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|Thema in ak 717: Die neuen Kriege

Freihandel ohne Bomben

Warum bleibt die Schweiz scheinbar immer neutral, und kann das noch lange gutgehen?

Von Dominic Iten und Arman Spéth

Eine Frau in Kostüm trägt ein Tablett mit Getränken, im Hintergrund ist ein Kampfhubschrauber zu sehen
Mit allen reden, schöne Geschäfte machen: das Neutralitätsprinzip der Schweiz. Foto aus der Reihe »Nothing Personal – The Back Office of War« von Nikita Teryoshin

Der russische Angriff auf die Ukraine markiert einen geopolitischen Epochenbruch. Die sicherheitspolitische Lage in Europa verändert sich rasant, die Handlungsspielräume neutraler Kleinstaaten wie der Schweiz werden kleiner. Auf Druck der USA haben die europäischen Nato-Staaten gewaltige Aufrüstungsprogramme beschlossen. Die Schweiz folgt dieser Entwicklung: Ihre Armeeausgaben sollen bis 2032 von derzeit rund 0,7 Prozent des BIP auf 1 Prozent steigen. Rekrutierungsoffensiven auf Instagram, die Einführung von Teilzeitmodellen in der Armee und die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für die heimischen Waffenschmieden flankieren die sicherheitspolitische Neuausrichtung.

Eine Neuausrichtung mit Folgen. Ihre immer enger werdende sicherheitspolitische Beziehung zum westlichen Block gerät zunehmend in Widerspruch zum ungebrochenen Einsatz der Schweiz für Freihandel. Vordergründig bekennt sich die Schweizer Regierung klar zur EU und den USA – doch wirtschaftlich bleibt sie um maximale Offenheit bemüht. Ausdruck dieser doppelten Strategie ist die Aussage von Helene Artieda, Direktorin des Staatssekretariats für Wirtschaft: »Die EU ist unser wichtigster Markt, die USA sind der zweitwichtigste Markt, und China ist unser Markt Nummer drei. (…) Die Strategie der Schweiz muss es sein, zur EU, zu den USA und zu China offene Türen zu haben.« 

Tief integriert in den westlichen Block, ist die Schweiz mit bemerkenswerter politischer und wirtschaftlicher Autonomie ausgestattet, die sowohl nach Außen wie nach Innen mit der erfolgreichen Inszenierung von Neutralität verbunden ist. Der Schweizer Kapitalismus versteht es, die Vorteile westlicher Integration zu nutzen, ohne sich deren politischen Entscheidungen dauerhaft zu unterwerfen – ein kalkuliertes Trittbrettfahren, das der Schweizer Soziologe Jean Ziegler schon vor Jahrzehnten treffend als »sekundären Imperialismus« bezeichnete. Die Großmächte tolerieren und fördern diesen, weil er im imperialen System wichtige Funktionen übernimmt. Er sichert Kapitalflüsse, dient als Finanzdrehscheibe, vermittelt Konflikte – ohne dass die Großmächte riskieren müssen, sichtbar die eigenen Normen zu unterlaufen. Damit stabilisieren »sekundäre Imperialisten« die globale Ordnung im Sinne des primären Imperialismus.

Ertrag der Neutralität

Neutralität ist infolge nationaler Mythenbildungen zu einem schillernden Ideal geworden. Doch im Grunde ist sie die geschickte Überlebensstrategie eines Kleinstaates, die immer schon mit handfesten wirtschaftlichen Interessen verbunden war. Die Schweiz konnte die Kolonialpolitik der umliegenden Großmächte kritisieren und gleichzeitig die Geschäftsgrundlagen, die dadurch gesichert wurden, nutzen – bereits in den 1930er Jahren sprach der Soziologe Richard Fritz Behrendt von einem »heimlichen Schweizer Imperium«.

Im Jahr 1674 bekannte sich die Schweizer Tagsatzung (eine vormoderne Versammlung der Kantone) gegenüber Europa zu ihrem außenpolitischen Prinzip. Die erste formale Festlegung der Schweizer Neutralität ist damit ein Kind des Dreißigjährigen Krieges. Ihre Wurzeln liegen allerdings weiter zurück: Herausgebildet hat sich die Schweizer Neutralität in der Frühphase kapitalistischer Entwicklung, als die Eidgenossenschaft einerseits als loses und konfessionell zerstrittenes Bündnis auf territoriale Expansion verzichten musste, andererseits an alle umliegenden Mächte gleichmäßig Söldner zu liefern begann. Über die Jahrhunderte wurde das Neutralitätskonzept laufend modifiziert und – immer im Sinne der herrschenden Klasse – den ökonomischen wie politischen Umständen angepasst. 

Im Ersten Weltkrieg wurde mittels Pressezensur und Propaganda der Schein der Neutralität gewahrt, während Waffen- und Kreditgeschäfte die Kassen füllten. In der Zwischenkriegszeit pendelte die Schweiz zwischen »differenzieller« (wirtschaftliche Sanktionen zulassen) und »integraler« Neutralität (jede Einmischung verweigern) und untermauerte ihr Taktieren ideologisch mit der »geistigen Landesverteidigung«. Im Zweiten Weltkrieg hielten Gold- und Waffenhandel mit den Nazis die deutsche Wehrmacht fern, verletzten jedoch mehrfach das Neutralitätsrecht, das Verfassungsrang hat. 

Der Schweizer Kapitalismus betreibt kalkuliertes Trittbrettfahren. Jean Ziegler nannte das »sekundären Imperialismus«.

In der Nachkriegszeit profilierte sich die Schweiz mehr und mehr als humanitäre Instanz und profitierte im Kalten Kriegs von ihrer Stellung als politischer Puffer und Finanzdrehscheibe. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird das Konzept weiter modifiziert. Die Beteiligung an UNO-Missionen, EU-Annäherung, Übernahme von Sanktionen gehen stets so weit, wie es sich rechnet und der eifrig gepflegte Neutralitätsmythos nicht zerbricht. Neutralität heißt nicht Abseitsstehen, sondern kunstvolles Balancieren zwischen moralischer Rhetorik und profitorientierter Realpolitik.

Ein Blick in die Schweizer Neutralitätsgeschichte zeigt, dass um die Wurzeln und Auslegung der Neutralität immer dann gerungen wird, wenn sie unter Druck gerät – sei es durch geopolitische Umbrüche oder ökonomische Krisen. Wie geschickt und anpassungsfähig sich die Schweiz durch diese außenpolitischen Krisen hindurch auch erwies – immer wieder erinnerten die Großmächte sie daran, dass die Neutralität ein verliehenes Privileg darstellt, das ihr entzogen werden kann. (1)

Das erzeugt Druck: Eine ganze Reihe von behördlichen Entscheidungen (2) bekräftigt einen außenpolitischen Kurs, der auf stärkere Anbindung an den westlichen Block abzielt. Dabei zeigt sich die Elastizität der Neutralitätspolitik: Je nach Bedarf lässt sich durch ein hinzugefügtes Adjektiv nahezu alles unter Neutralität subsumieren – »differenziell«, »integral«, »aktiv«, »solidarisch« oder, wie vom damaligen Bundespräsidenten Ignazio Cassis auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos 2022 formuliert, »kooperativ«.

Neue Blöcke, neue Kriege

Vor diesem Hintergrund ringen die maßgeblichen politischen Kräfte in der Schweiz um einen klaren Kurs – mit zwei Polen, die jeweils von der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) und der sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP), noch weitaus linker als ihre deutsche Schwester, bestimmt werden. 

Die SP setzt auf vertiefte Zusammenarbeit mit Europa, die politische Neutralität der Schweiz solle sich in einer europäischen Souveränität widerspiegeln, schreibt sie in ihrem Positionspapier. Europa solle nicht weiter Objekt US-amerikanischer Geopolitik sein, sondern eigenständiger Akteur. Ihre Annäherung an den europäischen Imperialismus vollzieht die SP ohne Bedenken und fasst die EU als ein »wirtschaftliches und friedenspolitisches Integrationsprojekt«, das einem »inklusiven Multilateralismus« verpflichtet sei. Zwar will die SP keinem militärischen Bündnis beitreten, möchte aber »als Gegenleistung für die äußere Sicherheit, welche die Nato und die EU der Schweiz gewährleisten, das Engagement für die Friedensförderung massiv« ausbauen. 

Die SVP hingegen setzt im Namen des Friedens auf uneingeschränkten Freihandel und hat dazu die »Neutralitätsinitiative« lanciert, der sich unter anderen Vorzeichen auch linke Kreise um die Partei der Arbeit (PdA), Nachfolgerin der Kommunistischen Partei der Schweiz, und die Friedensbewegung angeschlossen haben. Folgerichtig spricht sich die SVP gegen jede Annäherung an die Nato oder die EU aus. Schon länger stört sie sich an der »noch immer hohen wirtschaftlichen Abhängigkeit von der EU und den USA«. Die SVP möchte im Grundsatz die bisherige Wirtschaftspolitik fortführen – eine »take it all«-Strategie, die darauf abzielt, nach allen Seiten Geschäfte machen zu können –, droht aber von den globalen Entwicklungen überrollt zu werden. Die Strategie der SVP, die auf maximale Unabhängigkeit und blockfreie Handlungsfähigkeit setzt, dürfte zunehmend auf die Probe gestellt werden, je stärker sich die globalen Fronten verhärten. 

So erweist sich die Neutralitätsinitiative als doppelter Bluff. Linke Kräfte, die sie unterstützen, werden die Schweizer Außenpolitik nicht in ihrem Sinne prägen können, sondern geben einer rechten Freihandelsagenda Rückendeckung, die den Status quo der blockfreien Profitmaximierung konservieren will. Einmal mehr wird der Neutralitätsmythos zum ideologischen Reservoir: Politisches Nicht-Handeln erscheint als erhabene Zurückhaltung, während die wirkliche Konstante – die Sicherung kleinstaatlicher Kapitalinteressen – unsichtbar bleibt. Als außenpolitisches Instrument verschleiert sie ökonomische Abhängigkeiten, Machtverhältnisse und imperiale Verstrickungen – in der Schweiz wie anderswo.

Dominic Iten

studierte Geschichte und Soziologie in Bern. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit gehören die Geschichte und die politische Ökonomie der Schweiz.

Arman Spéth

ist Doktorand und forscht über die Entwicklung des Kapitalismus in Kasachstan. Er schreibt für verschiedene linke Zeitschriften und war Mitglied des Redaktionsteams der Schweizer Zeitschrift Widerspruch.

Anmerkungen:

1) Das zeigte etwa der «Wohlgemuth-Handel» von 1889. Der preussische Polizeibeamte August Wohlgemuth war in Rheinfelden beim Anwerben von Spitzeln zur Überwachung der SPD verhaftet worden. Bismarck forderte seine Freilassung, erhöhte den diplomatischen Druck, was in einer vom Kaiserreich, Russland und Österreich angedrohten Kündigung des 1815 zugestanden Status der Neutralität gipfelte. Die Schweiz reagierte mit dem Bemühen, die Neutralität endgültig als Staatsmaxime zu etablieren.

2) Übernahme der Sanktionen gegen Russland, Beschaffung des Nato-Kampfjets F-35, Beitritt zur hauptsächlich gegen Russland gerichteten Skyshield-Initiative, Teilnahme am europäischen Militarisierungsprojekt Permanent Structured Cooperation (PESCO), Lockerung der Waffenexportregelungen usw.