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|Thema in ak 672: Grüner Kapitalismus und Klimabewegungen

Mit Baerbock zum grünen Kapitalismus?

Die Ökopartei und die Konturen einer neuen Produktions- und Lebensweise

Von Hendrik Sander

Foto: Paul Wager / Flickr, CC BY-ND 2.0

Kommt mit einer Bundeskanzlerin Annalena Baerbock der grüne Kapitalismus in Deutschland als Ausweg aus der Post-Coronakrise? So einfach ist es nicht, aber im aktuellen Höhenflug der Grünen verdichten sich längerfristige Entwicklungen in der deutschen Gesellschaft, die in Richtung einer tiefgreifenden ökologischen Modernisierung des hiesigen Kapitalismusmodells steuern. Mit der zunehmenden Brisanz der Klimakrise und der Dynamik der Klimabewegung ist die ökologische Frage in den letzten Jahren ganz oben auf die politische Tagesordnung gerückt.

Der Wandel zeigt sich gerade in der deutschen Wirtschaft. Entwickelten sich ökologische Produkte und Dienstleistungen lange als mehr oder weniger eigenständige Submärkte, steht seit einiger Zeit die grüne Modernisierung der deutschen Leitbranchen (Auto, Maschinenbau, Energie, Chemie) auf der Agenda. Zwar gibt es weiterhin relativ unabhängige grüne Kapitale in Form mittelständischer Unternehmen, teilweise dringen indes auch große Player wie Tesla oder Google in bestehende Märkte ein. Doch die dominante Entwicklung besteht darin, dass deutsche Großkonzerne selbst beginnen, ihre Geschäftsmodelle grundlegend umzustellen – auch wenn sie zum Teil noch lange an ihren konventionellen Kerngeschäften festhalten wollen.

Dabei setzt das deutsche Kapital auf mehrere Megatrends: So soll nicht nur die Stromerzeugung auf erneuerbare Energien umgestellt werden, sondern weitere Sektoren sollen elektrifiziert werden – allen voran der Verkehr, aber auch die Wärmeversorgung. Parallel dazu setzen mächtige Kapitale auf einen neuen Wirtschaftskreislauf auf Basis von Wasserstoff, und es gewinnen Ansätze einer Bioökonomie an Bedeutung: Die Ressourcenbasis der gesamten Wirtschaft soll auf natürliche Rohstoffe umgestellt werden. Schließlich werden diese Trends von der Digitalisierung aller Wirtschafts- und Lebensbereiche überlagert, die einem entstehenden grünen Kapitalismus ihren Stempel aufdrückt. Allen diesen Entwicklungen ist gemein, dass sie tatsächlich in längerer Frist auf einen deutlich geringeren CO2-Ausstoß der Wirtschaft hinauslaufen könnten. Allerdings würde die Ökonomie weiterhin auf einem enormen Bedarf an Energie und Rohstoffen basieren. Imperiale Ausbeutung, Hightech- und Wachstumsorientierung würden fortgeschrieben.

Unterschiedliche Reaktionen auf das grüne Projekt

Um hegemonial zu werden, muss das Projekt eines grünen Kapitalismus auch von relevanten Fraktionen und Milieus der lohnabhängigen Klassen mitgetragen werden. Je nach ihren Berufsfeldern, ihren ökonomischen Anpassungsmöglichkeiten und ihrer Eingebundenheit in das fossilistische Produktions- und Konsummodell reagieren die Angehörigen verschiedener Klassenfraktionen ganz unterschiedlich auf ökologische Politiken. Während die Bergleute in der Braunkohleindustrie einer ambitionierten Klimapolitik weitgehend ablehnend gegenüberstehen, sind die Beschäftigten im öffentlichen Verkehr viel aufgeschlossener. Aber die Haltungen zur ökologischen Frage lassen sich nicht nur aus ökonomischen Interessen erklären, sondern sind mit eingespielten Lebensweisen und Weltsichten verknüpft. So analysiert der Soziologe Dennis Eversberg mit dem Ansatz von Pierre Bourdieu eine Reihe von typischen Einstellungsmustern in der Bevölkerung, die sich – trotz aller Widersprüchlichkeit im Detail – zu drei großen Lagern bündeln lassen.

Ein ökosoziales Lager begegnet einer weitgehenden Transformation positiv und bildet die Basis progressiver Bewegungen. Es umfasst ca. 30 Prozent der Bevölkerung. Dort finden sich überdurchschnittlich viele Frauen, Städter*innen und Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen. Demgegenüber stellt ein liberal-steigerungsorientiertes Lager mit über einem Drittel der Bevölkerung den sozialen Träger des bisherigen neoliberalen Modells dar. Mehrheitlich männlich und mit überwiegend höheren Einkommen sind die Angehörigen dieses Lagers die Profiteur*innen des deutschen Wirtschaftsmodells und der imperialen Lebensweise. Nur unter der Bedingung, dass sie ihre Privilegien nicht aufgeben müssen, lassen sie sich auf ökologische Veränderungen ein. Rund ein Viertel der Bevölkerung zählt ferner zu einem regressiv-autoritären Lager, das gesellschaftlichen Modernisierungen und klimapolitischen Forderungen grundsätzlich skeptisch bis ablehnend begegnet. In diesem traditionellen Lager sind überdurchschnittlich Menschen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen und Einkommen und aus ländlichen Räumen vertreten (die eigentlich in der Mehrheit einen kleineren ökologischen Fußabdruck haben).

Die parlamentarische wie außerparlamentarische Linke müsste den Green New Deal über seine kapitalistischen Grenzen hinauszutreiben.

In der Auseinandersetzung um ein neues hegemoniales Projekt müssen ferner politische Organisationen und organische Intellektuelle aktiv einen hegemonialen Prozess organisieren, indem sie Programme formulieren und Allianzen formen. Tatsächlich setzen sich ganz verschiedene Akteur*innen wie Umwelt-NGOs, wissenschaftliche Institute und Wirtschaftsverbände seit Jahren für einen ökologischen Umbau der Gesellschaft ein. Ende Gelände, Extinction Rebellion, Fridays for Future und Co. könnten mit ihren vehementen Protesten ebenfalls (ungewollt) zur Formierung eines solchen Projekts beitragen.

Entscheidend für einen grünen Kapitalismus wird schließlich sein, ob sich das Projekt in den Staatsapparaten durchsetzt. Die wechselnden Koalitionen unter Angela Merkel standen eher für ein Ausbalancieren aller (machtvollen) Interessen, so dass die ökologische Modernisierung des deutschen Kapitalismus allenfalls gebremst vorangeschritten ist. Der öffentliche Diskurs um die Klimakrise und das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dass die Bundesregierung ihre Klimapolitik deutlich verschärfen muss, erzeugen einen Handlungsdruck und rufen nach einer politischen Kraft, die die gesellschaftlichen Herausforderungen produktiv bearbeitet.

Genau diese Rolle könnten die Grünen übernehmen. Ihr gegenwärtiger Auftrieb ist einerseits ein konjunkturelles Phänomen und der Schwäche der Union geschuldet. Andererseits verdichten sich darin längerfristige Verschiebungen in der Gesellschaft. Mit Blick auf die Bundestagswahl im September formuliert die Partei explizit den Anspruch, den deutschen Kapitalismus ökologisch umzubauen, um den Zielen von Paris gerecht zu werden. Das möchte sie mit moderaten sozialen Reformen und einer gesellschaftspolitischen Modernisierung verbinden – einem progressiven Green New Deal. Mit diesem Programm wollen die Grünen nach der Corona-Krise den Aufbruch in »eine neue Epoche« schaffen. Wörtlich benennt der Parteivorsitzende Robert Habeck das hegemoniepolitische Ziel: »Wir wollen einen Auf- schwung schaffen, der über das rein Ökonomische hinausgeht. Einen Auf- schwung, der das ganze gesellschaftliche Leben in seiner Stärke und Vielfalt erfasst.«

Kein Klima-Umsturz

Für die Verwirklichung dieses Projekts strebt Annalena Baerbock nicht nur die Kanzlerinnenschaft an, sondern ihre Partei will auch die gesellschaftliche Führung übernehmen. Zugleich betont die Parteispitze, dass sie keinen »Klima-Umsturz« will, sondern die bewährten Strukturen erneuern. Denn es gelte, eine breite Mehrheit und Allianz für den Wandel zu organisieren – parlamentarisch wie gesellschaftlich. So könnte eine grün geführte Bundesregierung dem deutschen Kapital durchaus erhebliche Umstellungen abverlangen und den Widerstand seiner rückschrittlichen Fraktionen provozieren, deren Geschäftsmodelle elementar bedroht werden. Sie könnte wesentlichen Kapitalen aber auch neue Geschäftsfelder erschließen. Die grüne Spitze formuliert eine Einladung an die Bourgeoisie, mit grüner Politik die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf den globalen Märkten für innovative Klimatechnologien zu stärken. Dass die Adressierten diese Offerte annehmen könnten, zeigte sich in einer Civey-Umfrage unter 1.500 Funktionsträger*innen der herrschenden Klasse in diesem April: Baerbock bekam mit 26,5 Prozent mit Abstand die meisten Stimmen.

Außerdem könnte eine grüne Regierung wesentliche Teile des ökosozialen Lagers einbinden – auch wenn die aktiven Bewegungskerne umso entschiedener für einen radikalen System Change streiten werden. Zugleich würde sie ein neues Angebot der Identifikation und des Wohlstands an das liberal-steigerungsorientierte Lager machen: Ihr könnt eure imperiale Lebensweise fortsetzen – aber auf Basis einer grünen Wirtschaftsform. Insbesondere jene Teile der lohnabhängigen Klassen, die sich von einem grünen Kapitalismus ökonomische Vorteile versprechen können oder deren Betriebe sich erfolgreich umstellen könnten, dürften das Projekt mittragen. Nur dem regressiv-autoritären Lager und solchen Klassenfraktionen, deren materielle Reproduktionsbasis von einem starken Wandel bedroht ist, haben die Grünen kaum etwas zu bieten. Diese Gruppen drohen, sich weiter zu radikalisieren und mit chauvinistischen Teilen des liberal-steigerungsorientierten Lagers einen starken rechten Minderheitsblock gegen eine öko-liberale Regierung zu bilden.

Deswegen wird es für die Grünen nicht zuletzt wichtig sein, eine breite Regierungskoalition zu schließen. Dabei haben sie von der Union die Position in der Mitte des Parteiensystems eingenommen. Ohne sie kann kaum eine Regierung gebildet werden. Während sich FDP und Union bisher noch mit klassischen Themen gegen das »linke Lager« positionieren, setzen SPD und Linke auf ähnliche Themen wie die Grünen. Sie könnten die Rolle eines Korrektivs beim grünen Umbau spielen, indem sie die Interessen der Subalternen (Linkspartei) bzw. der traditionellen Industriezweige (SPD) stärker einbringen. Aber auch Union und FDP werden sich am Ende nicht einer Koalition der ökologischen Modernisierung des Kapitalismus verweigern.

Eine stabile Koalition wird auch deshalb essenziell sein, weil dem kapitalistischen Transformationsprojekt der Grünen deutliche Widerstände entgegenschlagen könnten. Opposition von fossilen Kapitalen, Verteilungskonflikte und Blockaden durch Bundesländer, Gerichte und Ministerien drohen, seinen Erfolg zu gefährden. So ist das beschriebene Szenario keineswegs ausgemacht. Andere Kräfte könnten auf einen Kurs des angepassten Weiter-So nach der Corona-Krise setzen. Die parlamentarische wie außerparlamentarische Linke müsste ohnehin über den grünen Kapitalismus hinausgehen. Sie müsste eine eigene Transformationsagenda stark machen und versuchen, den Green New Deal über seine kapitalistischen Grenzen hinauszutreiben.

Der vorliegende Artikel ist im Rahmen eines Projektes der Rosa-Luxemburg-Stiftung entstanden.

Hendrik Sander

ist Politikwissenschaftler und veröffentlichte 2016 seine Dissertation unter dem Titel »Auf dem Weg zum grünen Kapitalismus? Die Energiewende nach Fukushima«.

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