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|Thema in ak 674: Linke & Regierungen

Die lateinamerikanische Erfahrung

Eine ganze Generation hat die Grenzen progressiver Regierungen kennengelernt – neue Bewegungen ziehen ihre Schlüsse daraus

Von Raúl Zibechi

Parteilos und ohne Repräsentation: Die neuen Bewegungen in Lateinamerika haben sich auch im Konflikt mit den linken Regierungen entwickelt. Das Bild zeigt einen Marsch von Ni Una Menos im Sommer 2017 in Argentinien. Foto: luzencor/Flickr, CC BY-ND 2.0

Es gab einen progressiven Zyklus in Lateinamerika, etwa zwischen 2000 und 2015. Das schleichende Ende dieses Zyklus setzte jedoch schon früher ein, um das Jahr 2013 herum, als die Folgewirkungen der globalen Krise von 2008 noch deutlich zu spüren waren. Seit etwa fünf Jahren herrscht überall – wenn auch mit Unterschieden von Land zu Land – eine Situation vor, die eher als Unregierbarkeit eingestuft werden kann, als dass die Macht in den Händen von Konservativen oder Progressiven liegt.

Das große Problem bei der Analyse dieses Zeitraums ist die Frage, aus welchem Blickwinkel dies geschehen soll. Ein möglicher Ansatz ist der strukturelle, bei dem das jeweilige Modell der ökonomischen Akkumulation im Mittelpunkt steht, und die Frage, ob es sich in irgendeiner Weise verändert hat. Eine zweite Sichtweise ist die auf den Alltag der ärmeren Bevölkerung, die sich mit deren Einkommen, Mobilität und Perspektiven während und nach den progressiven Regierungen befasst. Ein dritter Aspekt ist die Frage, welchen Einfluss die Progressiven an der Regierung auf die sozialen Bewegungen hatten.

Ich verzichte darauf, diese Regierungen durch die Brille der Machtzentren zu betrachten, etwa mit Blick auf die Entwicklung der Makroökonomie und die so genannten »demokratischen Freiheiten«, für die sich die Regierungen des Nordens gewöhnlich interessieren. Stattdessen konzentriere ich mich auf die unteren Schichten und ihre Organisationen.

Die »Wunder«

In fast allen Ländern Lateinamerikas kamen Progressive und Linke an die Regierung, nachdem eine große Welle von Aufständen die Region erschüttert hatte – von den mehrtägigen Aufständen in Venezuelas Hauptstadt Caracas (»Caracazo«) 1990 bis zum zweiten »Gaskrieg« in Bolivien 2005. Dank gigantischer gesellschaftlicher Mobilisierungen war es möglich, innerhalb weniger Jahre ein Dutzend neoliberaler Regierungen zu stürzen, die dem Washingtoner Konsens folgten: In Ecuador wurden drei Präsidenten gestürzt (Abdalá Bucaram 1997, Jamil Mahuad 2000 und Lucio Gutiérrez 2005), in Argentinien zwei (Fernando de la Rúa und Adolfo Rodríguez Saá 2001), in Bolivien zwei (Gonzalo Sánchez de Lozada 2003 und Carlos Mesa 2005), einer in Paraguay (Raúl Cubas 1999), einer in Peru (Alberto Fujimori 2000), einer in Brasilien (Fernando Collor de Mello 1993) und ein weiterer in Venezuela (Carlos Andrés Pérez 1993).

Die progressiven Regierungen, die sich kurz nach jeder dieser Erschütterungen von unten bildeten, weisen mindestens vier Gemeinsamkeiten und einige Unterschiede auf. Gemeinsame Logiken waren die Stärkung des Staates, eine ausgleichende Sozialpolitik als Kern der neuen Regierungsführung, das Extraktivismusmodell, also der Abbau und Export von Rohstoffen, als Grundlage der Wirtschaft sowie die Umsetzung großer Infrastrukturprojekte. Meiner Ansicht nach war das auf fossilen Kohlenwasserstoffen, Tagebau und Monokulturen wie Soja basierende Rohstoffmodell die Grundlage des wirtschaftlichen Erfolgs und einer auf Geldtransfers basierenden Sozialpolitik, und damit der Schlüssel für die Legitimität des Progresismo, der Mitte-Links-Regierungen.

Der Zyklus hoher Rohstoffpreise ermöglichte es den progressiven Regierungen, die Einkommen von ungelernten, unterbeschäftigten und informellen Arbeiter*innen zu verbessern, denen die laufende Erhöhung des Mindestlohns und Sozialhilfezahlungen wie die brasilianische Bolsa Familia zugute kamen. In einigen Ländern wurde dies als »Wunder« bezeichnet, da es gelang, die Armut zu verringern, ohne den Reichtum anzutasten.

Hohe Rohstoffpreise ermöglichten es, die Einkommen von ungelernten und informellen Arbeiter*innen zu verbessern.

Mit der Sozialpolitik konnte die politische Landkarte für einige Zeit zugunsten dieser Regierungen verändert werden, aber sie schwächte die Bewegungen. Das Programm Bolsa Familia erreicht 25 Prozent der Brasilianer*innen insgesamt, aber um die 65 Prozent der Bewohner*innen des Nordostens, der ärmsten Region des Landes. Demzufolge bekommt die PT (Arbeiterpartei) umso mehr Stimmen, je größer die Reichweite von Bolsa Familia ist. Der Präsidentschaftskandidat Fernando Haddad erzielte 2018 in Gemeinden, in denen mehr als 60 Prozent der Bevölkerung diese Leistung erhalten, 67 Prozent der Stimmen, aber nur 36 Prozent in Gemeinden, in denen der begünstigte Anteil der Bevölkerung zwischen 25 und 39 Prozent liegt. 

So kam es dazu, dass sich die Stimmen für die Linke – die bis 2002, als Lula die Präsidentschaft gewann, in den Industriegebieten, in denen die PT und der Gewerkschaftsverband CUT entstanden sind, im Süden und Südosten verwurzelt war – seit Lulas Regierungsantritt 2003 massiv in den Nordosten verlagert haben. 

Insgesamt ist es den progressiven Regierungen in den verschiedenen Ländern gelungen, die Einkommen der ärmeren Bevölkerung zu erhöhen, den Verkehr zu subventionieren und damit die innerstädtische Mobilität zu steigern, und durch Quoten für Schwarze und PoC an den staatlichen Universitäten einem Teil dieser Bevölkerung Zugang zu den Universitäten zu verschaffen.

Zu strukturellen Veränderungen kam es jedoch nicht. Darüber hinaus verschärfte sich der Prozess der Deindustrialisierung, die Rohstoffexporte nach Asien und vor allem nach China expandierten, die Immobilienspekulation in den Städten nahm deutlich zu, und die Integration der unteren Schichten erfolgte über den Konsum. Letzten Endes führte die Kontinuität des Rohstoffmodells zu einer Verschärfung der sozialen Polarisierung. Die Ungleichheit nahm trotz sozialpolitischer Maßnahmen weiter zu, da von den dynamischsten Sektoren weiterhin die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung profitierten.

In einem Interview mit der Tageszeitung El Telégrafo im Januar 2012 hatte Präsident Correa (Ecuador) selbst auf diese Kontinuitäten verwiesen: »Letztlich machen wir die Dinge besser, ohne dabei das Akkumulationsmodell anzutasten. Denn wir wollen nicht den Reichen schaden, sondern eine gerechtere Gesellschaft mit größerer Chancengleichheit.«

Die Wirtschaftskrise machte es dann allerdings unmöglich, das Modell fortzuführen. Die lateinamerikanischen Volkswirtschaften verzeichneten Ende 2015 einen schweren Niedergang, der sich in den folgenden Jahren fortsetzte. Durch den Verfall der Rohstoffpreise lösten sich die Handelsüberschüsse in nichts auf, und am Ende dieses politisch-ökonomischen Zyklus waren die Länder der Region noch stärker vom Rohstoffexport abhängig als vor dem Antritt der progressiven Regierungen.

Das zweite entscheidende Element, das die neue Phase der Unregierbarkeit prägt, ist die Neuzusammensetzung der sozialen Bewegungen – ein Symptom für die Risse, die sich zwischen Regierungen und Gesellschaften aufgetan haben.

Bewegungen als Macht und Grenze

Auf den Niedergang des Modells der progressiven Regierungen gab es von Seiten der organisierten Basis der Gesellschaft unterschiedlich heftige Reaktionen. Den Wendepunkt zu bestimmen, ist nicht einfach, aber wir können ihn wohl zwischen Dezember 2010 (Konflikt um die Besetzung des Parque Indoamericano in Buenos Aires durch Tausende von obdachlosen Familien) und Juni 2013 (Massendemonstrationen in Brasilien) ansiedeln. In Ecuador hat sich die Kluft im Jahr 2015 mit dem Aufstand der Indigenen und des Volkes und der harten Repression gegen die Bewegungen exponentiell vergrößert. In Uruguay organisierten Lehrer*innen und Student*innen die größten Demonstrationen und Streiks seit mehr als einem Jahrzehnt. In Bolivien und Venezuela kehrte ein Teil der Bewegungen ihren Regierungen den Rücken.

Nach einer Periode der Schwächung der Bewegungen – die in erster Linie auf die Integration von Führungspersonen und Kadern in den Staatsapparat und desweiteren auf die Befriedung durch die Sozialpolitik zurückzuführen ist – tauchen die sozialen Konflikte wieder auf, allerdings in neuen Formen und Formaten.

In allen Ländern entstehen neue Basisströmungen, die sich nicht selten zu schlagkräftigen Organisationen entwickeln. Die großen Revolten 2019 und 2021 in Ecuador, Chile und Kolumbien, die gegenseitigen Unterstützungsaktionen der Armen, die die Landlosenbewegung MST in Brasilien organisiert hat, die Volksküchen in Asunción, Montevideo und Santiago, die Tauschbörsen der Indigenen im kolumbianischen Cauca sind neben vielen anderen die Grundlage eines neuen Aktivismus, der sogar während der Pandemie beachtliche Initiativen entfaltet hat.

In der letzten Phase der fortschrittlichen Regierungen besetzten junge Menschen Hunderte von Gymnasien bei den Demonstrationen Ni Una Menos (Nicht eine weniger) in der gesamten Region, insbesondere aber in Buenos Aires, Santiago und Montevideo. Bei der Revolte in Chile 2019 trafen drei große Bewegungen zusammen: Mapuche, Feministinnen und Student*innen. Ähnliches geschah in Kolumbien 2019 und nun 2021 erneut.

Unter den neuen Bewegungen entsteht eine neue politische Kultur. Eine neue politische Kultur, die sich als parteilos definiert, ohne sich gegen Parteien zu richten, die im Konsens entscheidet und ohne Repräsentation funktioniert, die es unterschiedlich weit entwickelt überall auf dem Kontinent gibt, und die in den zukünftigen Veränderungsprozessen eine entscheidende Rolle spielen wird.

Raúl Zibechi

ist Autor zahlreicher Bücher über die neuen sozialen Bewegungen in Lateinamerika und schreibt regelmäßig für lateinamerikanische und europäische Medien.

Übersetzung: Alix Arnold

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