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|Thema in ak 655: Kosmonismus

Anarchos im All: die Biokosmisten

Von Bini Adamczak

Die Sunna, wie sie in dieser Gegend der Welt vor etwa tausend Jahren noch genannt wurde, bildet das Zentrum unseres Sonnensystems. Sie beinhaltet 99,86 Prozent der gesamten Masse dieses Systems. Unser Sonnensystem ist Teil der Milchstraße, in deren äußerem Drittel es liegt. Es ist eines von 100 bis 300 Milliarden Sonnensystemen dieser Galaxie, die sich mit einem Durchmesser von etwa 100.000 Lichtjahren im Universum ausdehnt. Unser nächster Nachbar in der Milchstraße, der Rote Zwerg Proxima Zentauri, ist allerdings gerade mal vier Lichtjahre entfernt. Er wird ebenfalls von einem Planeten umkreist, dessen Mindestmasse ungefähr derjenigen der Erde entspricht und der prinzipiell als bewohnbar gilt.

2017 war das Jahr des hundertjährigen Jubiläums der Russischen Revolution. Sie beabsichtigte, wie es in der der Internationale heißt, eine Welt zu schaffen, in der die Sonn‘ ohn‘ Unterlass scheint. Die Sowjetunion, die aus der Revolution hervorging, wurde nie zu der Union der Räte, die sie zu sein behauptete. Aber sie enthielt, vor allem in ihren ersten Jahren, noch die Möglichkeit hierfür.

Die Revolution, die vor mehr als 100 Erdenjahren den Globus erschütterte, setzte ungesehene Begierden und Fantasien frei. Gruppen wie die Biokosmisten, die aus dem russischen Anarchismus stammen, forderten die Kollektivierung der Zeit. Die Abschaffung der privatisierten Lebenszeit bedeutete zugleich die Überwindung des individuellen Todes. Dieses Denken entsprang nicht nur einem Wunsch, es war auch die zwingende Konsequenz einer logischen Gleichung. Wenn Sozialismus die zukünftige Gesellschaft war, die Ausbeutung abschaffte, dann durfte sie nicht auf den Anstrengungen vergangener Sozialistinnen beruhen. Sofern diese Kämpferinnen der Vergangenheit nicht in den Genuss der sozialistischen Gesellschaft kämen, für die sie selbst gekämpft hatten, würde der Sozialismus nämlich auf der Ausbeutung der Vergangenheit durch die Zukunft fußen. Er wäre kein Sozialismus.

Die einzige Möglichkeit, diesen Widerspruch befriedigend aufzulösen, bestand darin, alle Menschen, zumindest alle, die jemals gegen Ausbeutung gekämpft hatten, wieder zum Leben zu erwecken. Damit bekäme die Erde jedoch ein Platzproblem, weswegen die Besiedlung des Weltalls notwendig würde. Die kommunistische Gesellschaft, die angestrebt wurde, war eine interplanetare, interstellare oder sogar intergalaktische.

Vier Lichtjahre zum nächsten Stern. Angesichts der Weite des Weltraums werden Menschen immer wieder von dem Wunsch befallen, die Grenzen ihres Planeten auszuwischen und die Einsamkeit des Lebens darin zu teilen. Warum auch nicht?

Bini Adamczak

ist Autorin mehrerer Bücher zu Kommunismus und seiner stalinistischen Verformung. Zuletzt erschienen von ihr »Beziehungsweise – Revolution. 1917, 1968 und kommende« im Suhrkamp Verlag und »Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman« bei edition assemblage.