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|Thema in ak 667: Zehn Jahre Aufstand

Die unvollendeten Revolutionen

Nach den Massenprotesten in Westasien und Nordafrika bestanden die Widersprüche weiter fort – Bewegungen haben dazugelernt

Von Harald Etzbach

Die 25 erinnert an den Beginn der Bewegung in Ägypten am 25. Januar 2011. Foto: Hossam el-Hamalawy / Flickr, CC BY 2.0

Ash-shab yurid isqat an-nizam« – das Volk will den Sturz des Regimes, war die zentrale Parole jener politischen Bewegungen, die Ende 2010 zunächst Tunesien, dann Ägypten und schließlich weitere Länder Nordafrikas und Westasiens erfassten. Dazu gehörten neben den beiden genannten im Wesentlichen Syrien, Bahrain, Libyen und der Jemen; in vielen anderen Ländern wie Jordanien, Marokko oder dem Oman fanden kleinere Proteste statt.

In Tunesien war es die Selbstverbrennung des Straßenhändlers Mohamed Bouazizi im Dezember 2010, die die Proteste gegen die Regierung auslöste: Mitte Januar 2011 verließ der autokratisch regierende Präsident Zine el-Abidine Ben Ali das Land in Richtung Saudi-Arabien.

Am 25. Januar begannen die Proteste in Ägypten, ab Februar wurden sie von Streiks begleitet, an denen sich Hunderttausende von Arbeiter*innen beteiligten. Am 11. Februar 2011 trat Staatschef Husni Mubarak zurück, ein Militärrat übernahm die Regierungsgeschäfte.

In Bahrain gelang der Regimesturz nicht. Hier wurde der revolutionäre Prozess von außen erstickt, als Mitte März 2011 saudische Truppen in das Land einmarschierten und kurz darauf im Verein mit der bahrainischen Armee mit brutaler Gewalt gegen oppositionelle Demonstrant*innen vorgingen.

Im Jemen und in Libyen gelang es zwar, die jeweiligen Machthaber zu stürzen, die Aufstandsbewegungen mündeten jedoch in Bürgerkriege, bei denen sich in wechselnden Bündnissen Teile der alten Regime mit opportunistischen Gruppen der Aufstandsbewegung verbanden. Die beiden bis heute anhaltenden Konflikte sind zudem verbunden mit massiven internationalen Interventionen.

Die wohl größte Tragödie ereignete sich in Syrien. Inspiriert von den Ereignissen in Tunesien und Ägypten hofften die Menschen hier, das Regime des damals bereits über 40 Jahre herrschenden Assad-Clans zumindest zu politischen und sozialen Reformen bewegen zu können. Dieses reagierte von Beginn an mit brutaler Härte und setzte die Armee gegen die Demonstrant*innen ein, mehrere Hundert Menschen wurden bereits in den ersten Monaten der Protestbewegung getötet.

Arabischer Thermidor

Die revolutionären Bewegungen in Westasien und Nordafrika ab 2010 waren der Ausdruck einer tiefen Krise und einer Blockierung der politischen und ökonomischen Entwicklung. Besonders betroffen davon waren junge Menschen. Sie waren es auch, die die Bewegung trugen und das Bild der vielen Proteste und Demonstrationen prägten.

Ungefähr ab dem Jahr 2013 kam der revolutionäre Prozess zum Erliegen; eine Welle reaktionärer Restauration erfasste die Region.

Diejenigen Kräfte, die die Protestbewegungen initiiert hatten – die Jugend, Arbeiter*innen, Intellektuelle -, waren politisch und organisatorisch nicht in der Lage, im revolutionären Prozess eine Führungsrolle zu übernehmen. Andere Kräfte mit eigenen Zielvorstellungen schlossen sich der Bewegung an und übernahmen schließlich die Führung; insbesondere galt dies für Organisationen, die der Muslimbruderschaft nahestehen. (1)

In Ägypten wurde die politische Arena zunehmend von einer Auseinandersetzung zwischen Vertreter*innen des alten Regimes auf der einen und Anhänger*innen der Muslimbrüder auf der anderen Seite beherrscht. Diese Situation verschärfte sich, als im Juni 2012 Mohammed Mursi von der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (eine Gründung der Muslimbruderschaft) zum Präsidenten gewählt wurde. Mursis autoritäre Tendenzen, aber auch die desolate Wirtschaftslage führten zu neuen Protesten. Am 3. Juli 2013 putschte das Militär unter Führung des Militärratschefs Abd al-Fattah al-Sisi. Al-Sisi, der knapp ein Jahr später zum Präsidenten gewählt wurde, hat seitdem ein Regime etabliert, das an Brutalität und Unterdrückung weit über seine Vorgänger hinausgeht. Ökonomisch setzt die al-Sisi-Regierung konsequent die Forderungen des Internationalen Währungsfonds um, was zu einer weiteren Verarmung großer Teile der Bevölkerung geführt hat.

In Syrien reagierte das Regime von Anfang an mit gnadenloser Härte und setzte die Armee und Geheimdienste gegen friedliche Demonstrant*innen ein. Als Antwort darauf bildete sich aus Zivilist*innen und desertierten Soldaten die Freie Syrische Armee (FSA), der es zunächst tatsächlich gelang, die Armee des Regimes aus Teilen des Landes zu vertreiben. Der Mangel an finanzieller und militärischer Unterstützung sowie das Fehlen einer einheitlichen militärischen und politischen Führung schwächten die FSA jedoch nachhaltig. An ihre Stelle traten vielfach islamisch geprägte Milizen, die von Saudi-Arabien und den Golfstaaten finanziert wurden.

Auf der anderen Seite erhielt das Assad-Regime ab 2013 Unterstützung von der libanesischen Hisbollah und dann auch unmittelbar von den iranischen Revolutionsgarden. Zugleich entbrannte ein gnadenloser Krieg gegen die Zivilbevölkerung statt, bei dem Fassbomben und Chemiewaffen zum Einsatz kamen. Diese Politik der verbrannten Erde wurde fortgesetzt, als ab 2015 auch Russland auf der Seite des Regimes in den Krieg eintrat. Russische Kampfbomber bombardierten in der Folgezeit nicht nur oppositionelle Milizen, sondern auch Schulen und Krankenhäuser. Eine besondere Situation entstand im Nordosten des Landes, wo es der kurdisch dominierten Verwaltung mit einer Politik wechselnder Bündnisse gelang, eine Art Autonomiegebiet zu errichten. Heute sind etwa 13 Millionen Syrer*innen auf der Flucht, die Hälfte davon sind Binnenflüchtlinge. Die Zahl der Toten wird auf 400.000 bis knapp 600.000 geschätzt.

In Tunesien kam es nach 2010/11 tatsächlich formal zu einer politischen Demokratisierung. Eine wichtige Rolle spielte hierbei der Gewerkschaftsdachverband UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail). Nachdem die nach der Revolution gebildete Verfassunggebende Versammlung im Dezember 2014 ihre Arbeit beendet hatte, wechselten einige mehr oder weniger kurzlebige Regierungen aus Islamisten, Vertreter*innen des alten Regimes und Technokrat*innen einander ab. Teile der Opposition, darunter auch die UGTT, wurden kooptiert. Der IWF hat Tunesien ein striktes Sparprogramm auferlegt, 2019 waren über 36 Prozent der jungen Tunesier*innen arbeitslos. Fast scheint es so, als sei das Land nach zehn Jahren wieder an den Ausgangspunkt von 2010 zurückgekehrt.

Die zweite Welle ab 2018: Revolutionäre Bewegungen

Revolutionäre Prozesse setzen sich fort, solange die ihnen zugrundeliegenden Widersprüche fortbestehen. Selbst wenn es gelingt, das eine oder andere autokratische Regime abzusetzen: Die politische Revolution bleibt ohne eine soziale Revolution immer unvollständig. Daher ist es kaum verwunderlich, dass im Dezember 2018 mit dem sudanesischen Aufstand in Westasien und Nordafrika eine zweite Welle der revolutionären Erhebungen begann. Bereits im Juni desselben Jahres war die jordanische Regierung nach Protesten gegen die von ihr verhängten Sparmaßnahmen zurückgetreten. Es folgten im Februar 2019 der algerische Aufstand und seit Oktober 2019 massive soziale und politische Proteste im Irak und im Libanon.

Die zweite Welle unterscheidet sich von der ersten. Einer der auffälligsten Unterschiede ist, dass islamistische Bewegungen diesmal so gut wie keine Rolle spielen. Dies liegt schlicht daran, dass Islamisten überall Teil der bekämpften Regime waren oder eng mit ihnen kooperierten. Die Forderungen und Themen dieser neuen Bewegungen unterscheiden sich indes nicht wesentlich von jenen der Jahre 2010/11. Nach wie vor geht es um Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Allerdings haben die Protagonist*innen auch Lernprozesse durchlaufen. Insbesondere Fragen der (Selbst-)Organisation spielen immer wieder eine wichtige Rolle.

Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung im Sudan. Hier hat die Bewegung eine Führung in Form der Sudanese Professionals Association (SPA). Allerdings ist die SPA nicht eine Führung im Sinne einer Partei, sondern ein breites Netzwerk, das einige Jahre im Untergrund existierte und sich mit dem Aufstand vom Dezember 2018 zu einer Vereinigung der Gewerkschaften und Berufsverbände aller Schlüsselsektoren entwickelte. Zurzeit wird das Land von einem Übergangsrat regiert, in dem Vertreter*innen der Aufstandsbewegung neben dem Militärkommando vertreten sind – eine Situation der Doppelherrschaft, in der sich auf Dauer eine der beiden Seiten gegen die andere durchsetzen wird.

Der Ausbruch der COVID-19-Pandemie führte zunächst zu einem Stillstand der neuen Mobilisierungen. Die autokratischen Regime nutzten dies oftmals zu einem Zurückdrängen der Bewegung, einer weiteren Verschärfung der Repression und der autoritären Kontrolle. Zugleich gibt es in der jungen Generation eine große Unterstützung für die Protestbewegungen; viele sind der Überzeugung, dass die Proteste sich auch in naher Zukunft fortsetzen werden. Man kann daher davon ausgehen, dass die Pandemie nur zu einem Aussetzen der Bewegung, nicht aber zu ihrem Ende führen wird.

Harald Etzbach

ist Historiker und Politikwissenschaftler und unter anderem Redakteur beim Westasiendossier der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Bei dem Text handelt es sich um eine gekürzte Fassung des Vorwortes der Broschüre »Ich bin die Anführer*in der Revolution. Aufbruch und soziale Proteste in Westasien« der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die Broschüre kann über die Webseite der Stiftung bestellt werden.

Anmerkung:
1) Die Ende der 1920er Jahre in Ägypten gegründete islamistische Organisation hat Ableger in vielen arabischen Ländern und stand dort oftmals in Opposition zu den herrschenden Regimes.

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