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|Thema in ak 678: Grenzen des Wachstums

»Es ging darum, uns auf die Zeit nach dem Kapitalismus vorzubereiten«

Svein Egil Haugen über den Zeitgeist von 1972, der zur Gründung einer antikapitalistischen und ökologischen Kommune im Norden Norwegens führte

Interview: Gabriel Kuhn

1. Mai auf Karlsøya. Interviewpartner Svein Egil Haugen mit roter Fahne links vorne. Foto: Karlsøyfestivalen

Seit 50 Jahren gibt es auf der kleinen norwegischen Insel Karlsøya eine öko-sozialistische Gemeinschaft. Karlsøya liegt in der Nähe der Stadt Tromsø, im hohen Norden des Landes. Gabriel Kuhn sprach für ak mit Svein Egil Haugen, einem der Gründungsmitglieder. Haugen lebt immer noch auf Karlsøya. Er ist Landwirt, arbeitete zeitweise aber auch als Direktor der örtlichen Schule und als IT-Verantwortlicher der Kommune.

Wie begann die Geschichte der alternativen Gemeinschaft von Karlsøya?

Svein Egil Haugen: Mit einer linken Bewegung, die sich Ende der 1960er Jahre formte und zunehmend ökologisch orientiert war. Es ging nicht nur darum, eine Alternative zum Kapitalismus zu schaffen, sondern auch darum, uns auf die Zeit nach dem Kapitalismus vorzubereiten. Wir waren damals davon überzeugt, dass der Kapitalismus nicht mehr lange bestehen würde. Seine internen Widersprüche schienen zu groß, nicht zuletzt aufgrund der Zerstörung unserer Erde. Diese wurde immer offensichtlicher. Es schien höchste Zeit zu sein, sich um antikapitalistische und nachhaltige Lebensformen zu bemühen. Auch die damalige Politik der norwegischen Regierung spielte eine Rolle. Menschen, die auf dem Land wohnten, bekamen Geld, um in die Städte zu ziehen, vor allem in den entlegenen Gemeinden des Nordens. Es gab eine große Landflucht. Wir hingegen wollten aufs Land. So kamen wir 1972 auf die Idee, uns auf Karlsøya niederzulassen und eine Gemeinschaft nach unseren Idealen aufzubauen.

Du sprichst von einem Wir. Was waren das für Leute?

Junge Menschen aus den größeren Städten: Oslo, Bergen, Bodø, Tromsø. Aber auch Menschen aus dem näheren Umfeld schlossen sich uns an.

Von wie vielen Leuten sprechen wir?

Als wir auf die Insel zogen, lebten ungefähr 50 Menschen dort. Zwei Jahre später waren es 100. Diese Zahl ist seither ziemlich konstant geblieben. In unserer Gemeinschaft gibt es einen kleinen Kern, der die letzten 50 Jahre dort verbracht hat. Dazu zähle ich. Dann gibt es jede Menge von Leuten, die kamen und gingen.

Kannst du diese Gemeinschaft näher beschreiben?

Wir betreiben Landwirtschaft und sind auf mehrere Kollektive verteilt. Es gibt verschiedene Orte, an denen wir uns regelmäßig treffen, diskutieren und gemeinsame Entscheidungen fällen. Das geschieht formell genauso wie informell. Diese Orte sind sehr wichtig. Regelmäßige Begegnungen und ständige Kommunikation sind der Grundpfeiler unserer Gemeinschaft. Nur so war es uns immer möglich, Probleme früh anzusprechen und zu bewältigen. Die Landwirtschaft in den Kollektiven wird gemeinsam betrieben. Es gab dafür kaum Infrastruktur auf der Insel, das meiste haben wir selbst aufgebaut.

Wie hat man sich Landwirtschaft nördlich des Polarkreises vorzustellen?

Mit vielen Tieren! In unserem Fall vor allem Ziegen. Denen gefällt es hier. Sie kriegen genau das Futter, das sie brauchen. Aber man kann auch einiges anbauen, wenn man es richtig macht – mehr als die meisten Menschen glauben. Aber klar, du brauchst Gewächshäuser und musst mit dem Klima hier vertraut sein.

Trotzdem könnte ich mir vorstellen, dass es schwierig ist, nur mit der Landwirtschaft über die Runden zu kommen. Gibt es andere Einkommensquellen?

Den Fischfang, wie überall im Norden Norwegens. Ohne den Fischfang gäbe es hier gar nichts. Es gab auch immer Künstler*innen und Musiker*innen unter uns, die nebenher Geld verdienen konnten, auch wenn es nicht viel war. Manche von uns wurden auch von der Kommune angestellt, als Lehrkräfte oder in der Verwaltung. Dazu gehöre auch ich. So haben wir uns all die Jahre über Wasser gehalten, auch wenn es nicht immer einfach war. Die ökonomischen Herausforderungen waren sicher ein Grund dafür, warum Menschen immer wieder wegzogen.

Es schien höchste Zeit zu sein, sich um antikapitalistische und nachhaltige Lebensformen zu bemühen. 

Du sagst, dass du 1972 auf die Insel gekommen bist. Im selben Jahr wurde der Bericht des Club of Rome veröffentlicht. Ein Zufall?

Wahrscheinlich nicht. Beides entsprach einem Bewusstsein, das sich damals bildete.

Ihr habt darauf sehr konkret reagiert.

Ja, das kann man so sagen.

Habt ihr den Bericht des Club of Rome diskutiert?

Er war nicht unser Grundlagenpapier, wenn du das meinst. Aber natürlich war er Gesprächsthema. Die meisten von uns waren politisch engagiert und diskutierten solche Veröffentlichungen.

Lässt sich etwas zum ideologischen Hintergrund der Leute sagen, die auf die Insel zogen?

Die meisten kamen aus linken Bewegungen, hatten mit orthodoxem Marxismus-Leninismus jedoch wenig zu tun. Am stärksten waren unsere Verbindungen immer zum autonomen Milieu. Das ist auch heute noch so. Es gab aber auch Leute, die eher spirituell motiviert waren. Sie mochten indische Philosophie und solche Sachen.

Führte das zu Spannungen?

Ach. Es gab immer Spannungen, das war nicht die einzige Konfliktlinie. Aber klar, wenn man unterschiedliche Beweggründe hat, macht sich das bemerkbar. Doch es gelang uns immer, die Unterschiede auszuhalten.

Wie war das Verhältnis zu den anderen Bewohner*innen der Insel? Denjenigen, die bereits vor euch dort waren.

Eigentlich immer gut. Wir belebten die Insel, die Alteingesessenen wussten das zu schätzen. Schwieriger war es mit den Leuten, die auf der Insel ihre Ferienhäuser hatten. Denen zerstörten wir das idyllische Ferienparadies. Aber daran mussten sie sich gewöhnen.

Du dachtest nie daran wegzuziehen?

Doch, vor allem in den 1980er und 90er Jahren. Der Enthusiasmus des ersten Jahrzehnts war abgeklungen, und wir mussten einsehen, dass der Kapitalismus vielleicht doch noch etwas länger bestehen würde als erwartet. Viele von uns verließen die Insel, und auch für mich stellte sich die Sinnfrage. Aber es kamen immer wieder neue Leute, und wir arbeiteten immer zusammen. Das Gemeinschaftsgefühl verschwand nie. Das war viel wert. So bin ich geblieben.

Was ist heute euer größtes Problem?

Es sind zu wenige junge Leute auf der Insel. Aber das ist kein Problem, das nur uns trifft, es ist charakteristisch für das Leben auf dem Land in ganz Norwegen. Spätestens wenn Jugendliche 15 Jahre alt sind, müssen sie für ihre weitere Ausbildung in eine größere Stadt ziehen. In unserem Fall gehen die meisten nach Tromsø. Und nur sehr wenige kehren zurück.

Auch wenn der Kapitalismus immer noch existiert, und es die jungen Menschen in die Städte zieht: Habt ihr in den letzten 50 Jahren etwas bewirkt?

Ja, das würde ich schon sagen. Wir haben einiges erreicht, worauf wir stolz sein können: einen gewissen Grad an Selbstversorgung, kollektives Leben, demokratische Strukturen. Ich glaube, die Bedeutung davon geht über die Insel hinaus. Unser Bekanntheitsgrad in Norwegen ist hoch, für viele sind wir ein Beispiel dafür, dass ein anderes Leben möglich ist. Einige Jahre lang gaben wir auch eine Zeitschrift heraus, die viel gelesen wurde – selbst in den nordischen Nachbarländern. Wir haben gute Kontakte zu den Bewohner*innen von Christiania, dem alternativen Stadtteil in Kopenhagen. Es gibt auch immer noch Leute aus dem autonomen Milieu, die auf die Insel ziehen. Außerdem gibt es seit dem Jahr 2000 das jährliche Karlsøyfestival mit Konzerten, Ausstellungen, Vorlesungen und Workshops. Viele Menschen kennen uns aufgrund des Festivals. Ich glaube, wir können immer noch andere inspirieren. Das Festival hat auch dazu geführt, dass Kontakte, die zuvor eher sporadisch und persönlicher Natur waren, stabiler und kontinuierlicher geworden sind.

Ihr seid also nach wie vor Teil einer Bewegung?

Ja, das würde ich so sagen.

Gabriel Kuhn

lebt als Journalist und Autor in Schweden.

Thema in ak 678: Grenzen des Wachstums

Eine Mall im Hintergrund, mit Menschen, die auf mehreren Etagen über Gänge laufen und in die Läden ein- und Auslaufen. Im Mittelpunkt stapeln sich Frachtcontainer. In Druckstift steht "Mehr, Mehr, Mehr"
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