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|Thema in ak 654: Neue Bewegungen

Beziehungsweise Aufstand

Um die Subjektivität der globalen Revolten zu begreifen, hilft linke Klassenkampfnostalgie nicht weiter

Von Mario Neumann

Das Foto von der Mapuche-Flagge auf der Statue eines chilenischen Generals, aufgenomen bei der 1-Millionen-Menschen-Demonstration in Santiago de Chile am 25. Oktober 2019, ist das ikonische Bild des chilenischen Aufstands. Foto: Susana Hidalgo / Twitter

Sieht man einmal von Haiti ab, wäre es falsch zu behaupten, dass die globalen Aufstände des Jahres 2019 von der deutschen Öffentlichkeit verschwiegen worden wären. Hongkong, Sudan, Ecuador, Irak, Libanon, Chile, Ägypten, Algerien, aber auch Frankreich: Man erfährt zuverlässig, dass eine weit geteilte Unzufriedenheit sich in Massenbewegungen übersetzt. Fragezeichen gibt es jedoch wenige. Der Aufstand: ein letztlich ganz normaler Vorgang, der keiner weiteren Erklärung bedarf – außer vielleicht einer näheren Betrachtung der zugrunde liegenden Missstände? Braucht es keine theoretische Diskussion, warum fast zeitgleich neue Aufstandsbewegungen die Bühne der Politik betreten? Und ist es selbsterklärend, dass viele die Form der führungslosen Demokratiebewegungen annehmen – und dass die Bilder, die sie erzeugen, an die Revolten von 2011 erinnern? Und zu guter Letzt: Haben die Ereignisse eigentlich eine Bedeutung für die Diskussionen hierzulande, oder sind sie nur Geschichten aus einer anderen politischen Welt?

Diese Fragen müsste sich zumindest die Debatte der Linken stellen, die seit Jahren um die Frage kreist, welche Politik im Angesicht der multiplen Krise und ihrer autoritären, rechten Beantwortung erforderlich ist. Es gab bereits viele Vorschläge: Von einem »neuen Linkspopulismus« war die Rede, häufiger noch von einer »neuen Klassenpolitik«. Stets ging es um die Frage, wie eine Linke beschaffen sein müsste, damit die Menschen (wieder) links statt rechts werden – oder zumindest wählen.

Klassenpolitik?

Die deutsche Diskussion hat ein ernüchterndes Ergebnis: Letztlich müsse linke Politik die materielle Lage und die daraus resultierenden Interessen der unteren Klassen wieder zu ihrem zentralen Bezugspunkt machen. Die Rückbesinnung auf Tugenden, die in Wahrheit seit Jahrzehnten im Zentrum linker Partei- und Gewerkschaftspolitik stehen, soll die Antwort auf die Schwäche linker Politik sein. Hier treffen sich linksradikale und gewerkschaftliche Positionen in einem oft ökonomistischen Menschenbild und in einer viel zu simplen Analyse, die letztlich versucht, Politik zu suspendieren.

In einer starken Variante wird ein Klassenreduktionismus neu aufgelegt, in dem die ökonomische Situation jedes politische, kulturelle und soziale Phänomen erklären soll, und in dem ökonomische Ungleichheit letztlich das einzige gesellschaftlich relevante Phänomen ist. Die Rückbesinnung auf objektiv bestimmbare Klasseninteressen ist hier das Ziel linker Praxis. In der schwachen Variante wird zumindest darauf bestanden, dass die politische Linke am Vorbild des Klassenkampfs (durch verbindende, antirassistische, ökologische, feministische Klassenpolitik) erneuert werden muss. Letztlich wird behauptet, dass sich politische Praxis am Modell der Gewerkschaftlichkeit orientieren solle, an einem möglichst allgemeinen, möglichst homogenen Interesse, das den kleinsten gemeinsamen Nenner für ein einheitliches politisches Subjekt liefert: Sind wir nicht fast alle Mieter*innen, Lohnabhängige, Prekarisierte? Das muss nicht immer falsch sein, wie die wichtigen Erfolge der Mieterbewegung zeigen. Trotzdem liegen die Formen, in denen sich die Massenbewegungen der letzten Jahrzehnte artikulierten, quer dazu.

Demokratie

Die neuen Aufstände haben nicht viel zu tun mit den antiquierten Bildern von Klasse und Interesse, sie überschreiten sie von Anfang an. Das zeigt sich einerseits in der Zentralität der Demokratiefrage, andererseits in der Art und Weise, wie sich das Gemeinsame bildet. Die Aufstände haben zum Teil fast abwegige Auslöser, die die Härte des täglichen Überlebens symbolisieren und doch von jeder gewerkschaftlichen oder betrieblichen Begrenzung befreit sind. Sie artikulieren, zum Beispiel in Chile, eine ganzheitliche Erfahrung eines enteigneten Lebens, den Zusammenhang aus Schulden, Löhnen, Mieten, Gesundheit, Bildung und vielem mehr. Es geht nicht bloß um Ausbeutung und Umverteilung, es geht um Herrschaft und Emanzipation. Es geht um das politische Kommando über das Leben, um die moralische Ökonomie der Schulden, um patriarchale Gewalt und Arbeitsteilung, um Staatsbürgerschaft und autoritäre Politik.

Darin öffnen sie sich ganz unterschiedlichen Realitäten und den mit ihnen verbundenen Subjekten: Frauen, Migrant*innen, Indigenen, jungen Menschen, Arbeiter*innen, Prekären. Die Regierungspolitiken und die Rolle des Staates im Neoliberalismus stehen im Zentrum der Aufstände: Der Staat hat sich nicht aus den politischen und ökonomischen Prozessen zurückgezogen und die Menschen dem Marktgeschehen überlassen. Er ist zentraler Akteur einer ökonomischen und politischen Macht, die sich auf die immer schamlosere Ausbeutung, Enteignung und Disziplinierung der Bevölkerungen richtet. Deswegen ist eine Forderung überall zentral: Es geht um Demokratie. Und Demokratie ist auch Teil der inneren Struktur der Aufstände, die etwas ganz anderes sind als die Versammlung einer homogenen Masse hinter einer politischen Forderung.

Die Aufstände sind weder dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen Politik zugunsten eines einheitlichen Interesses abwesend ist, noch dadurch, dass sie irgendeine Form der Vereinheitlichung der sozialen Welt vorschlagen würden. Die Menge muss nicht durch bewusstseinsbildende Maßnahmen von ihren gemeinsamen Interessen überzeugt, auf diese reduziert und in eine Klasse umgewandelt werden, um dann wiederum von linken Organisationen angeführt zu werden. Die Menge betritt unmittelbar die Bühne der Politik: In ihrer Unterschiedlichkeit sucht sie das Gemeinsame, das kollektive Potenzial – nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner. Gerade deswegen wird sie zu einer politischen Kraft, die zum Teil binnen Stunden eine sich für stabil haltende Herrschaft erschüttert. Die Revolten gegen Whatsapp-Abgaben, U-Bahn-Preiserhöhungen oder Treibstoffsteuern wurden ebenso schnell zu einem Akt der Entfesselung all der individuellen und kollektiven Potenziale, die im täglichen Überlebenskampf keinen Platz haben, diszipliniert werden, verkümmern. Die Vielfalt der Menge wird nicht reduziert, sie explodiert.

Multitude

Die Unfähigkeit der hiesigen Debatte, diese Erfahrungen ernstzunehmen, ist ein Symptom des gleichen Problems, das sich schon in der Hilflosigkeit zeigte, die Bewegungen des Feminismus und der Migration in ihrer Bedeutung für die Linke zu entschlüsseln. Es fehlt an einem theoretischen Verständnis für all die Affekte, Leidenschaften, Begehren, die nicht im interessenpolitischen Denken aufgehoben sind – und für die Bedeutung alternativer sozialer Beziehungen, aus denen das Gemeinsame entsteht.

Ein Beispiel aus Lateinamerika: Am 12. Oktober, wenige Tage vor dem Ausbruch des chilenischen Aufstands, demonstrierten bereits hunderte Mapuche in Santiago de Chile für mehr Rechte. Die Mapuche sind die größte indigene Gruppe in Chile, die immer wieder extremer staatlicher Repression und Entrechtung ausgesetzt ist. Seit den Aufständen weht ihre Fahne auf den Plätzen des Landes, unter anderem auf dem Foto eines besetzten Denkmals, das um die Welt ging.

Das Foto hat weit mehr als symbolische Bedeutung. Es erinnert an eine theoriegeschichtliche Entwicklung: In den fruhen 2000er Jahren besaß in Lateinamerika das bolivianische Kollektiv Comuna großen Einfluss auf die Erneuerung sozialer Bewegungen. Konfrontiert mit der Rolle der Indigenen in den Kampfen am Beginn des Jahrhunderts, stellte sich Comuna die Aufgabe, die neue Zusammensetzung der »Strukturen des Aufstandes« auf den Begriff zu bringen. Seit der Revolution von 1952 waren diese Strukturen gepragt durch die hegemoniale Rolle der Arbeiterbewegung und der Bergmänner, die um sich herum ein »national-populares Feld« organisiert hatten. Die neoliberalen Politiken hatten jene Hegemonie in Frage gestellt: Sie hatten die Arbeiterbewegung zwar nicht endgultig besiegt, aber, so die Analyse von Comuna, andere Subjekte ins Zentrum des okonomischen und politischen Lebens geruckt – von den informellen Arbeiter*innen bis zu den Trager*innen der gemeinschaftlichen Okonomien auf dem Land und in den urbanen Peripherien.

Um die neue Zusammensetzung der Kampfe zu definieren, die verschiedene Zeitschichten und historische Antagonismen kombinierte (bis hin zur Zeit des Kolonialismus), benutzten die Mitglieder von Comuna den Begriff der »Multitude«. Vielleicht sollten wir ihn wieder entdecken. Hier gab es Hinweise auf den untrennbaren Zusammenhang des Kampfes um Demokratie und soziale Rechte, gegen Sexismus und Rassismus. Und es gab einen Hinweis auf eine Theorie der Subjektivität, die deutlich näher an den Bildern aus Santiago, Paris oder Hongkong liegt als jene politische Nostalgie, die auf die Rückkehr einer Subjektivität des letzten Jahrhunderts hofft. Dann könnte die Frage diskutiert werden, warum die Gewerkschaft heute kein Modell und kein Vorbild für feministische und migrantische Kämpfe mehr ist, sondern im Gegenteil diese Kämpfe ein Hinweis darauf sind, wie eine Gewerkschaft der Zukunft aussehen müsste. Denn dass die »Struktur des Aufstands« nicht die Frage nach einer politischen Strategie erledigt, haben die Erfahrungen von 2011 schmerzlich gezeigt.

Mario Neumann

arbeitet in der Öffentlichkeitsabteilung von medico international.