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|Thema in ak 718: Artenvielfalt

Ohne intakte Umwelt kein Brot

Warum Biodiversität so wichtig ist und wieso Linke sich so wenig für Umweltzerstörung interessieren

Von Peter Bierl

Illustration einer Pflanze.
Illustration: Donata Kindesperk

Die Biosphäre verändert sich dramatisch. Sechs von neun planetaren Grenzen sind inzwischen überschritten, beim Artensterben, der Belastung durch Mikroplastik, Farbstoffe und Pestizide, durch Stickstoff und Phosphor, der Verfügbarkeit von Süßwasser und der Landnutzung sowie beim Klimawandel. Letzteres steht in der Öffentlichkeit im Vordergrund. Angesichts von Hitzewellen und Waldbränden zu Recht, aber jedes andere Moment ist ebenso tödlich, etwa das Artensterben.

Im Frühjahr hat die Weltnaturschutzunion (IUCN) ihre aktualisierte Rote Liste vorgelegt. Demnach ist ein Viertel der rund 169.000 Tier-, Pflanzen- und Pilzarten, die die IUCN erfasst hat, bedroht, mehr als 22 Prozent aller Säugetiere, knapp 36 Prozent der Amphibien, 14 Prozent der Fische und fast zwölf Prozent der Vögel. 

Dabei basiert die menschliche Existenz auf der Vielfalt der Lebewesen. Durch das Artensterben sind ganze Ökosysteme wie Wälder, Meere oder Moore gefährdet. Unsere Nahrungsmittel und viele Medikamente stammen von Pflanzen und Tieren. Ohne Insekten, die Pflanzen bestäuben, bilden diese keine Früchte und Samen. Würmer und Pilze zersetzen abgestorbenes organisches Material und führen Nährstoffe in den Boden zurück.

Arten sterben aus, weil ihre Habitate durch Landwirtschaft, Holzeinschlag, Straßenbau, Siedlungen und Gewerbe, Bergbau und Energieversorgung verringert, wenn nicht zerstört werden, während Pestizide, Chemikalien, Plastik und Öl das Land, die Gewässer und Meere vergiften.

Die Ursachen, Zusammenhänge und Folgen sind längst wissenschaftlich und politisch anerkannt. Dennoch schreitet die Zerstörung immer weiter voran, trotz politischer Absichtserklärungen. Im vergangenen Herbst scheiterte die 16. Konferenz (COP 16) der Vertragsparteien des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die biologische Vielfalt (UNCBD) in Kolumbien. Die Regierungsvertreter*innen konnten sich weder auf effektive Maßnahmen noch auf eine Finanzierung einigen.

Nischenthema

Das ist nicht böser Wille, sondern hat System. Umweltzerstörung ist die stoffliche Seite der Kapitalverwertung, ein Zusammenhang, der Karl Marx und Friedrich Engels bereits klar war. Dennoch fremdelt die (radikale) Linke bis heute mit der Umweltfrage. Einige leugnen das Problem wie rechte Agitator*innen und gerieren sich dabei ideologiekritisch: Planetare Grenzen, Kipppunkte oder ökologischer Fußabdruck seien doch Kategorien bürgerlicher Wissenschaft. Ein Einwand, der auch für Zahnmedizin, Pandemien und Erdbebenforschung gelten würde.

In der Theoriebildung liegt die deutsche Linke weit zurück, abgesehen von Elmar Altvaters Begriff des Kapitalozäns und seiner These vom fossilen Kapitalismus, die er lange vor dem schwedischen Antisemiten Andreas Malm entwickelte. Internationale Debatten um einen Ökomarxismus wurden lange Zeit kaum wahrgenommen, genauso wenig wie hiesige Autoren wie Athanasios Karathanassis und Christian Stache, geschweige denn dass es eine publizistische Plattform für solche Debatten gäbe.

An Organisationen existieren Kleinstgruppen und Zirkel wie die Ökologische Linke, die Left Ecological Association (LEA), das Netzwerk Ökosozialismus, eine Vorfeldorganisation der trotzkistischen Internationalen Sozialistischen Organisation (ISO), oder die Initiative Ökosozialismus um Saral Sarkar, antimarxistisch und malthusianisch, für Bevölkerungskontrolle und agrarisch-handwerklichen Dorfsozialismus. Gewichtiger ist das Netzwerk Ende Gelände, inspiriert von der Interventionistischen Linken, das mit massenhaften Blockadeaktionen von sich reden machte. 

Umweltzerstörung ist die stoffliche Seite der Kapitalverwertung.

Die zahlenmäßig stärkste Organisation der hiesigen Linken, die Linkspartei, vormals PDS, verfügt über eine Ökologische Plattform, die in ihren Anfangsjahren den ökofaschistisch-esoterischen Nachlass von Rudolf Bahro pflegte, sowie eine Bundesarbeitsgemeinschaft Klimagerechtigkeit, die sich als antikapitalistisch versteht. Eigentlich wäre die Partei, die laut Grundsatzprogramm den Kapitalismus überwinden will, prädestiniert, eine ökologisch-sozialistische zu sein: Denn Umweltzerstörung ist aufgrund ihrer systemischen Ursachen und der katastrophalen Folgen, die vor allem Lohnabhängige und Arme treffen, eine soziale Frage, eine Klassenfrage.

Allerdings behandelt die Partei das Thema eher als weiteres Politikfeld, denn als fundamentalen Widerspruch. Das Ergebnis waren Vorschläge wie »Plan B. Das rote Projekt für einen sozialökologischen Umbau«, den eine Gruppe von Bundestagsabgeordneten 2012 vorlegte, oder eine Variante des Green New Deal, den Bernd Riexinger 2020 veröffentlichte, damals Vorsitzender der Partei. Beide liefen auf einen linksökologischen Keynesianismus hinaus: eine ökologische, sozial gerechte Transformation des Kapitalismus durch staatliche Investitionen und Lenkung.

Politisch wäre das vielleicht durchsetzbar, wenn der Bourgeoisie das Wasser bis zum Halse stünde und maßgebliche Fraktionen kompromissbereit wären, wie zu Zeiten des New Deal in den USA in den 1930er Jahren. Bloß ökologisch ergäbe ein Green New Deal als eierlegende Wollmilchsau keinen Sinn: Mehr und bessere, fair bezahlte Arbeitsplätze für Lohnabhängige, umweltschonende Technik, Verfahren und Produkte plus ordentliche Profite für das Kapital gibt es nur, wenn die Wirtschaft ordentlich wächst. Stofflich heißt das, der Verbrauch an Flächen, Rohstoffen und Energie steigt weiter enorm.

Das Problem ist die Butter

Im Bundestagswahlkampf hat die Linkspartei das Umweltthema sogar in den Hintergrund gerückt, als hätte ihr abtrünniges Mitglied Sahra Wagenknecht recht mit ihrer ignorant-reaktionären Forderung, sich auf unmittelbare Brot-und-Butter-Fragen zu fokussieren. Dabei geht es bei der ökologischen Frage genau darum: Ohne einigermaßen intakte Umwelt auch kein Brot. 

Das Problem ist jedoch die Butter, die durch pflanzliche Margarine ersetzt werden muss, denn Massentierhaltung ist eine Quälerei und eine ökologische Katastrophe. Genau da liegt für (radikale) Linke die Krux: Das alte Versprechen, Luxus für alle in Gestalt heutiger Konsumgüter, ist angesichts planetarer Grenzen unmöglich. Es ist unabdingbar, die Produktionsmittel zu vergesellschaften und das Marktchaos durch eine Planwirtschaft zu ersetzen, aber es reicht nicht: Notwendig ist ein Um- und Rückbau des Produktionsapparates.

Stattdessen träumen die meisten Linken von einer Transformation, wie sie auch den Grünen vorschwebt, bloß unter dem Vorzeichen sozialer Gerechtigkeit: Der heutige Konsum wird beibehalten, aber alles umweltfreundlich hergestellt und an alle verteilt. Das ist unmöglich, solange Produktion und Abfälle nicht auf andere Planeten ausgelagert werden können. Selbst wenn es möglich wäre, Produktion, Verteilung und Konsum auf heutigem Niveau komplett mit Solar- und Windkraft sowie Wasserstoff zu betreiben, würde dadurch der Bedarf etwa an metallischen Rohstoffen drastisch ansteigen und zu enormen Verwüstungen sowie der Vergiftung von Trinkwasser führen. Ein ökologisch katastrophaler Tiefseebergbau wäre notwendig, wie er jetzt von Regierungen und Kapitalen geplant wird, um etwa Manganknollen zu bergen.

Der britische Klimaforscher Kevin Anderson hat gefordert, den Konsum der reichsten zehn Prozent auf diesem Planeten drastisch zu schrumpfen. Das widerspricht der linkspopulistischen Sichtweise, nur ein Prozent stünde den 99 Prozent beim Kampf um eine bessere Welt entgegen. Zudem gehört in den entwickeltsten kapitalistischen Ländern ein Teil der Mittelschichten, der Kleinbürger*innen und Facharbeiter*innen, zu diesen zehn Prozent. Vermutlich müsste in manchen Staaten ein Drittel der Bevölkerung Abstriche machen. Der antiökologische Kurs rechter Parteien zielt genau auf einen Wohlstandschauvinismus, der solches verweigert. 

Kreativität statt Konsum

Eine ökologisch orientierte radikale Linke muss erklären, wie sich zwei Herkulesaufgaben zugleich bewältigen lassen: Einige Milliarden Menschen von der Armut befreien und den globalen Gesamtverbrauch an Energie, Rohstoffen und Fläche so weit senken, dass die ökologischen Grenzen eingehalten werden. Überwunden werden muss ein Konsummodell, das im Interesse des Kapitals entwickelt wurde, um Mehrwert zu realisieren, aber eben auch Grundbedürfnisse befriedigt. Es wird von den Verdammten dieser Erde angestrebt und erscheint selbst saturierten und umweltbewussten Menschen als – »leider geil«.

Die damaligen Grünen-Politiker Thomas Ebermann und Rainer Trampert schrieben 1984, die Umweltzerstörung und die Lage der Dritten Welt würden von jeder zukünftigen Gesellschaft »Momente des bewussten Verzichts und Abschied von lieb gewordenen Gewohnheiten« fordern, um andernorts menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, Schäden zu beseitigen und Zerstörungen durch den Produktionsprozess zu verhindern. Dabei geht es nicht um Askese und Verzicht, sondern um ein radikal anderes System von Bedürfnissen, das auf die Erfüllung menschlicher Kreativität, etwa schöpferisches Arbeiten, Gesellschaftlichkeit und Naturgenuss zielt. 

Vier Jahrzehnte später hat die Linke noch immer keine Vorstellung davon entwickelt, wie ein solches System aussehen könnte, das ein besseres, entspanntes Leben für alle verspricht. Mit apokalyptischen Visionen lassen sich aber nur wenige zum Kampf motivieren.

Peter Bierl

 ist Journalist und Buchautor.