auf das Frontgeschehen zurückwirken. Dieser Krieg ist deshalb zugleich ein industrieller, und zwar nicht nur in puncto Zielauswahl, die auf die Störung des gesellschaftlich-industriellen Prozesses setzt, sondern auch im Hinblick auf die eingesetzten Kampfmittel: Die Kapazität, die eigenen Waffen in großer Stückzahl und möglichst günstig herzustellen, wird (wieder) zu einer entscheidenden Größe. Wichtig ist dabei insbesondere die Relation der eigenen Aufwendungen zu denen des Gegners. Hunderte billigster Einwegdrohnen sollen teure Luftabwehrkapazitäten binden, damit einige Raketen ihre Ziele erreichen.

Die Rückkehr des Staatenkrieges ist eines der offenkundigsten Indizien für die Krise der alten unipolaren Ordnung.

Die Entgrenzung ist dieser Form der Kriegführung inhärent: Das dauerhafte Bombardement nimmt notwendigerweise zivile Opfer in Kauf. Anderenfalls wäre es nicht durchführbar. Der Angriff auf Infrastrukturen, die für militärische Produktion, Transport und Koordination notwendig sind, ist zugleich auch einer auf jene, die für zivile Produktion und Reproduktion notwendig sind. Während die angreifende Seite zivile Opfer in Kauf nimmt, tendiert die angegriffene dazu, den strategischen Luftkrieg primär als gegen die Zivilbevölkerung gerichtet darzustellen. So absurd es klingen mag, es geht in der Luftkriegsführung immer um die Schonung von Menschenleben – allerdings eigener Menschenleben, nicht die des Gegners. Der Gegner soll gebrochen oder zumindest so weit reduziert werden, dass die eigenen Truppen am Boden weniger Risiken ausgesetzt sind. 

Die Rückkehr des »klassischen« Staatenkrieges ist sowohl eines der offenkundigsten Indizien für die Krise der alten unipolaren Ordnung als auch Beleg dafür, dass die neue multilaterale Ordnung keine allseits etablierten Regeln gefunden hat. Um den Verlauf der Grenzen der konkurrierenden Blöcke wird militärisch gekämpft, wobei nicht all ihre Mitglieder direkt gegeneinander Krieg führen. Schlagabtausche führen sie zuweilen dennoch miteinander aus, denn Cyberangriffe können ähnlich disruptiv wie Bombenangriffe wirken. Allerdings sind sie bei weitem nicht so stark Regeln unterworfen wie konventionelle Methoden. Die Schwelle zum »richtigen« Krieg wird schwammiger – nicht nur wegen der Angriffe an sich, sondern auch, weil immer die Möglichkeit der Überinterpretation solcher Angriffe besteht.

Material für den Massenkrieg

Der klassische Staatenkrieg war immer auch ein Massenkrieg, doch in alternden Gesellschaften gibt es tendenziell weniger menschliche Kombattant*innen: Russland zögert vor einer vollumfänglichen Mobilisierung, und auch die schwächere Ukraine, auf der ein ungleich größerer Druck zur Mobilisierung lastet, hatte ursprünglich ein Mobilisierungsalter zwischen 27 und 60 Jahren. In den Massenkriegen des 20. Jahrhunderts wurden demgegenüber tendenziell zunächst die wehrfähigen Männer zwischen 18 und 27 Jahren eingezogen.

Mit den Sorgen um genug Soldat*innen wachsen daher die Bemühungen um eine Automatisierung der Kriegführung. Der Krieg in der Ukraine ist daher nicht nur durch den massenhaften Einsatz von Drohnen und Raketen gekennzeichnet, sondern ebenso durch einen wachsenden Einsatz von einfachen Kampfrobotern auf den Schlachtfeldern. Insofern es Drohnen auch schon im Kalten Krieg gab, stellt sich die Frage, ob es technische Quantensprünge sind, die heute ihren massenhaften Einsatz nahelegen – oder nicht vielmehr die veränderte Demografie der maßgebliche Faktor dafür ist.

Mit der wachsenden Automatisierung der Kriegführung werden auch vermehrt ethische Fragen danach gestellt, wem eigentlich die Entscheidung zum Töten obliegen soll, dem Menschen oder der Maschine? Diese scheinbar neue Frage mutet angesichts der schon seit Jahrzehnten hochgradig technisiert-arbeitsteiligen Kriegführung geradezu überholt an: Welchen unmittelbaren Bezug hatten eigentlich die Bomberbesatzungen des Zweiten Weltkrieges zu den Menschen, die sie einige Kilometer unter ihnen töteten? Welchen konkreten Bezug konnten sie überhaupt im Moment der Bombardierung entwickeln, in welcher die Bedienung der hochkomplexen Maschinerie ihre ganze Konzentration abverlangte? Und wie weit reicht eigentlich die Autonomie einer KI, die letztinstanzlich politisch-militärische Befehle ausführt?

Die Antwort der Rüstungsindustrie auf ethisch motivierte Kritik kann im Zweifel simpel ausfallen: Die Maschine hat das Kriegsvölkerrecht zu lernen, und ihre Sensoren müssen besser werden, so dass die Entscheidung zwischen Kombattant*innen und Nicht-Kombattant*innen treffsicherer gelingt. Die Frage, ob oder bis zu welchem Grad solche Features aktiviert würden, bliebe weiterhin eine Entscheidung der politischen Opportunität.

Axel Gehring

ist Politökonom und Konfliktforscher und arbeitet in der Bundesgeschäftsstelle der Linkspartei auf dem Feld der Außenpolitik.