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|ak 718 | Geschichte

Lumpen­sozialismus

Ein kriminologischer Blick auf die Geschichte der Bolschewiki

Von Slave Cubela

Schwarzweißaufnahme eines eingeschneiten Gebäudes mit vergitterten Fenstern, im Hintergrund steht ein Wachturm aus Holz
Eine zum sowjetischen Gulag-System gehörende Strafzelle eines Lagers in der Region Workuta. Das Bild entstand 1945. Foto: Russian State Archive, Moscow, Moscow (Російський Державний архів, Москва) - ausstellung-gulag.org/Wikipedia, CC BY-SA 3.0

Über die Bolschewiki ist viel geschrieben worden. So viel, dass es manchmal scheint, als ob hier alle Fragen längst geklärt seien. Dass dies ein Irrtum ist, zeigt sich aber, wenn man sich, wie der Autor – insbesondere um das krasse Scheitern des Staatskommunismus zu verstehen –, der dunklen Seite von Lenin & Co zuwendet. Oder genauer: Wenn bekannt ist, dass die Ereignisse ab 1917 einen Strom der Gewalt entfesselten. Inwieweit kann man die bolschewistische Geschichte im engeren Sinne als kriminell begreifen?

Um diese Frage zu beantworten, zunächst drei Beispiele. Da ist zum ersten der Aufstieg des Bolschewismus bis 1917. In vielen Darstellungen über diese Frühzeit wird überwiegend ideengeschichtlich argumentiert, werden Parteidynamiken verfolgt und die Autor*innen hangeln sich, so gut es geht, von einer vermeintlich wichtigen Debatte zur nächsten. Das ist alles bedeutsam, aber es irritiert, dass nur wenige Studien der »historisch-materialistischen« Frage nachgehen, mit welchen Geldressourcen die Bolschewiki ihr Leben und ihre Praxis finanzierten.

Pakt mit dem Teufel

Eine Ausnahme ist bis heute ein Aufsatz des US-Historikers Dmitry V. Shlapentokh, der mit einer Reihe erstaunlicher Einsichten aufwartet. Die wichtigste lautet: Wenn Lenin sagte, dass er auch Geld vom Teufel annehmen würde, um die Revolution wahrscheinlicher zu machen, dann kann man die Finanzierungsgeschichte der Bolschewiki bis 1917 als anhaltenden Pakt mit dem Teufel begreifen. Neben den bekannten »Expropriationen«, also vor allem Banküberfällen, kannten die Bolschewiki eine ganze Reihe anderer verbrecherischer Praktiken, um an Geld zu kommen. Sie versuchten Milliardäre durch Frauen zu Spenden zu verleiten. Sie setzten Gigolos ein, um junge Erbinnen in ihrem Sinne zu manipulieren. Sie übten sich durchaus erfolgreich als Piraten im Schwarzen Meer. Kindesentführung war eine Zeitlang für sie ein einträgliches Geschäft. Sie schreckten ebenso wenig vor der Unterschlagung des Geldes anderer linker Gruppierungen zurück wie vor Geldfälscherei.

Diese Bandbreite an Verbrechen ist in doppelter Hinsicht wichtig. Erstens: Wenn sich damals auch andere linke Gruppen z.B. durch Banküberfälle finanzierten, so gingen die Bolschewiki einen entscheidenden Schritt weiter, weil ihre Verbrechensspezialisten wie Stalin, Krasin oder Ter-Petrosjan sowie entsprechende Banden wie Stalins »Mob« besonders skrupellos agierten. Zweitens: erst durch ihre Finanzstärke wurde nicht nur die bolschewistische Kaderpartei möglich, da die Kader durch ein passables Gehalt motiviert blieben. Und da die Bolschewiki auch über mehr Geld als andere Linke verfügten, konnten sie leichter durch Zeitungsgründungen und hohe Auflagenzahlen an Einfluss gewinnen.     

Kriminelles Management

Das zweite Beispiel für die Bedeutung von krimineller Gewalt im Bolschewismus ist das Gulag-System. Auch wenn dessen Brutalität häufig zu einem Vergleich mit den NS-Lagern führt, so übersieht man dabei, wie sehr der Gulag im Gegensatz zur Menschenvernichtung als Zwangsarbeitsökonomie die Entwicklung der UdSSR bis hin zum Bau des ersten Atomreaktors sicherstellte. »Die Wirtschaftstätigkeit im Gulag war so mannigfaltig wie in der ganzen UdSSR«, schriebt die Historikerin Anne Applebaum und belegt dies, wenn sie aufzählt, was sich alles im Fotowerbealbum der Gulag-Zentrale als Gulag-Produkte abgebildet findet: »Minen, Raketen und andere Militärtechnik; Autoteile, Türschlösser und Knöpfe, Baumstämme, die flussabwärts geflößt werden; Holzmöbel, darunter Stühle und Schränke; Telefonzellen und Fässer; Schuhe, Körbe und Textilien (mit zahlreichen Mustern); Teppiche, Lederwaren, Pelzmützen und Ledermäntel; Gläser, Lampen und Krüge; Seife und Kerzen, sogar Spielzeug – hölzerne Panzer, kleine Windmühlen und Aufzieh-Hasen, die die Trommel schlagen.«

Wichtig ist: Zwangsarbeitsökonomien sind immer brutal, aber sie folgen dabei unterschiedlichen Logiken. Im Falle der US-Südstaaten wurde z.B. der Arbeitserfolg dadurch sichergestellt, dass private Plantagenbesitzer vor allem mit eigenen Aufsehern schwarze Sklav*innen zwangen, Baumwolle anzupflanzen und zu ernten. Im Falle des Gulag gab es diese privaten Unternehmer allerdings nicht. Zudem ging es um komplexere Arbeitsprozesse, verteilt über den größten Flächenstaat der Welt und um Arbeit in unwirtlichen Gegenden, die bis dahin unerschlossen waren. Dazu kommt: waren schon diese Voraussetzungen der sowjetischen Zwangsarbeitsökonomie herausfordernd, so war überdies bald klar, dass ein massiver Einsatz des sowjetischen Zwangsapparats zur Kontrolle des Gulags diesen auf Dauer unrentabel gemacht hätte.

Im Gulag-System spielte die sowjetische Verbrecherwelt eine tragende Rolle.

Die Lösung dieses Problems im Stalinismus ist unglaublich, aber der Historiker Mark Galleotti schreibt in einer beeindruckenden Studie dazu: »Die Antwort … bestand letztlich darin, die schlimmsten Elemente der Unterwelt als Agenten und Treuhänder zu kooptieren, um die 58er und 49er, die politischen Gefangenen bzw. Kleinkriminellen, unter Kontrolle zu halten und zu beschäftigen. Natürlich gab es immer noch Gefängniswärter, aber der Löwenanteil der Verwaltung der Gulag-Bevölkerung wurde an die Häftlinge aus der Unterwelt ausgelagert.« Um es betriebswirtschaftlich auszudrücken: Sollte der Gulag offiziell der sozialistischen Umerziehung durch Arbeit dienen, so wurde er im Laufe seiner Existenz zu einem riesigen industriellen Lager-Komplex, in welchem alsbald in einem Outsourcing-Prozess die sowjetische Verbrecherwelt eine tragende Rolle im mittleren Management spielte!

Failed State

Als drittes Beispiel lohnt es sich, in die Zeit nach 1953 zu blicken. Dabei sollte klar sein: Wenn ein Staat durch Willkür mehrere Millionen Menschen zur Zwangsarbeit in eine von Kriminellen mitdominierte Lagerwelt schickt, dann entsteht eine soziale Zeitbombe, weil die Häftlinge in einem solchen Gewalt-System abstumpfen, einen tiefsitzenden Hass auf Staat und Gesellschaft entwickeln, aber auch einfach von Kriminellen lernen. Entsprechend hatte die erste Öffnung der Lager nach 1953, als bis 1956 zunächst knapp 1,5 Millionen Häftlinge frei kamen, eine Reihe widersprüchlicher Konsequenzen. Die Verbrechenszahlen schnellten etwa in die Höhe, so dass viele Sowjetbürger*innen in wütenden Briefen an die Partei die Beibehaltung des »alten« Gulag forderten. Dieser »Bürgerzorn« schuf zudem Risse in der Gesellschaft, weil die vielen »kleinen Stalinisten« oft als Denunzianten vom Gulag profitiert hatten und nun den freigelassenen Opfern ihrer Linientreue im Alltag besonders aggressiv begegneten. Bemerkenswert ist aber auch, dass die Gulag-Subkultur systemoppositionelles Denken stärkte, indem Gulag-Lieder zu Gassenhauern wurden.

Doch die Öffnung des Gulag veränderte die UdSSR in einer weiteren Hinsicht: Mit ihr begann die Korruption innerhalb des Landes riesige Ausmaße anzunehmen. Dafür sorgten drei Entwicklungen. Erstens kam es zur Herausbildung eines neuen Verbrechertypus. Hatten die Kriminellen ihre Lager-Herrschaft bis in die 1940er Jahre hinein mit einem Ehrenkodex verknüpft, der ihre Zusammenarbeit mit dem Staat reglementierte, so entstand in vermutlich staatlich geschürten Gulag-Kriegen eine neue Verbrechergeneration, die bereit war, mit dem Staat eng zusammenzuarbeiten. Zweitens kam mit Leonid Breschnew eine Generation ermüdeter Stalinist*innen an die Macht.

Als Stalinist*innen war ihnen die Kooperation des Staates mit Dieben und Mördern in den Lagern des Gulag nicht neu und als Stalinist*innen sorgten sie auch dafür, dass der Gulag erhalten blieb. Gleichzeitig jedoch waren sie nicht nur bereit, den stalinistischen Würgegriff auf die Sowjetgesellschaft zu lockern, sie begannen ein elitäres Leben im Luxus zu suchen. Drittens schließlich sorgte die anhaltend ineffiziente Nutzung des Staatseigentums dafür, dass beste Voraussetzungen für das Wachstum einer Schattenwirtschaft schon da waren. Insbesondere im Bereich von Konsum- und Luxusgütern herrschte ein steter Mangel, so dass sich hier eine Kooperation zwischen Staat und Unterwelt etablierte. Kriminelle besorgten ausländische Waren und schmuggelten sie ins Land. Sie nutzten zudem Staatseigentum, um damit »planfremde« Produkte herzustellen oder einfach, um durch Verknappung Extraprofite zu generieren. Und gegen entsprechende Beteiligungen und Gefälligkeiten waren wiederum viele Parteifunktionäre und Polizisten bereit, ihre schützende Hand über all das zu halten.  

Es gab zwar Politiker*innen, Staatsanwälte und Journalist*innen, die sich gegen diese Entwicklung stemmten. Aber gerade die Erfolge dieser integren Kommunist*innen gegen die grassierende Kriminalität deckten eindrucksvoll auf, wie sehr die UdSSR immer mehr einem »Failed State« glich. Glaubt man so dem 1982 publizierten Buch des ehemaligen Sowjet-Juristen Konstantin Simis, dann gab es keinen Bereich des Alltagslebens, in dem Korruption keine Rolle spielte. Ob Einkauf, medizinische Versorgung, Bildungslaufbahn, Beerdigung, Verkehrsvergehen, Gerichtsverfahren usw., überall musste man mit Bakschisch nachhelfen. Wie sehr dieser Fisch zudem vom Kopf her stank, zeigten nicht nur riesige Korruptionsskandale in Georgien oder Usbekistan, bei denen die Parteiführungen ausgewechselt wurden. Der stellvertretende Innenminister der UdSSR, Juri Tschurbanow. verdankte etwa seinen Aufstieg nicht nur dem Umstand, dass er seit 1971 Ehemann der Tochter von Breschnew war. Er nutzte diese Chance, um zu einem der »bedeutendsten Mafiosi des Landes« (Ivan Iliesch) aufzusteigen. Galina Breschnewa wiederum, seine Ehefrau, liebte Diamanten so sehr, dass sie sich noch in Sowjetzeiten einen Namen im Edelsteinschmuggel machte.   

Ein kollektiver Akteur

All dies vor Augen, kann man nun mit Blick auf die Ausgangsfrage feststellen, dass Kriminalität tatsächlich eine große Bedeutung für die Bolschewiki spielte. Das impliziert aber auch: Wenn viele Linke die Geschichte der Bolschewiki als Partei- und Politikgeschichte verstehen und sich deshalb an Lenin & Co orientieren, dann zeigt dieser sozialgeschichtliche Blick, wie verkürzt, ja naiv dies ist. Wenn die Bolschewiki eine Stärke hatten, dann bestand diese in ihrer Fähigkeit, als Gruppe eine fast schizophrene Ambivalenz auszuhalten. Auf der einen Seite waren sie marxistische Intellektuelle, die wissenschaftsorientiert waren und von der Schaffung eines neuen Menschen träumten.  Auf der anderen Seite waren sie tabulose Verbrecher, die sich bereits früh Unterwelt-Fähigkeiten aneigneten, die ihre Machteroberung 1917 in einer kollabierenden Gesellschaft erklären helfen, nämlich Kühnheit, Gerissenheit und Gnadenlosigkeit.

Und: In der Logik des eben Dargestellten waren es weniger Arbeiter*innen und Bäuer*innen, die die soziale Basis der Bolschewiki darstellten, sondern jene, die Marx das Lumpenproletariat nannte. Das ist zwar ein heikler Begriff. Aber wenn dieser Begriff Menschen zu fassen sucht, die sich unterhalb formeller Arbeitsverhältnisse reproduzieren, die dadurch oder aus anderen Gründen teils extreme Gewalterfahrungen machen, die durch diese Gewalt erschüttert werden, die dann in ihrer Not als Opportunist*innen bzw. Kriminelle überleben – erfasst dieser Begriff nicht bestens jenen kollektiven Akteur, der in der Sowjetunion unablässig sozial produziert wurde? Kriege, Terror, Gewaltexzesse wie die Kollektivierung, der Gulag – bis gegen Ende der 1950er Jahre bildeten sie den Nährboden für massenhafte Verzweiflung und Verwahrlosung.

Zwar ist es richtig, dass eine solche Entwurzelungskrise jede*n Politiker*in in die Versuchung gebracht hätte, diese gebrochenen Massen zu Machtzwecken zu instrumentalisieren, hatte Marx doch schon die besondere Explosivität des Lumpenproletariats gesehen, als er schrieb, dass dieses zu »größten Heldentaten und der exaltiertesten Aufopferung fähig« ist, wie auch »der gemeinsten Banditenstreiche und der schmutzigsten Bestechlichkeit«. Aber nach diesem Umriss ist es zum einen kein Zufall, dass 1917 mit den Bolschewiki der Teil der russischen Linken gewann, der schon davor moralisch besonders »verlumpt« war. Es ist zum zweiten auch kaum erstaunlich, dass Stalin zum großen Staatschef wurde, war er doch schon früh der erfolgreichste Geldbeschaffer der Bolschewiki. Wie aktuell das übrigens ist, wird noch deutlich, wenn man sich fragt: Ist das korrupte Oligarchen-System Putins nicht eine Fortsetzung der bolschewistischen Herrschaft in neuem Gewand, also Lumpenkapitalismus statt Lumpensozialismus?

Slave Cubela

ist Autor und schreibt u.a. regelmäßig für linksgewerkschaftliche Publikationen wie Express. Er hat eine Geschichte der modernen Arbeiter*innenklassen unter dem Titel »Wortergreifung, Worterstarrung, Wortverlust« (Westfälisches Dampfboot, 2023) veröffentlicht, in der er der Leiderfahrung der Arbeiter*innen im Arbeitsprozess eine besondere Rolle einräumt.