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»Uärghs, bei solchen Typen kotze ich!«

Wir haben die Serie »Wir sind die Welle« mit echten Aktivist*innen geschaut

Von Jan Ole Arps und Kornelia Kugler

"Die haben ja gar keinen Aktionskonsens!" Aktivist*innen beim "Wir-sind-die-Welle"-bingewatchen (Szene nachgestellt).

Seit November ist die Serie »Wir sind die Welle« über eine Handvoll Schüler*innen, die sich zu einer politischen Aktionsgruppe zusammenschließen, auf Netflix zu sehen. Rechte Medien wie die Junge Freiheit schäumen (»linksgrüne Propaganda«), in bürgerlichen Zeitungen wird die »Welle« als Begleitmusik zu Fridays For Future beschrieben oder als wichtiger Hinweis an die Jugend, dass Radikalität der falsche Weg sei (ze.tt), eingeordnet. Aber was denken echte Aktivist*innen über »Wir sind die Welle«? Wie realistisch sind die gezeigten Aktionen? Um das herauszufinden, haben wir unsere guten Kontakte in die linksradikale Szene aktiviert und zum Videoabend eingeladen.

Berlin-Kreuzberg, Ende November, die Aktivist*innen trudeln ein. Da ist Sina, 25, aktiv bei Ende Gelände, sie hat sich kurz vor der Abfahrt in die Lausitz Zeit für diesen Videoabend genommen. Genauso Johnny, 18, der Anfang des Jahres von Fridays For Future zu Ende Gelände gewechselt ist und außerdem qua Alter über exklusive Einblicke in die Psyche der Jugend verfügt. Auch Meike ist gekommen, seit über 20 Jahren in der Antifa aktiv und folglich mit jeder Art legaler und illegaler Aktionen vertraut. Und schließlich Nina, 35, von der Aktionsgruppe Peng!, bei denen die Serienmacher*innen hemmungslos abgekupfert haben – doch das weiß sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

»Wir sind die Welle« ist die vierte deutsche Netflix-Produktion, die erste, die sich explizit an Jugendliche richtet. Die Sechs-Episoden-Serie basiert lose auf dem als Unterrichtsstoff beliebten Roman »Die Welle« von Morton Rhue (1981). Der Roman fiktionalisiert das »Third Wave«-Sozialexperiment, mit dem ein Lehrer in den USA 1967 Schüler*innen das Entstehen einer faschistoiden Massenbewegung nahebringen wollte. 2008 erschien die deutschsprachige Verfilmung des Buchs. Dennis Gansel, der schon beim Film Regie führte, ist auch Produzent von »Wir sind die Welle«. Was das Team in Zeiten von AfD, NSU und Co. geritten hat, den Stoff »auf links zu drehen«, bleibt ihr Geheimnis. Vor allem, da die beiden Erzählungen bis auf den Handlungsort (Schule) und das Logo (Welle) nicht viel gemeinsam haben.

Aber wir wollen nicht vorzeitig meckern. Wir machen es uns also mit Sekt und Bier gemütlich, es geht los. (Achtung, ab jetzt wird gespoilert.)

Wie weit würdest du gehen?

Die erste Folge beginnt mit einer Aktion gegen die NfD: Der unsympathische Vorsitzende der rechtsextremen Partei, die »entfernt« an die AfD erinnert, wird mit einem aufs Rednerpult geschmuggelten Getränk betäubt und dann im Backstage von fünf Maskierten eingesammelt – was sie mit ihm vorhaben, erfahren wir noch nicht, aber dass sich etwas zusammenbraut, ist klar. »Der Nazi heißt Bernd – ein Punkt für die Serienmacher«, lobt Meike. »Wie weit würdest du gehen? Was würdest du riskieren? Für deine Ideale, deine Freunde, die Liebe, die Zukunft?« fragt uns eine Stimme auf düsteren Elektrobeats.

Dann blendet die Serie erstmal zurück. Wir begleiten den Helden Tristan, einen extrem gut aussehenden Dropout-Typen, durch seinen ersten Tag an der neuen Schule in Meppersfeld, einer fiktiven Kleinstadt irgendwo zwischen Südniedersachsen und Rheinland-Pfalz. Er läuft über den Schulhof und castet binnen 15 Minuten die Crew von Underdogs zusammen, mit der er in Aktion treten will: Zazie, ein schüchternes Mädchen, das von Mitschüler*innen als »Psycho« gemobbt wird (»Du musst zurückschlagen, sonst hören sie nie auf«, rät ihr Tristan); Hagen, ein Bauernsohn, dessen Eltern vor dem Ruin stehen, weil die Abwässer der örtlichen Papierfabrik ihre Äcker verseuchen; Rahim, Sohn libanesischer Einwanderer, der Stress mit Nazis hat und auf dessen Elternhaus ein gieriger Immobilienhai ein Auge geworfen hat. Apropos Auge: Ein Auge auf Tristan hat zu diesem Zeitpunkt auf jeden Fall schon Lea geworfen, eine von dauernden Social Media Notifications, den wohlhabenden Eltern und ihrem Tennislehrer-Boyfriend gelangweilte Musterschülerin, in deren Leben sich dringend etwas ändern muss.

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Schon die ersten Szenen lösen Stirnrunzeln in der Jury der Aktivist*innen aus. Tristan war früher in der Hamburger autonomen Szene aktiv, spricht fließend arabisch, und seine Bomberjacken-Jogginghosen-Kombi ist cooler als alles, was klamottenmäßig bis dato in Meppersfeld gesichtet wurde. Er strotzt vor Selbstbewusstsein und empowert binnen weniger Minuten seine neuen Anhänger*innen. »Uärghs, bei solchen Typen kotze ich! So frustrierend, dass ein weißer Dude kommen muss, um die Außenseiter zum Leben zu erwecken«, kommentiert Sina. »Leider gibt es diese Politmacker echt.«

Tristan und Isolde

So gutaussehend und smart Tristan und Lea als Anführer*innen-Traumpaar gezeichnet werden, müssen die anderen Protagonist*innen auch optisch zu ihren Rollen passen, wie Hagen, der Bauernsohn im Wollpulli. Fazit: »Platter geht’s wohl kaum.« Kritisiert wird, dass die Charaktere komplett eindimensional und nur geprägt und motiviert von ihren jeweiligen Schicksalen sind, das typische funktionalistische Stereotypenstadl, wie es im deutschen Fernsehen üblich ist. Die einzig »Rationale« in der Gruppe ist die bürgerliche Lea, die schlussendlich die »Welle« von der gefährlichen Zelle zurück zur friedlichen Massenaktion führt.

Aber zurück zur Handlung: Als Rahim weiter von den Dorfnazis bedrängt wird, stiftet Tristan ihn und Hagen an, das Auto der Nazis zu zertrümmern. »Aber doch nicht am helllichten Tag, ohne Vermummung!« und »Oh Gott, die haben ja gar keinen Aktionskonsens« sind die Reaktionen der Profis. »Geplant« werden die weiteren Aktionen so, dass jede*r etwas sagen kann, was sie*ihn stört: sexistische Werbung, Umweltverschmutzung, dicke SUVs oder eben die eigene Zwangsräumung – das sind dann die Aktionsziele. Als es nach einer Aktion Knatsch gibt, scheißt Tristan Rahim an: »Du kannst jetzt nicht aufhören, wir haben das nur für dich und deine Familie gemacht!« Dieses Verständnis von politischer Arbeit löst Kopfschütteln bis Betroffenheit bei Sina und Johnny aus: »Wo bleibt die Analyse?« Wobei. Nina gibt zu Bedenken, dass Naivität ein guter Ausgangspunkt sein kann. Oft hätten sie es bei Peng! auch so gemacht, dass jede*r Themen vorschlagen kann, um sich nicht in endlosen Programmdiskussionen zu verlieren. »Aber das unterscheidet auch ein Aktionskollektiv von einer politischen Organisierung.« Diesen feinen Unterschied haben die Serienmacher*innen eindeutig nicht bedacht.

Jetzt will ich schon zu Ende schauen, wie bei einem Unfall, wo man nicht wegsehen kann.

Nina (Peng!)

Trotz des verunglückten Starts bingen wir weiter: »Jetzt will ich schon zu Ende schauen, wie bei einem Unfall, wo man nicht wegsehen kann«, fasst Nina die Stimmung vorm Fernseher treffend zusammen.

Vor allem bei den vielen Aktionen ab Episode 2 bessert sich die Laune: Erst wird teure Mode geklaut und an Bedürftige verteilt, dann Plastikmüll im Supermarkt skandalisiert, bald wird es ambitionierter: Der Chef der Papierfabrik bekommt ein Bad in seinen Giftabwässern verpasst (»Geht nicht, aber geil!«, ist sich die Jury einig), eine SUV-Präsentation im Autohaus wird in ein rauchendes Inferno verwandelt (»Das könnte funktionieren«, meint Nina, »aber krass professionell verkleidet, sowas kostet richtig Geld und viel mehr Vorbereitung«), Horst Bernd, der Vorsitzende der NfD, wird betäubt, entführt und in Naziuniform im städtischen Museum ausgestellt (»Lol, unmöglich!«). Als vorläufiger Höhepunkt schleust die Gruppe Tristan als Redner auf einem Dinner des Immobilienverbands ein und bringt das reiche Publikum dazu, ihre Verachtung für die Armen herauszubrüllen, anschließend servieren verkleidete Co-Mitglieder der Welle das zuvor mit Heuschrecken präparierte Buffet – der Kongress versinkt im Chaos.

Nie vergisst die Welle, Videos von der Aktion zu machen und alles schön ins Netz zu stellen. »Dass die Aktionen gut dokumentiert werden, macht Sinn«, befindet Nina. Allerdings scheinen Sicherheitsfragen keine Rolle zu spielen. Die Gruppe filmt und lädt hoch, was das Zeug hält, nimmt Handys mit auf jede Aktion und telefoniert währenddessen munter miteinander – die Polizei kommt ihnen trotzdem nicht auf die Schliche. Na egal, ist halt Fernsehen. Verziehen.

Haben die Serienmacher bei Peng! abgekupfert?

Weniger leicht verziehen ist, dass die Serienmacher*innen gnadenlos von Peng! abgekupfert haben. Die Plastikaktion sieht eins zu eins aus wie ein Peng!-Video, das zum Supermarktklau aufruft; der Auftritt beim Immobilienverband ähnelt frappierend einer Peng!-Aktion gegen Waffenproduzenten, aber könnte natürlich auch von den Yes Men abgeschaut sein.

Bleiben wir einen Moment bei der Immobilienaktion, auf der Tristan als Redner auftritt. »Sowas funktioniert überraschend gut«, erklärt Nina. »Wenn du ordentlich recherchierst und dich schick anziehst, kannst du echt weit kommen. Sobald du das Mikrofon hast, glauben dir die Leute fast alles, dann hast du locker zwei, drei Minuten, bis jemand den Ton abstellt.« Aber klar ist auch: Die gezeigten Aktionen würden lange Planung und eine Menge Geld erfordern. Schön, dass sich die Welle-Crew darum keine Gedanken machen musste. Auch die Flucht über die Autobahn mit der (Spoiler:) angeschossenen Lea und ein Autodiebstahl erhalten nur das Prädikat »naja«. Das Fluchtauto wenige Meter von der eigenen Wohnung entfernt abzufackeln, überzeugt Meike jedenfalls nicht.

Während wir noch die Aktionen diskutieren, steuert die Serie aufs Finale zu. Tristans Plan war von Anfang an, die Gruppe für die Sprengung der Waffenfabrik Hacke & Abt einzuspannen. Hierfür lässt er sich von Hamburger Autonomen eine fertige Bombe liefern – die autonomen Lieferant*innen sind derart realitätsferne Gangsterabziehbilder, dass sich jeder Kommentar erübrigt. In der Waffenfabrik kommt es schließlich zum Showdown. In letzter Minute tritt Lea auf den Plan, bringt die Gruppe davon ab, die Fabrik in die Luft zu jagen, und verwandelt das Ganze in ein Besetzungs-Happening im Extinction-Rebellion-Look. Die Presse berichtet – ein voller Erfolg. Das überzeugt dann auch Tristan, der endlich von seinen radikalen Rachefantasien geheilt ist (auch er hat ein schweres Schicksal …).

»Wäääh, was für ein Scheiß-Ende!« resümiert Meike. »Und generell viel zu pathetisch.« Johnny ist ebenfalls unzufrieden: »Die Serie sagt doch: Radikale Aktionen sind scheiße, aber wer brav kreativ protestiert, kann was bewirken. Die springen von Thema zu Thema, als hätte alles nichts miteinander zu tun. Und die autonome Szene instrumentalisiert Leute, die eigentlich nur Gutes im Sinn haben. Da das in meiner Altersgruppe echt viele schauen, ist das schon traurig.« Auch über die Verharmlosung von Polizeigewalt ist Johnny alles andere als amüsiert.

Richtig tief in die Scheiße greifen die Serienmacher*innen auch mit einer Anleihe beim NSU: In den ersten Folgen fährt die Welle-Crew mit einem alten Wohnmobil zur Aktion – »epic fail«, urteilt Johnny. Aber das war bei der Rechts-Links-Schwäche der Produzent*innen vielleicht zu erwarten.

Wenn sie es realistisch hätten machen wollen, wären vier der sechs Folgen Plenum gewesen.

Sina (Ende Gelände)

Auch Ninas Bilanz fällt kritisch aus: »Ein paar Sachen sind zufällig gut getroffen, die Darstellung der grün-bürgerlichen Familie von Lea zum Beispiel oder der Streit über die Führungsrolle in der Gruppe. Aber die wesentlichen Aspekte von Aktionen: Diskussion, Planung, die ganze Kommunikation, kommen nicht vor.« Sina stimmt zu: »Wenn sie es realistisch hätten machen wollen, wären vier der sechs Folgen Plenum gewesen.« Immerhin eines kann sie der Serie abgewinnen: »Man kriegt gezeigt, wie Bürgerliche denken, dass Bewegungen funktionieren.«

Jan Ole Arps

ist Redakteur bei ak.

Kornelia Kugler

ist Filmemacherin und Teil des queerfeministischen Filmkollektivs Systrar Productions.