Müde, aber trotzdem da
Ein Jahr nach den größten Protesten in der Geschichte Kenias setzt die Regierung auf Repression – doch der Dissens bleibt weiter bestehen
Am 7. Juli 2025 lauschte ich einer Diskussion auf Zoom. Ziel der Onlineveranstaltung war es, den Diskurs über Flucht von der zu der Zeit viel besprochenen Ankunft südafrikanischer »Refugees« in den Vereinigten Staaten wegzulenken. Der PR-Stunt war ein fehlgeleitetes Nebenprodukt der damals noch schwelenden Bromance zwischen US-Präsident Donald Trump und Tech-Milliardär Elon Musk. Kedolwa Waziri, eine der fünf Diskussionsteilnehmenden, begann ihren Beitrag mit der Information, dass sie von ihrer Wohnung in Nairobi aus hören könne, wie ihre kenianischen Landsleute mit Tränengas beworfen würden. Es war Saba Saba (siebter siebter), ein wichtiger Jahrestag, der an die Einführung der Mehrparteiendemokratie am 7. Juli 1990 erinnert. Was sich einen Monat zuvor auch jährte, waren die 2024 von der Jugend angeführten, größten Proteste in der Geschichte des Landes (ak 706).
Waziri sprach über die globale Prekarität von Staatsangehörigkeit in der aktuellen Lage und führte dabei das Beispiel der Nubier*innen in Kenia an, die seit der Unabhängigkeit Kenias 1963 in unterschiedlichem Maße mit staatlich verordneter Staatenlosigkeit zu kämpfen haben. Wenn ich Waziris Beitrag kurz zusammenfassen müsste, wäre es in etwa so: Unsere nationalen Grenzen gehören uns nicht, ebenso wenig wie unsere Staatsbürgerschaften. Die Staatsbürgerschaft als Garant für politische Subjektivität und Teilhabe ist aktuell und weltweit enorm gefährdet. Die Gefahr der Abschiebung weitet sich aus, ist nun zu einer verallgemeinerten Gefahr geworden: Man kann nach dem Willen eines beliebigen Diktators in ein beliebiges Land der Welt abgeschoben werden im Rahmen der sogenannten »third country deportation« (Abschiebung in einen Drittstaat). Für Klagen und Einsprüche werden die Gerichte dort dann selbstverständlich keine Zuständigkeit haben. Prost Mahlzeit!
»Was für ein Wahnsinn!«
Nicht nur wegen des Datums habe ich über die Auswirkungen von Waziris Analyse der Staatenlosigkeit und Staatlichkeit auf den nun fast zwei Jahre andauernden Kampf um die Absetzung des kenianischen Präsidenten William Ruto nachgedacht. Die #RutoMustGo-Bewegung ist auch eine Bewegung gegen Polizeigewalt, sozioökonomische Unterdrückung und politische Repression.
Und die Repression lässt nicht nach. Im Juni starb der 30-jährige Albert Ojwang, der wegen vermeintlicher Online-Verbreitung von Falschinformation über einen Polizisten festgenommen wurde, in Polizeigewahrsam. Die Medien hatten aufgedeckt, wie die Polizei versuchte, ihre Spuren zu verwischen. Bei einer Protestaktion gegen Polizeibrutalität und zum Gedenken an Ojwang wenige Tage später wurde der 22-jährige Boniface Mwangi Kariuki aus nächster Nähe von der Polizei in den Kopf geschossen. Die Videos verbreiteten sich viral, und nach einigen Tagen auf der Intensivstation erlag auch er seinen Verletzungen. Es folgten weitere Proteste. All dies geschah noch vor den eigentlichen Protestkundgebungen, die für den ersten Jahrestag der Proteste vom 25. Juni 2024 geplant waren. Alle sind inzwischen protestmüde, aber es passiert fast wöchentlich etwas, was Protest verdient hätte.
Ein Tag nach den diesjährigen Saba-Saba-Protesten und der Podiumsdiskussion auf Zoom waren die Unruhen, die Waziri während des Webinars von ihrem Wohnzimmer aus hören konnte, genauer beziffert. Am 8. Juli titelte die kenianische Zeitung »Standard« mit den Worten »Brute Force« (brutale Gewalt), zwei Tage später, am 10. Juli, lautete die Schlagzeile derselben Zeitung schlicht »President Losing It« (Präsident dreht durch). 38 Kenianer*innen waren bei den Protesten getötet und Hunderte verletzt worden. Unter den Toten war ein 14-jähriges Mädchen, das von einer »verirrten« Polizeikugel getroffen wurde, die durch das Dach in ihr Wohnzimmer eindrang und sie tötete, während sie fernsah. »Was für ein Wahnsinn! Was für ein verrücktes Land!«, prangerte ihre Mutter heulend vor den Kameras der BBC an. »Lasst mich die letzte Mutter sein, die um ihr Kind trauern muss.«
»Terrorismus«-Anklagen
Das macht es nicht weniger tragisch, aber die Kenianer*innen haben die Todesfälle und lebensverändernden Verletzungen bei den Protesten inzwischen akzeptiert. Was sich seit 2024 geändert hat, ist das Schicksal derjenigen, die verhaftet werden. Denn noch vor einem Jahr wurden Hunderte Fälle im Zusammenhang mit verhafteten Demonstrant*innen von den Gerichten abgewiesen. In einem neuartigen Vorgehen, das die Anwaltskammer Law Society of Kenya in der Zeitung »The Guardian« als »Lawfare« (Rechtskrieg) bezeichnet hat, liegt der Fokus nun auf Strafkautionen und schwerwiegenden »Terrorismus«-Anklagen. Nach den Saba-Saba-Protesten befanden sich rund 1.500 Kenianer*innen in Polizeigewahrsam.
Alle, die nicht bezahlen können, bleiben hinter Gittern.
Im Vorfeld der Proteste im Juni hatte Kenias Innenminister Kipchumba Murkomen zunächst vorgeschlagen, dass die Polizei jeden erschießen solle, der sich einer Polizeistation nähert. Nach heftigen Reaktionen ruderte er zurück und forderte die Polizei stattdessen auf, proaktiv gegen »plündernde Banden und unverhohlene Anarchisten« vorzugehen. Der Präsident wurde ebenfalls mit folgenden Worten zitiert: »Jeder, der dabei erwischt wird, wie er das Geschäft oder Eigentum einer anderen Person in Brand setzt, sollte ins Bein geschossen, ins Krankenhaus gebracht und später vor Gericht gestellt werden. Tötet sie nicht, aber sorgt dafür, dass ihre Beine gebrochen werden.« Inzwischen ist bekannt, dass jugendliche Banden, die plündernd unter Polizeischutz durch die Straßen zogen, von der Regierung bezahlt und eingesetzt wurden, um die Proteste zu diskreditieren und um die Polizeigewalt zu legitimieren.
Die Mehrheit, die unter diesem neuen harten Kurs der Regierung festgenommen wurde, wird wegen »Terrorismus« oder schwerem Raub vor Gericht gebracht, wobei beide Anklagen mit einer erheblich hohen Kaution (Bail) verbunden sind. Alle, die nicht bezahlen können, bleiben erstmal hinter Gittern. Auf die Frage, warum Demonstrant*innen wegen »Terrorismus« angeklagt wurden, verteidigte der kenianische Generalstaatsanwalt Renson Ingonga die Entscheidung seiner Behörde mit den Worten: »Terrorismus ist nicht nur, wenn man Bomben oder Waffen einsetzt (…) Jede Handlung gegen staatliche Einrichtungen ist ein Akt des Terrorismus.«
Alles ziemlich zermürbend also. »Wie geht es dir?«, schrieb ich einer Freundin in Nairobi in der Woche nach den Saba-Saba-Protesten. »Nairobi fühlt sich für alle wie Exil an«, antwortete sie, und ich musste – auch im Kontext des eingangs erwähnten Webinars – an die kenianische Autorin Nanjala Nyabola denken, die es einmal so formulierte: »Per Definition ist ein*e Ausländer*in eine Person, der ein grundlegendes Recht fehlt, Ansprüche auf das Gebiet zu erheben, in dem sie sich als Ausländer*in befindet. Heute sind zu viele Afrikaner*innen nicht in der Lage, diese Ansprüche auf ihre eigenen Länder zu erheben. Zu viele Afrikaner*innen fühlen sich in Afrika noch immer nicht zu Hause.« Kenianer*innen sind inzwischen international dafür bekannt, ihre Perlenarmbänder in den Farben der Landesflagge zu tragen. Immer weniger fühlen sich heute damit wohl.