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|Thema in ak 690: Arbeitskampf

Potenzial für alle

Bei den Tarifrunden bei Post, Bahn und im öffentlichen Dienst geht es um Millionen – gut möglich, dass es in Deutschland harte (Streik-)Auseinandersetzungen geben wird

Von Fanny Zeise

Man sieht eine Gruppe von Menschen von hinten, mit gelben verdi Westen und Fahnen, sie stehen im Schnee, die Luft ist nebelig.
Seit dem 20. Februar läuft die Urabstimmung bei der Post: ein Erzwingungsstreik ist möglich. Foto: Klasse gegen Klasse

Ungewohnt hoch sind die Forderungen der Gewerkschaften in den Tarifrunden zu Beginn dieses Jahres. Eine Lohnsteigerung von 10,5 Prozent bzw. mindestens 500 Euro im Monat für die 2,5 Millionen Beschäftigten von Bund und Kommunen verlangt die Tarifgemeinschaft aus ver.di, dem Beamtenbund dbb, GEW und der GdP, die von der Forderung der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) mit 12 Prozent bzw. einem Mindestbetrag von 650 Euro für die Bahnbeschäftigten noch übertroffen wird. Da für eine deutliche Mehrheit der Beschäftigten eine Tariferhöhung von 500 Euro bzw. 650 Euro über der Prozentforderung liegt, erhöht der Mindestbetrag das Gesamtvolumen auf erheblich mehr als 10,5 bzw. 12 Prozent.

Ebenfalls mit einer zweistelligen Prozentforderung gingen die größtenteils in ver.di organisierten 160.000 Beschäftigten bei der Deutschen Post AG in die Verhandlungen, die sie nach der dritten Verhandlungsrunde für gescheitert erklärten. Der Weltkonzern, der einen Rekordgewinn von 8,4 Milliarden Euro im Jahr 2022 erwartet, legte zu wenig auf den Tisch. Vor allem aber beharrte er auf einer zweijährigen Laufzeit des Tarifvertrags. Ein Risiko für die Beschäftigten, da die Höhe der Inflation der nächsten zwei Jahre nicht vorherzusagen ist.

Günstige Ausgangslagen

So ungewohnt diese zweistelligen Forderungshöhen auch sein mögen, so sind sie doch angemessen. Gesamtwirtschaftlich sind die Reallöhne im Jahr 2022 – obwohl einige inflationsbedingt hohe Tarifabschlüsse in das durchschnittliche Lohnniveau eingeflossen sind – durchschnittlich um 4,1 Prozent und damit das dritte Jahr in Folge gesunken. Die Inflation führt zu harten Einschnitten für viele Beschäftigte im öffentlichen Dienst. Angesichts der besonders stark gestiegenen Preise von Gütern des täglichen Bedarfs sind Beschäftigte mit niedrigen Einkommen in besonderem Maße von der Teuerung betroffen. So steht eine Mehrheit der Beschäftigten im öffentlichen Dienst und in noch deutlicherem Ausmaß diejenigen der Bahn und der Post vor großen Einschränkungen ihres Lebensstandards.

Dies zeigt: Die Sicherung der Reallöhne erfordert eine zweistellige Prozentforderung. Daran ändert auch die steuer- und abgabenfreie Prämie von bis zu 3000 Euro nichts, die wesentlicher Bestandteil der Tarifabschlüsse in der Chemie- sowie der Metall- und Elektroindustrie im Herbst 2022 war. »Wir legen keinen Wert auf die Prämie« wird ver.di-Chef Frank Wernecke, Verhandlungsführer für den öffentlichen Dienst, zitiert, denn als einmalige Zahlung erhöht sie die Löhne nicht nachhaltig, da ein Absinken der Preise nicht zu erwarten ist.

Nicht nur die Chef*innen der Post, auch die Arbeitgeber*innen im öffentlichen Dienst zeigen sich wenig entgegenkommend. Sie scheinen die Tarifrunde nicht nutzen zu wollen, um durch Lohnerhöhungen den öffentlichen Dienst attraktiver zu machen und die Konjunktur zu stabilisieren. Stattdessen haben die Verhandlungsführerinnen, Innenministerin Nancy Faeser und die Bürgermeisterin von Gelsenkirchen Karin Welge, bisher kein Angebot vorgelegt und argumentierten mit klammen öffentlichen Kassen.

Nicht nur weil die Inflation ein Plus von einigen Milliarden an Steuereinnahmen in die Regierungskasse spülen wird, ist das ein vorgeschobenes Argument. Denn die Lohnentwicklung im öffentlichen Dienst wird nicht betriebswirtschaftlich, sondern politisch entschieden. Der Staat gestaltet maßgeblich die Löhne und Arbeitsbedingungen derjenigen, die im Krankenhaus, im Bürgeramt und in der Kita wichtige Dienstleistungen erbringen. Auch wegen der hohen Belastung und vergleichsweise geringen Löhne in vielen dieser Jobs sind laut ver.di im öffentlichen Dienst aktuell 360.000 Stellen sowie 170.000 Stellen in den Kitas unbesetzt. Aber auch in der Privatwirtschaft herrscht Arbeitskräftemangel. Die Arbeitslosenquote lag nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit in den Jahren 2028 bzw. 2019 auf einem Rekordtief von 5,3 bzw. 5 Prozent und ist nach einer leichten Erhöhung während der Corona-Pandemie 2022 wieder auf 5,3 Prozent gesunken. Die Bundesagentur registrierte für 2022 844.796 als offen gemeldete Stellen.

Die alte Forderung linker Gewerkschafter*innen – gemeinsam streiken – könnte Realität werden.

Die Beschäftigten von Bahn, Post und öffentlichem Dienst haben, angesichts der Preissteigerungen und der damit drohenden finanziellen Einschnitte, ein starkes Anliegen in der Tarifrunde. Mit den hohen Tarifforderungen, der – angesichts der Arbeitsmarktlage – nur noch sehr geringen Angst, den Job zu verlieren, bestehen gute Voraussetzungen für eine starke Mobilisierung in den Tarifrunden.

Aber demoralisiert?

Offen ist noch, ob die Gewerkschaft es wirklich vermag, dieses Anliegen in Aktionsbereitschaft und Durchsetzungsfähigkeit zu transformieren. Denn die Gewerkschaften sind über die Jahre deutlich geschwächt worden, viele Belegschaften sind von den andauernden Verschlechterungen demoralisiert.

Seit den 1990er Jahren beschwerten sich diverse Bundesregierungen über den trägen öffentlichen Bereich. Sie privatisierten und liberalisierten ihn und setzten den mit EU-Austeritätsregeln und Schuldenbremse künstlich geschaffenen Sparzwang über Personalabbau, Arbeitsverdichtung, prekäre Beschäftigung, sinkende Einkommen und auch eine Entmachtung der Gewerkschaften durch. Die Deutsche Post wurde im Jahr 1994 in eine private Aktiengesellschaft überführt. Die Deutsche Bahn blieb zwar im Eigentum des Staates, wurde aber 1994 in ein Wirtschaftsunternehmen privatrechtlicher Form überführt. Seit der Bahnreform 1996 wird der ebenfalls von der EVG vertretene Schienenpersonenverkehr zu einem relevanten Anteil von privaten Anbietern übernommen. Ähnlich sieht es in den heutigen ver.di-Bereichen aus. Über Privatisierungen im Nahverkehr, in der Energieversorgung oder der Müllentsorgung wurden traditionell streikstarke Beschäftigtengruppen aus dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes herausgebrochen. Die verbliebenen Bereiche wurden zudem in einen Tarifvertrag für die Landesbeschäftigten (TV-L) und einen Tarifvertrag für die Beschäftigten der Kommunen und des Bundes (TVöD) gespalten. Die Löhne im öffentlichen Dienst bleiben seither deutlich gegenüber dem privaten Bereich zurück, und auch die Lohnspreizung, der Abstand zwischen niedrigen und hohen Einkommen im öffentlichen Dienst, hat zugenommen.

Demgegenüber gibt es in den aktuellen Tarifrunden ermutigende Anzeichen einer Revitalisierung der Gewerkschaften: Von den 160.000 Beschäftigten der Deutschen Post legten 100.000 schon in der Warnstreikphase zeitweise ihre Arbeit nieder und störten damit die Zustellung von Paketen und Briefen empfindlich.

Gemeinsam in die Offensive! Konferenz »Gewerkschaftliche Erneuerung«

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung veranstaltet in Kooperation mit lokalen und regionalen Gewerkschaftsgliederungen und anderen gewerkschaftsnahen Akteuren gemeinsam die fünfte Konferenz »Gewerkschaftliche Erneuerung« an der Ruhr-Universität Bochum. Stand Anfang Februar sind bereits mehr als 600 Kolleg*innen aus unterschiedlichen Branchen und Gewerkschaften, Wissenschaftler*innen sowie Menschen aus der Streiksolidarität angemeldet. Ziel der Konferenz ist es, Erfahrungen auszutauschen, sich zu vernetzen, voneinander zu lernen und zu diskutieren, wie mit neuen, offensiven Strategien die kommenden Auseinandersetzungen gewonnen werden können. Die Konferenz findet vom 12. bis 14. Mai 2023 an der Ruhr-Universität in Bochum statt. Programm, Infos und Anmeldung finde ihr hier.

Im öffentlichen Dienst startete ver.di mit ungewöhnlich vielen und langen Warnstreiks noch vor der zweiten Verhandlungsrunde in die Tarifauseinandersetzung. Über 340.000 Unterschriften für die Durchsetzung der Tarifforderung wurden in Betrieben und Einrichtungen gesammelt. In der Vorbereitung der eigentlichen Warnstreiks fanden viele Arbeitsstreiks statt – also Streiks, bei denen einige aktive Beschäftigte in den Streik treten, um in der gewonnenen Zeit den Streik im Betrieb zu planen, Kolleg*innen anzusprechen und Aktionen vorzubereiten. Diese Arbeitsstreiks wurden 2020 in der Tarifrunde erstmals in der Fläche ausprobiert und finden in der jetzigen Tarifrunde nun wesentlich zahlreicher, intensiver und teilnahmestärker statt. Die Tarifkampagne zeigt damit Ansätze einer Erneuerung des in großen Teilen brachliegenden, demoralisierten öffentlichen Sektors. Zudem entwickeln sich in ver.di schon seit einigen Jahren neue mobilisierungsfähige und streikerprobte Beschäftigtengruppen wie die Erzieher*innen und Pflegekräfte.

Gemeinsam den Verkehr lahmlegen

In der Tarifauseinandersetzung bei der Bahn strebt die Gewerkschaft EVG größere strukturelle Veränderungen an. Sie will die Zersplitterung ihres Tarifvertrags abmildern und einheitliche Standards setzen, indem sie nicht nur für die rund 180.000 Beschäftigten der Deutsche Bahn AG, sondern auch für Zehntausende Beschäftigte bei 50 Privatbahnen verhandelt. Zugleich hat sie abgestimmte Streikaktionen mit ver.di angekündigt, die – voraussichtlich nach der ersten bzw. dritten Verhandlungsrunde bei den Bahnen bzw. im TVöD Ende März – gemeinsam weite Teile des Verkehrs lahmlegen könnten.

Der sich abzeichnende Erzwingungsstreik bei der Post macht eine Verknüpfung aller drei Tarifrunden mit gemeinsamen Warnstreiks oder gegenseitigen Solidaritätsbesuchen nun auch zeitlich möglich. Diese alte Forderung linker Gewerkschafter*innen könnte in dieser Tarifrunde Realität werden und die Dynamik der Auseinandersetzung und der Mobilisierung erheblich stärken. Wenn dann die Arbeitgeber*innen weiterhin nicht einlenken, wird das erste Halbjahr 2023 spannend.

Denn damit diese ersten Schritte einer Erneuerung in einer wirklichen Revitalisierung der Gewerkschaftsmacht in der früheren Leitbranche öffentlicher Dienst münden, müssen diese Tarifrunden erfolgreich für die Beschäftigen ausgehen. Dafür bedarf es breiter Unterstützung linker Gruppen, Parteien und Bewegungen, der öffentlichen Meinung und möglichst der gesamten Bevölkerung.

Fanny Zeise

ist Gewerkschaftsreferentin in der Rosa-Luxemburg-Stiftung.