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|Thema in ak 697: 1923

Der letzte Funke Hoffnung

In Moskau sorgte die Aussicht auf eine Revolution in Deutschland für Euphorie – ihr Scheitern hatte umso verheerendere Auswirkungen

Von Marcel Bois

Hamburg 1923: Die Reichswehr kontrolliert Personen während des Hamburger Aufstands der KPD. Foto: Gemeinfrei

Grigori Sinowjew blickte im Sommer 1919 zuversichtlich in die Zukunft. Nachdem knapp zwei Jahre zuvor mit der Oktoberrevolution der russische Sowjetstaat entstanden war, nahm der Vorsitzende der Kommunistischen Internationale (Komintern) nun enthusiastisch zur Kenntnis, dass es auch in anderen Ländern rumorte. »Die Bewegung geht so schwindelerregend vorwärts«, schrieb er, »daß man mit Gewissheit sagen kann: Nach Jahresfrist werden wir bereits zu vergessen beginnen, daß es in Europa einen Kampf für den Kommunismus gegeben hat, denn nach einem Jahre wird ganz Europa kommunistisch sein.«

Sinowjew hoffte auf die Weltrevolution. Das war keineswegs nur eine abstrakte Idee, die an Marx‘ und Engels Ausspruch »Proletarier aller Länder, vereinigt euch« anknüpfte, sondern eine materielle Notwendigkeit für die russischen Kommunist*innen. In der Zeit nach der Revolution hatten sie mit der rückständigen Wirtschaft des Landes zu kämpfen sowie mit den Auswirkungen des Bürgerkriegs, der im europäischen Teil des Landes 1920 geendet hatte, im fernen Osten aber noch bis 1922 andauerte. Russland fehlten die materiellen Ressourcen, um aus sich selbst heraus ein Gemeinwesen aufzubauen, das die Bedürfnisse all seiner Mitglieder ausreichend befriedigen konnte. Lenin erklärte im Jahr 1918, dass die Bezeichnung »Sozialistische Sowjetrepublik« zwar die Entschlossenheit illustriere, »den Übergang zum Sozialismus zu verwirklichen, keineswegs aber, dass die jetzigen ökonomischen Zustände als sozialistisch bezeichnet werden« könnten. In seiner Partei, den Bolschewiki, war unumstritten, dass ihr Arbeiterstaat nur im Rahmen einer sozialistischen Weltwirtschaft überleben könne. Aus diesem Grund hatten sie von Anfang an betont, dass sich ihre Revolution auf andere Länder ausbreiten müsse. 

Diese Hoffnung war zunächst durchaus begründet. Tatsächlich waren die Jahre zwischen 1916 und 1921 von einem globalen Aufruhr geprägt. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs begehrten die Menschen zwischen Moskau, Melbourne und Mumbai, zwischen Barcelona und Buenos Aires auf: Soldaten desertierten, Matrosen meuterten, Frauen und Jugendliche stießen Lebensmittelunruhen an und Wohnungslose besetzten Land. Arbeiterinnen und Arbeiter streikten, übernahmen ihre Betriebe und gründeten Räte. Nationale Minderheiten erhoben sich und erkämpften ihre Unabhängigkeit. Massenbewegungen stürzten Kaiser, Könige und Zaren.

Lediglich eins geschah nicht: In keinem anderen Land kam es zu einer erfolgreichen Revolution nach russischem Vorbild, kein Staat wurde kommunistisch. Zwar entstanden wie in Bayern oder Ungarn vereinzelt Räterepubliken, aber ihnen war nur eine kurze Lebensdauer beschieden. Vielmehr stellten die Bolschewiki um die Jahreswende 1920/21 ein »Abebben der revolutionären Welle« fest. Langsam mussten sie befürchten, dass Russland isoliert bleiben würde und nicht auf wirtschaftliche Hilfe aus einem industriell entwickelten Land hoffen konnte.

Moskau interveniert

Vor diesem Hintergrund müssen die Ereignisse in Deutschland 1923 gesehen werden. Im Lauf des Jahres rückte das Land in den Fokus der Komintern, weil sich die Anzeichen dafür verdichteten, dass es doch noch einmal so weit sein könnte: Die Weimarer Republik erlebte ihre bis dahin tiefste Krise. Eine Revolution erschien den Kommunist*innen plötzlich wieder möglich. Entsprechend mobilisierte die Internationale ihren gesamten Apparat, um diese Entwicklung zu unterstützen. 

Als im August 1923 eine Streikwelle zum Sturz der Cuno-Regierung führte, schrieb Sinowjew am 15. August, dass sich in Deutschland eine revolutionäre Krise nähere. Eine Woche später traf sich das Politbüro der Kommunistischen Partei Russlands (KPR) gemeinsam mit Vertreter*innen der Komintern und der deutschen Partei. Die Anwesenden kamen zu der Einschätzung, dass die Zeit für einen Aufstand in Deutschland reif sei. Das Politbüro der KPR ernannte eine fünfköpfige Kommission, bestehend aus Sinowjew, Stalin, Trotzki, Radek und Tschitscherin, um die Vorbereitungen zu koordinieren. Die Komintern berief speziell hierfür eine Konferenz in Moskau ein, zu der auch Delegierte kommunistischer Parteien aus Deutschlands Nachbarstaaten eingeladen wurden. 

Russland stellte große Mengen Getreide bereit und richtete einen Sonderfonds für die deutschen Revolutionäre in Höhe von 400.000 US-Dollar ein.

Zugleich bereiteten sich die kommunistischen Parteien Frankreichs, Englands und Belgiens darauf vor, eine eventuelle Intervention ihrer Regierungen gegen einen deutschen Arbeiterstaat durch einen Generalstreik zu verhindern. Ihre Schweizer Genoss*innen hielten an der Grenze ein kleines Expeditionskorps in Bereitschaft. Die kommunistischen Seeleute- und Transportarbeiterorganisationen sollten alles ihnen Mögliche unternehmen, um Waffentransporte zu verhindern, die gegen die deutsche Revolution eingesetzt werden könnten.

Russland stellte große Mengen Getreide bereit und richtete einen Sonderfonds für die deutschen Revolutionäre in Höhe von 400.000 US-Dollar ein. Alle Parteimitglieder, die deutsch sprachen, wurden registriert und sollten gegebenenfalls nach Deutschland geschickt werden. Die sowjetische Führung war sogar bereit, das Risiko eines Krieges mit Frankreich, Polen und der Tschechoslowakei in Kauf zu nehmen. Ein Plan der Militärkommission des ZK der KPR vom Oktober 1923 sah dementsprechend die Mobilmachung von bis zu 2,5 Millionen Angehörigen der Roten Armee vor. Diese sollten, falls erforderlich, einer deutschen Revolution zur Hilfe kommen. Bereits im Vorfeld wurden russische Militärspezialisten nach Deutschland geschickt. 

Nach den Schwierigkeiten, in denen das nachrevolutionäre Russland steckte, und den Niederlagen der revolutionären Bewegungen im Westen schien die Vision von 1917 plötzlich wieder in greifbare Nähe zu rücken. Aus Sicht der Kommunist*innen hätte ein Sieg in Deutschland – einem hoch industrialisierten Land mit einer traditionsreichen, starken Arbeiterbewegung – den Weg bereiten können für eine erneute revolutionäre Phase, an deren Ende die Vereinigten Staaten der Arbeiter- und Bauernrepubliken Europas stehen würden. 

In Sowjetrussland war derweil die Lethargie und Hoffnungslosigkeit der Nachbürgerkriegsjahre wie verflogen. Die Aussicht auf eine siegreiche Revolution in Deutschland löste bei der Bevölkerung der großen Städte helle Begeisterung aus – begleitet durch die entsprechenden Kampagnen der Parteiführung. Sie entsandte Redner*innen in die Provinz, die vom anstehenden »Deutschen Oktober« berichten sollten. Die Kommunist*innen produzierten Plakate, Flugblätter und Wandzeitungen, es fanden allerorten Kundgebungen und Fabrikversammlungen statt und Jugendliche sammelten Spenden für die deutsche Revolution.

Weltrevolution zu Grabe getragen

So groß die Hoffnungen in Sowjetrussland waren, so verheerend waren die Auswirkungen, als der Deutsche Oktober scheiterte. Damit war der letzte Funke Hoffnung auf eine erfolgreiche deutsche Revolution, die der jungen Sowjetrepublik zur Hilfe eilen würde, erloschen. »Es begann«, so der Historiker Otto Wenzel, »nicht ›ein neues Kapitel in der Geschichte der proletarischen Weltrevolution‹, sondern die Weltrevolution, wie sie die bolschewistischen Führer seit 1917 herbeigesehnt hatten, wurde praktisch zu Grabe getragen.« Der »Aufstand, der nicht stattfand«, hatte nicht nur ein monatelanges Verbot der KPD zur Folge, sondern gravierende Auswirkungen auf die langfristige Entwicklung der internationalen kommunistischen Bewegung.

Nach Lenins Tod im Januar 1924 nahmen in der Sowjetunion auch die innerparteilichen Auseinandersetzungen wieder an Fahrt auf, die in den folgenden Jahren mit einem Sieg der Stalin-Fraktion endeten. Während die formal herrschende Arbeiterklasse jeglichen politischen Einfluss verlor, stieg die kommunistische Parteibürokratie zur neuen herrschenden gesellschaftlichen Schicht auf. Stalin als ihr Repräsentant wurde zum Staats- und Parteiführer. Als Reaktion auf das Abebben der revolutionären Welle in Europa und das Scheitern des »Deutschen Oktobers« entwickelte der neue starke Mann im Herbst 1924 die Theorie vom »Aufbau des Sozialismus in einem Land«. Er argumentierte, dass Russland für sich genommen in der Lage sei, eine sozialistische Wirtschaft und Gesellschaft aufzubauen – und verabschiedete sich damit vom internationalistischen Grundsatz, den seine Partei bis dahin vertreten hatte. 

Dies hatte auch Auswirkungen auf die Internationale. Mit dem gescheiterten Deutschen Oktober war, so der Geschichtswissenschaftler Hermann Weber, »die Vorherrschaft der Komintern über die KPD besiegelt«. In einem komplizierten Prozess, der sich aus einer Mischung von Zwang und Überzeugung speiste, verwandelten sich die Schwesterparteien der KPR von demokratischen und diskussionsfreudigen Organisationen in bürokratisch geführte Parteien, in denen interne Kontroversen weitgehend unterbunden waren. Aus gleichberechtigten Partnerinnen, die gemeinsam die Weltrevolution erreichen wollten, wurden nun Instrumente der sowjetischen Außenpolitik. Im März 1929 stellte die deutsche Kommunistin Clara Zetkin schließlich verzweifelt fest, dass sich die Internationale selbst »aus einem lebendigen, politischen Organismus in einen todten Mechanismus verwandelt hat, der an der einen Seiten Befehle in russischer Sprache einschluckt und auf anderen Seite diese Befehle in verschiedenen Sprachen ausspuckt«.

Marcel Bois

ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehört die Geschichte des Kommunismus in der Zwischenkriegszeit.

Anmerkung:

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine stark gekürzte Fassung des Textes »Aufstand mit Absage. Der ›Deutsche Oktober‹ und die Kommunistische Internationale«, der in dem Buch »Die bedrohte Stadtrepublik. Hamburg 1923« erschienen ist, herausgegeben von Olaf Matthes und Ortwin Pelc für die Landeszentrale für politische Bildung Hamburg in Verbindung mit dem Museum für Hamburgische Geschichte (Verlag Wachholtz, Hamburg 2023). Für die freundliche Abdruckgenehmigung bedanken wir uns.