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|Thema in ak 671: Hunger, Ausbeutung, Landwirtschaft

Grenzenlose Profite statt weniger Hunger

Obwohl das industrielle Agrarmodell nachweislich Menschen und Natur schadet, halten Regierungen weltweit an ihm fest

Von Lena Bassermann

Ein Trekker mit einem riesigen Pflug fährt über ein Feld
Mit welchem landwirtschaftlichen Ansatz bald zehn Milliarden Menschen ernährt werden? Foto: Loren / Unsplash

Weltweit hungern immer mehr Menschen. Zum fünften Mal ist ihre Zahl auf derzeit mehr als 690 Millionen gestiegen. Insgesamt sind rund zwei Milliarden Menschen mangelernährt, das heißt, nicht ausreichend mit Nährstoffen versorgt. Genauso viele Menschen sind überernährt – mit erheblichen Folgen für die Gesundheit. Denn eine Ernährungsweise, die auf einem zu hohen Konsum an Zucker, Salz und ungesättigten Fetten beruht, macht krank. Angesichts dieser Missstände drängt sich die Frage auf, was eigentlich schief läuft im weltweiten Ernährungssystem.

Zweifelsohne sind Kriege sowie die Folgen der Klimakrise Hauptursachen für Hunger. Doch mittlerweile bestätigt sogar die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), dass wachsende soziale und wirtschaftliche Ungleichheit zu mehr Hunger führen. Dramatisch bestätigt wurde das durch die Corona-Krise. Denn die Folgen der weltweit erlassenen Maßnahmen führten vor allem bei ohnehin einkommensschwachen Menschen dazu, dass ihre Zugänge zu Nahrung stark eingeschränkt sind. Besonders betroffen sind Tagelöhner*innen, aber auch Händler*innen, Bäuerinnen und Bauern.

Zoonosen in Megaställen

Doch die Krise hat nicht nur bestehende Ungleichheiten verstärkt, sondern auch einmal mehr die Probleme eines industriellen Agrarmodells bestätigt, das von den Interessen mächtiger Agrar- und Ernährungskonzerne dominiert wird. Auch die Massentierhaltung gerät dabei in den Fokus. Seit Jahrzehnten sind die Probleme in Megaställen bekannt. Die Tiere sind auf engstem Raum zusammengepfercht und dabei in Kontakt mit den Menschen, die in den Ställen arbeiten müssen – die perfekte Grundlage zur Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten innerhalb der Tierbestände. Im Extremfall können diese in Form von Zoonosen von Tieren auf den Menschen übergehen. Die Arbeitsbedingungen in der industriellen Tierhaltung sind häufig nicht nur in den Ställen, sondern auch in der Fleischverarbeitung katastrophal. So kam es in den Schlachthäusern Europas, Brasiliens und der USA immer wieder zu Massenausbrüchen des Coronavirus unter den Arbeiter*innen. Die Viren konnten auch noch auf dem verarbeiteten Fleisch nachgewiesen werden. China testete daraufhin importiertes Fleisch auf Coronaviren und ließ kontaminiertes Fleisch zurückschicken.

Auch die großen ökologischen Krisen wie Artensterben und Klimawandel sind unmittelbar mit diesem industriellen Agrarsystem verknüpft. So sagt der Weltklimarat, dass unser Ernährungssystem – vom Acker bis auf den Teller – für bis zu 37 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich ist. Weckrufe, die bei den Regierungen überwiegend auf taube Ohren stoßen.

Die Frage, mit welchem landwirtschaftlichen Ansatz bald zehn Milliarden Menschen ernährt werden sollen, beherrscht die Debatten um das Thema Welternährung wie keine andere. Glaubt man der Agrarindustrie, ist das nur möglich, wenn man die landwirtschaftliche Produktion weiter intensiviert, also Kunstdünger, Industriesaatgut, Pestizide und Gentechnik einsetzt. So sollen die Erträge einzelner Feldfrüchte um jeden Preis gesteigert werden.Dabei landen diese nur zu rund 40 Prozent auf dem Teller, der Rest wird als Tierfutter für die Fleischproduktion (defintiv kein Mittel der Hungerbekämpfung) und die industrielle Produktion (Biosprit) verwendet.

Selbst ein Beirat der Bundesregierung rät zur umfassenden Ökologisierung der Landwirtschaft.

Dieses sogenannte Wachstumsnarrativ beherrscht Industrie und Teile der Wissenschaft bereits seit den 1960er Jahren – dem Beginn der »Grünen Revolution«. Mit dieser sollen durch eine Intensivierung landwirtschaftlicher Nutzflächen mit konventionellen Anbaumethoden Erträge massiv gesteigert werden. Internationale Politik und Agrarkonzerne setzen seit Jahrzehnten auf diesen Ansatz, der ständig weiterentwickelt wird. Kein Wunder, denn ihr Geschäftsmodell basiert auf dem Absatz von landwirtschaftlichen Produktionsmitteln, verstärkt auch im Globalen Süden. Dort verkaufen Pestizidhersteller wie Bayer oder BASF sogar Produkte, die in der EU nicht oder nicht mehr zugelassen sind. Dabei ist vielfach belegt, dass dadurch Böden ausgelaugt, Pflanzen und Tiere vernichtet, Landarbeiter*innen geschädigt und Landflächen einseitig ausgenutzt werden – und der Hunger nicht verringert wird.

Falsche Versprechen der Grünen Revolution

Dahinter steht auch der Glaube an globalen Handel von Agrarprodukten für eine weltweite Ernährungssicherung. Laut der kanadischen Wissenschaftlerin Jennifer Clap ist die Integration von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in globale Lieferketten sogar das zentrale Merkmal einer »neuen Grünen Revolution«, die in der Zeit nach der Welternährungskrise der Jahre 2007/08 ihren Anfang genommen hat. Sie fokussiert vor allem auf afrikanische Staaten, da dort die Hungerzahlen am bedrohlichsten anstiegen. Eine Reihe an Initiativen wurde aus dem Boden gestampft. Die von der Bill und Melinda-Gates-Stiftung initiierte AGRA-Allianz (Allianz für eine grüne Revolution in Afrika) ist nur die bekannteste von ihnen. Sie alle haben trotz Milliardenunterstützung bis jetzt kaum zu einer Verbesserung der Ernährungssituation in afrikanischen Ländern beigetragen. Das belegt unter anderem die Studie »Falsche Versprechen« aus dem letzten Jahr. Insbesondere im Zentrum der Kritik steht dabei der grünrevolutionäre »Dreiklang« aus synthetischem Dünger, Saatgut und Pestiziden. Dieser bringt weder die versprochenen höheren Erträge, sondern ist aufgrund der hohen Kosten für die externen Betriebsmittel eine Verschuldungsfalle für Bäuerinnen und Bauern. Und er geht mit enormen ökologischen Folgekosten einher.

Was die Abhängigkeit von Märkten bedeutet, zeigt sich aktuell erneut mit Blick auf die Preise für Agrarrohstoffe. Denn derzeit erfasst der Preisanstieg bei Rohstoffen auch Agrarprodukte wie Weizen und Mais. An der Chicagoer Rohstoffbörse stiegen die Preise für Grundnahrungsmittel Anfang Mai auf den höchsten Stand seit acht Jahren. Der Lebensmittelkonzern Nestlé kündigte bereits an, die Preise anzuheben.

Dass ein »Weiter so« keine Option ist, haben die Autor*innen des Weltagrarberichts bereits vor weit mehr als zehn Jahren festgestellt. Mit jeder der aktuellen Krisen bestätigt sich diese Aussage. Zuletzt auch in dem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU) zum Thema Landwende. Das industrielle Agrarmodell beruht in vielen Fällen auf der Ausweitung von Landflächen, sprich es wird mehr Land bewirtschaftet, etwa indem Moore, Regenwälder und biodiverse Savanne in die agrarindustrielle Nutzung genommen werden, die vorher wichtige Lebensräume für Natur und Menschen waren, etwa als indigene Ernährungssysteme. Doch nur wenn sich unser Umgang mit Land grundlegend ändert, können die Klimaschutzziele erreicht, der dramatische Verlust der biologischen Vielfalt abgewendet und das globale Ernährungssystem nachhaltig gestaltet werden, so das Gutachten. Wörtlich rät das Gremium sogar zu »einer Abkehr von der industriellen Landwirtschaft durch ihre umfassende Ökologisierung«.

Agrarökologie wird längst erfolgreich praktiziert

Die gute Nachricht ist, dass es diese Ansätze bereits gibt und von Bäuerinnen und Bauern in Form von Agrarökologie überall auf der Welt seit Jahrzehnten erfolgreich praktiziert werden. In der Agrarökologie werden Boden, Pflanzen und Tiere als ein gemeinsames Ökosystem verstanden, Biodiversität wird systematisch in den Anbau integriert. Nährstoffe können so erhalten und Böden geschont werden.

Weitere Verbreitung erfuhr Agrarökologie aber vor allem in den 1980er Jahren in Lateinamerika. Statt auf politische Unterstützung zu warten, begannen Bauernorganisationen, allen voran La Via Campesina, Agrarökologie als politischen Begriff zu nutzen, und verknüpften ihn mit dem Konzept der Ernährungssouveränität. Als soziale Bewegung in Lateinamerika formulierten sie den Anspruch an Staat, Gesellschaft und Wissenschaft, in ihren politischen Anliegen nach fairer Teilhabe und ihrer landwirtschaftlichen Arbeit ernst genommen und unterstützt zu werden. Nicht als Empfänger von Hilfsleistungen aus dem Globalen Norden, sondern als Inhaber von Rechten, die einen gleichberechtigten Anspruch an Teilhabe und Gestaltung des Ernährungssystems haben. Agrarökologie zielt darauf, soziale Ungleichheit zu überwinden und eine sozial-ökologische Transformation des bestehenden Agrar- und Ernährungssystems zu ermöglichen.

Bleibt zu hoffen, dass Agrarökologie künftig endlich mehr politische und finanzielle Unterstützung erhält, um das volle Potenzial zu entfalten. Und das beinhaltet nicht nur einen Anbau nach den Prinzipien des ökologischen Landbaus, sondern eine völlige Umgestaltung des Ernährungssystems, in dem die Interessen von Menschen, die Nahrung erzeugen und konsumieren, im Zentrum stehen – und nicht die Profite von Konzernen. Allerdings wird das kaum ohne soziale Bewegungen gelingen, die die Interessen jener infrage stellen, die von dem vorherrschenden Modell profitieren.

Lena Bassermann

ist Referentin für Welternährung und globale Landwirtschaft bei INKOTA.

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